Indikationen
Genetisch bedingte Fertilitätsstörungen
und sexuelle Dysfunktionen
sind offensichtlich, wenn im Rahmen der klinischen Abklärung des Patienten im Chromosomenbild
des Mannes Abweichungen vom Normalbild -46,XY- bei der humangenetischen Diagnostik festgestellt werden. Chromosomen-Anomalien sind bei infertilen Männern etwa 10–15-fach häufiger als in der Allgemeinbevölkerung zu finden (Harton und Tempest
2012). Dabei finden sich bei signifikantem Rückgang der Spermienzahl im Ejakulat (Oligozoospermie
) bis hin zur ihrer Abwesenheit (Azoospermie
) vor allem balancierte und unbalancierte Translokationen auf den
Autosomen, sowie
Aneuploidien der Geschlechtschromosomen. Sehr häufig ist das Chromosomenbild -47,XXY-, welches mit dem Auftreten des „Klinefelter-Syndroms“ assoziiert ist. Es beschreibt eine phänotypisch heterogen erscheinende Gruppe infertiler Männer mit hohen FSH- und LH-Werten und verkleinerten Hoden mit verminderter Spermienproduktion (
hypergonadotroper Hypogonadismus); auch oft, aber nicht immer mit
Hochwuchs und
Gynäkomastie.
Allerdings werden die meisten genetischen Ursachen für das Auftreten von männlichen Fertilitätsstörungen durch eine Chromosomen-Analyse
nicht sichtbar. Dafür ist das
Auflösungsvermögen des Mikroskops einfach zu gering. Um kleinere, d. h. submikroskopische Veränderungen zu visualisieren, empfiehlt sich deshalb heute auch die Analyse Chromosomen-spezifischer Microarrays als Datenbasis (Rajcan-Separovic
2012). Man darf heute davon ausgehen, das jedwede Veränderung der Kompakten Chromatinstrukturen im Spermienkopf nach kompletter Reifung der männlichen Keimzelle zu beweglichen Spermatozoa einen signifikanten Einfluss auf das Fertilitätspotenzial der betreffenden Spermien haben (Sarrate et al.
2018).
Molekulargenetische Untersuchungen sollten bei allen idiopathischen Fällen mit normalem Chromosomensatz -46,XY- die Analyse des Chromosomenbildes ergänzen. Bei Männern mit nicht-obstruktiver Azoospermie oder schwerer Oligozoospermie (<5 Mill. Spermien pro ml Ejakulat) steht – wegen ihrer hohen Frequenz (10–20 % bei infertilen Männern mit Azoospermie) – die Diagnostik kleiner
Deletionen, sog. „Mikrodeletionen“ auf dem langen Arm des Y-Chromosoms
im Vordergrund. Solche Mikrodeletionen löschen die Funktion der Y-Gene im AZF-Locus
(Colaco und Modi
2018). Bei Männern mit idiopathisch
obstruktiver Azoospermie sind es häufig Mutationen
des CFTR-Gens (<82 %), welches auf dem langen Arm von
Chromosom 7 lokalisiert ist (Yu et al.
2012). Sie verursachen meist beidseitig eine komplette Aplasie der Vas deferens (CBAVD). Bei Männern mit hypogonadotropem
Hypogonadismus liegt häufig das Kallmann-Syndrom (KS)
vor (Young et al.
2019). Es ist Folge eines Mangels des
Gonadotropin-releasing-Hormons (GnRH), in Kombination mit Anosmie
oder Hyposmie (mit Hypoplasie oder Aplasie des Bulbus olfactorius
). Die
Prävalenz bei Männern wird auf 1:8000 geschätzt. Bisher wurden fünf ursächlich beteiligte Gene identifiziert:
KAL1 (Xp22.3) ist verantwortlich für die X-chromosomale Form, und die Gene
FGFR1 (8p12),
FGF8 (10q24),
PROKR2 (Prokineticin-Rezeptor 2, 20p13) und
PROK2 (Prokineticin 2, 3p21.1) für die autosomalen Formen. Die meisten Fälle werden in
der Zeit der
Pubertät erkannt, wenn die Geschlechtsentwicklung ausbleibt.
Genetische Untersuchungen bei männlichen Fertilitätsstörungen oder sexueller Dsyfunktion empfehlen sich also immer dann, wenn bei der klinischen Diagnostik in der Urologie kein deutlicher Hinweis für die primäre Ursache dieser meist Gonaden- und Keimzell-spezifischen Pathologien gefunden werden kann. Haben bei Oligozoospermie die wenigen Spermien zusätzlich
Bewegungsstörungen und eine veränderte Morphologie. so liegt ein Oligo-Astheno-Terato-zoospermie (OAT)
Syndrom vor. Bei
Kinderwunsch des OAT-Patienten sollten dann zusätzlich seine Keimzellen mit Chromosomen-spezifischen Microarrays auf potenziell submikroskopische Chromosomen-Aberrationen untersucht werden (Rajcan-Separovic
2012).