Die demografische Alterung
ist schon lange kein Zukunftsthema mehr, sondern ist in Deutschland bereits weit vorangeschritten (Bundesamt
2019). Das bedeutet, dass sich heute nicht mehr die Frage stellt, ob wir uns intensiv mit der älterwerdenden Bevölkerung auf allen Ebenen auseinandersetzen müssen (Wohnraum, Pflege, medizinische Versorgung usw.), sondern nur noch wie wir uns dieser Herausforderung stellen.
Warum wir altern
Es wurden viele Theorien vorgeschlagen, um den Alterungsprozess zu erklären, aber keine von ihnen scheint vollständig zufriedenstellend zu sein (Davidovic et al.
2010). Mechanismen, die einerseits Altern bedingen, machen evolutionsbiologisch häufig als Schutz vor Mutationen und Karzinogenese wiederum Sinn. Da Tumorzellen meist mehrere Mutationen (jede Mutation benötigt wahrscheinlich 20–40 Teilungen) benötigen, um maligne zu entarten, stellt das replikative Altern (siehe unten) vor allem einen Malignitätsschutz dar (Gomes et al.
2011).
Moderne biologische Theorien des Alterns beim Menschen lassen sich in zwei Hauptkategorien einteilen: Theorien der Programmierung und Schadens- oder Fehlertheorien. Die Theorien der Programmierung implizieren, dass das Altern einem biologischen Zeitplan folgt. Diese Regulation würde zum Beispiel von zeitlichen Veränderungen in der Genexpression abhängen. Diskutiert werden auch andere Regulationsmechanismen auf endokriner Ebene (hier scheint der evolutionär konservierte
Insulin/IGF-1-Signalweg eine Rolle spielen) oder eine Programmierung des Immunsystems, welches mit der Zeit in der Wirksamkeit abnimmt (Jin
2010). Die Schadens- oder Fehlertheorien betonen die Angriffe der Umwelt auf lebende Organismen, die als Ursache des Alterns kumulative Schäden auf verschiedenen Ebenen induzieren. (Jin
2010). Veränderungen während des Alterns manifestieren sich auf der Ebene von Zellen, Geweben und des gesamten Körpers (Davidovic et al.
2010).
Unabhängig von der Kausalität unterscheiden wir ein primäres, d. h. physiologisches Altern in Abwesenheit von Krankheit und sekundäres Altern, z. B. durch Krankheit, Fehlernährung, berufliche Belastung oder Bewegungsmangel.
Eine mögliche Ursache für das primäre Altern und die dadurch bedingten körperlichen Veränderungen, ist ein zellbiologisch reglementierter umschriebener Vorgang: In den somatischen Zellen des Menschen ist das
Enzym Telomerase
, das die repetitiven DNA-Sequenzen (deoxyribonucleic
acid) erneuert, die sich an den Enden jedes
Chromosoms befinden (Telomere), inaktiv. So werden in den somatischen Körperzellen die Telomere mit jeder Zellteilung kürzer. Nach einer endlichen Zahl von Zellteilungen wird das Zellwachstum eingestellt, da es an den Chromosomenenden zu einer DNA-Beschädigung
kommt – ein Prozess, der replikative Zellalterung
oder Zellseneszenz genannt wird. Werden Zellen im menschlichen Organismus nicht mehr gebraucht, aktivieren sie ihr eigenes Zelltod-Programm, genannt
Apoptose. Sie schrumpfen und verdichten sich, das Zytoskelett und die Kernhüllen fallen zusammen und die DNA wird in Stücke zerlegt, um nachfolgend phagozytiert zu werden. Es scheint klar zu sein, dass die Telomerenverkürzung ein molekularer Beweis für eine fortschreitende Alterung auf zellulärer Ebene ist. Replikative Zellalterung ist aber keineswegs alleinverantwortlich für die Alterung des gesamten Organismus (Lund
2008). Einige Erkenntnisse deuten darauf hin, dass die fortschreitende Anhäufung von Giftstoffen in unserem Körper die Alterung auf zellulärer Ebene zusätzlich beschleunigen kann (Logozzi et al.
2020). Ein zunehmendes Ungleichgewicht zwischen exogenen Schäden einerseits und der nachlassenden Fähigkeit zur DNA-Reparatur ist ein zweiter Gesichtspunkt, der zu Zellalterung, Apoptose aber auch zur Krebserkrankung führt (Goldsmith
2010).
Ein dritter Einflussfaktor sind metabolische Veränderungen im Organismus. Eine Kalorienrestriktion unter Beibehaltung einer optimalen Ernährung, mildert intrinsische Alterungsprozesse durch zelluläre und metabolische Anpassungen und reduziert das Risiko für die Entwicklung vieler kardiometabolischer Erkrankungen. Die bisherigen Erkenntnisse deuten darauf hin, die Lebensspanne um 1–5 Jahre zu verlängern und dabei die Gesundheitsspanne und die
Lebensqualität zu verbessern (Flanagan et al.
2020).
Diese kurze Darstellung von wichtigen Ursachen für das Altern zeigt, dass physiologisches Altern zu Funktionsverlusten bzw. Einschränkungen in zahlreichen Organen führt: Eine Auswahl zeigt Tab.
1.
Tab. 1
Altersbedingte Veränderungen und deren Folgen (aus (Schwartz et al.
2003)
Alterssichtigkeit (Presbyopie), Linsentrübung | Verminderte Akkomodation, Abnahme des Sehvermögens |
Hochtonverluste (Presbyakusis), umweltabhängig | Eingeschränkte Wortdiskrimination bei Hintergrundgeräuschen |
Beeinträchtigte Glukosetoleranz | Erhöhter Blutzuckerspiegel bei akuten Krankheiten |
Abnahme der Vitamin-D-Absorption und -Aktivierung in der Haut | U. a. Osteopenie |
Abnahme des Blutöstrogenspiegels bei der Frau | Wechseljahre, Menopause |
Abnahme des Bluttestosteronspiegels beim Mann | Libidoverlust, Antriebslosigkeit, Depression |
Abnehmende Anpassung der Arterien, zunehmender systolischer und diastolischer Blutdruck (abhängig von Umwelt und Lebensweise) | Orthostatische Probleme |
Einschränkung des Herzschlagvolumens | Belastungen können nur durch erhöhte Herzfrequenz kompensiert werden |
Abnahme der Lungenelastizität | |
Durst nimmt ab, Sättigungsgefühl nimmt zu | Erhöhte Gefahr der Exsikkose |
Harnblasentonus nimmt zu, Kapazität nimmt ab | Häufigeres Urinieren, meist mit verkürzter Drangzeit; erhöhter Wasserverlust |
Glomeruläre Filtrationsrate der Niere nimmt ab | Mangelnde Ausscheidung von Medikamenten und Drogen |
Prostatahyperplasie | Nächtliches Wasserlassen, Harnverhalt |
Abnahme der Muskelmasse | Reduzierte Beweglichkeit und Kraft |
Abnahme des Mineralstoffgehaltes der Knochen | Erhöhte Anfälligkeit für Knochenbrüche |
Die durch das Altern bedingten körperlichen Veränderungen sind bevölkerungswissenschaftlich (demographisch) noch weitaus komplexer und vielschichtiger und werden als sog. demographischer Wandel das Gefüge unserer Gesellschaft verändern. Dabei geht es nicht nur um Fragen der sozialgerechten und medizinisch gerechtfertigten Verteilung von finanziellen Ressourcen, sondern um eine künftige Gesellschaftsgestaltung, zu der die Medizin ihren Beitrag leisten muss.
Medizinische Aspekte des Alterns
Der Frage, wie sich die Gesundheit und die Morbidität im höheren Lebensalter entwickeln, kommt eine zunehmende Bedeutung zu. Derzeit werden drei Szenarien diskutiert: die Morbiditätskompression
, das dynamische Gleichgewicht und die Morbiditätsexpansion
(Trachte et al.
2015). Kompression der Morbidität bedeutet einen Rückgang von Krankheiten und Inaktivität vor allem aufgrund medizinischer Leistungen (Tesch-Römer et al.
2009). Bezogen auf die Medizin ergeben sich besondere Fragestellungen, denn die zunehmende Überalterung der Gesellschaft wird mit einer Zunahme an Gesundheitsstörungen einhergehen, was ebenfalls zu einer Zunahme urologisch erkrankter älterer und alter Menschen führt:
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Ist der Krankheitsverlauf im Alter von dem jüngerer Patienten verschieden?
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Ist die Krankheit unter besonderer Berücksichtigung des fortgeschrittenen Lebensalters überhaupt behandlungspflichtig?
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Falls eine Behandlung notwendig wird, folgt diese den gleichen Empfehlungen wie bei jüngeren Patienten?
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Besteht eine Behandlungsbedürftigkeit unabhängig oder in besonderer Abwägung mit gleichzeitig vorliegenden Gesundheitsstörungen und inwieweit ist bei der Indikationsstellung zur Therapie eine physiologischerseits eingeschränkte Organfunktion mit zu berücksichtigen?
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Welcher Stellenwert hinsichtlich der Behandlungsindikation sollte häufig vorliegenden Vielfachmedikationen beigemessen werden?
Der Beantwortung dieser Fragen wird in den nachfolgenden Unterkapiteln Raum gegeben.