Das erste psychosomatische Lehrbuch in deutscher Sprache wurde nicht von einem Psychiater oder Psychoanalytiker herausgegeben, sondern 1925 von dem Wiener Urologen Oswald Schwarz
. Es trug den Titel „Psychogenese und
Psychotherapie körperlicher Symptome.“
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Wer war Oswald Schwarz?
Oswald Schwarz wurde 1883 in Brünn (Mähren) Geboren. Er war das Kind jüdischer Eltern. Sein Vater war ein promovierter Rechtsanwalt. Nach dem Abitur ging er nach Wien, um dort Humanmedizin zu studieren. 1906 promovierte er zum Doktor der Medizin. Anschließend leistete er seinen Militärdienst ab. Danach hospitierte er an mehreren Kliniken, in Wien und in Deutschland, unter anderem an der 1.Chirurgische Klinik, an der Frauenklinik und an der von Döderlein geleiteten Universitätsfrauenklinik in München.
Urologische Ausbildung und wissenschaftliche Laufbahn
Oswald Schwarz war ein urologischer Schüler von Anton Ritter v. Frisch (1849–1917)
2, Otto Zuckerkandl (1861–1921) und Hans Rubritius (1876–1943). Er habilitierte sich 1919 mit dem Thema „Über Störungen der Blasenfunktion nach Schussverletzungen des Rückenmarkes“. Seine Arbeit stütze sich auf die Erfahrungen als Feldarzt während des 1.Weltkriegs. 1919 wurde ihm die Venia legendi erteilt.
Er galt als ausgesprochener Experte auf dem Gebiet der Harnblasenphysiologie. Das 115 Seiten starke Kapitel zur „Pathologie der Harnblase“ in Lichtenbergs Handbuch der Urologie (1926) wurde von ihm verfasst. Oswald Schwarz war Dozent für Urologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien sowie an der „Postgraduate School of the American Medical Association“.
Eine Berufung oder Ernennung zum Professor erhielt Oswald Schwarz zeitlebenslebens nicht. Da Oswald Schwarz jüdischer Herkunft, haben hier möglicherweise bereits politische Gründe eine Rolle gespielt.
Nach seiner Habilitation avancierte er zum Stellvertreter von Rubritius, dem damaligen Leiter der urologischen Abteilung der Wiener Allgemeinen Poliklinik. Schwarz war sowohl Mitglied der Deutschen als auch der Österreichischen Gesellschaft für Urologie, zeitweise war er Schriftführer der Letzteren. Oswald Schwarz galt als engagierter Operateur. Er behandelte als Urologe außerdem Patienten mit sexuellen Störungen. Neben der praktisch- und wissenschaftlich-urologischen Tätigkeit wandte sich Schwarz psychologischen und philosophischen Themen zu und hielt dazu zahlreiche Vorträge, weshalb er in Wien den Beinamen der „Urosoph“ trug. Er war Mitglied der Deutschen Gesellschaft für
Psychotherapie sowie des Akademischen Vereins für Medizinische Psychologie. Außerdem gehörte er dem Beirat der
Allgemeinen Ärztlichen Zeitschrift für Psychotherapie und Psychische Hygiene an. Oswald Schwarz gehörte in den 1920er-Jahren zum engsten Kreis um Alfred Adler. Er war Mitglied der individualpsychologischen Vereinigung, aus der er gemeinsam mit anderen 1927 austrat, um den eigenen medizinisch-anthropologischen Standpunkt zu vertreten.
Man könnte Schwarz durchaus auch als einen frühen Verfechter des heutigen biopsychosozialen Krankheitsmodells bezeichnen. Seiner Meinung nach war bei einer Erkrankung nicht die Frage „somatogen oder psychogen“ von Bedeutung, sondern welcher Stellenwert im ganzen Krankheitsbild den somatischen … und welcher den psychischen Befunden zukommt. … So könne sich die Harnblase schwerer oder leichter, öfter oder seltener entleeren, gleichgültig ob der Entleerungsreiz von einem psychischen Trauma oder einer Prostatahypertrophie herrühre (Schwarz
1925). Schwarz setzte sich in dem vom ihm herausgegebenen Lehrbuch vor allem mit zwei
psychosomatischen urologischen Störungsbildern auseinander, den „psychogenen Miktionsstörungen“ und den „psychogenen Störungen der männlichen Sexualfunktion“. Als Hinweis für die psychische Beeinflussung der Blasenfunktion führte er die Tatsache an, dass einige Menschen mit sonst normaler Blasenfunktion in Gegenwart anderer ihre Harnblase nicht entleeren könnten. Die
Enuresis nocturna war für ihn das Beispiel einer „nervösen Blasenerkrankung, die dieses Ineinandergreifen seelischer und körperlicher Elemente in besonders lehrreicher Weise zeigt“ (Schwarz
1925).
Ungezielte Behandlung von Blasenfunktionsstörungen
Oswald Schwarz war einer ungezielten rein symptomatischen Behandlung von
Blasenfunktionsstörungen gegenüber recht kritisch eingestellt:
„Ich kenne eine ganze Reihe von Fällen einwandfrei psychogener Pollakisurien, deren Anfälle durch eine Kalziuminjektion oder heiße Blasenfüllung für mehr oder weniger lange Zeit zu kupieren sind. Es kann durch solche Eingriffe auf das Erfolgsorgan der Wirkungswert der psychischen Einflüsse herabgesetzt und unter Umständen sogar völlig aufgehoben werden. Allerdings darf man sich nicht schmeicheln, durch derartige Maßnahmen die Natur gleichsam mit Heugabeln ausgetrieben zu haben. Ich glaube zwar nicht in Abrede stellen zu dürfen, dass man das eine oder andere Mal eine wirkliche Heilung auf diese Weise erzielt; weitaus öfter aber wird die Neurose sozusagen nur verscheucht und sucht sich andere Mittel des Ausdruckes; so wird weiter unten ein Patient erwähnt, der seine Pollakisurie mit einer Agoraphobie vertauschte.“ (Schwarz, 1926)
Der sexualwissenschaftliche Beitrag von Oswald Schwarz
Ab 1930 beschäftigte sich Schwarz vor allem mit sexualwissenschaftlichen Themen. Es entstanden die Werke: Über Homosexualität (1931), Sexualität und Persönlichkeit (1934) und Sexualpathologie (1935). Für Schwarz war die menschliche Sexualität nur aus der Leib-Seele-Einheit heraus zu verstehen.
Für die Entstehung einer Sexualstörung
führt er 3 Gründe an:
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ein pathologisches Motiverleben (Perversion),
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eine Störung der Entschlussfähigkeit (Neurose),
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eine primäre Aktionsunfähigkeit (organisches Unvermögen).
Sexuelle Perversionen hielt Schwarz dem Grunde nach für eine „Abartigkeit der Beziehung von Mensch zu Mensch“ (Schwarz
1935). Es bleibt zu erwähnen, dass die englische Ausgabe seiner sexualwissenschaftlichen Schriften unter dem Titel
The Psychology of Sex von 1949 bis 1969 aufgelegt wurde und weite Verbreitung fand (Schwarz
1949).
Denkt man an die Anfänge der Sexualwissenschaft, verbindet man diese mit den Namen Magnus Hirschfeld (1868–1935), Iwan Bloch (1871–1922), dem Herausgeber des ersten deutschsprachigen sexualmedizinischen Lehrbuchs (1907), Albert Moll (1862–1939) und Marx Marcuse (1877–1963). Es ist durchaus berechtigt, Oswald Schwarz in diese Reihe mit aufzunehmen.
Verfolgung und Emigration von Oswald Schwarz
Zeitgleich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland etablierte sich 1933 in Österreich das austrofaschistische Dollfuß-Regime. Oswald Schwarz, der jüdischer Abstammung war, reiste mit seiner Familie 1934 nach England. Er zog es vor, in England zu bleiben, und kehrte von dort nie mehr zurück. Damit dürfte Schwarz einer der ersten von 24 bisher recherchierten jüdischen Urologen sein, die in der Zeit des Nationalsozialismus vor allem nach 1938 aus Österreich emigriert sind (Krischel et al.
2011). Wenige Wochen nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich wurde Schwarz 1938 die Lehrbefugnis und später auch der Doktortitel aberkannt. Er starb 1949 in London an einem Herzinfarkt. Erst 10 Jahre nach dem Ende der Nazidiktatur wurde ihm 1955 posthum der Doktortitel wieder zuerkannt.