Hodentumor: Survivorship und Langzeittoxizität
Nebenwirkungen einer Therapie, die länger als 12 Monate fortbestehen oder sich 12 Monate nach Therapieende manifestieren, werden als Spättoxizität bezeichnet. In Abhängigkeit von den betroffenen Organregionen kann die Lebensqualität der Patienten dadurch erheblich beeinträchtigt werden. Nicht alle Spättoxizitäten können vermieden, die meisten jedoch gemildert werden. Seit 1981 ist das Raynaud-Syndrom als gravierende vaskuläre Spätfolge der Cisplatin-basierten Chemotherapie bekannt, ebenso wie das Auftreten von peripheren Polyneuropathien. Durch Regimeanpassungen der Polychemotherapie und sukzessive Dosisreduktion werden diese Spätfolgen gemildert, lassen sich aber auch noch bei bis zu 2,5 % der Patienten nach einem Zyklus PEB nachweisen. Zu den schwerwiegendsten Spätfolgen zählt die Entstehung von sekundären Malignomen. Das Risiko ist um 30 % im Vergleich zur normalen Bevölkerung erhöht. Insbesondere die Daten zu Sekundärmalignomen nach Strahlentherapie, aber auch nach intensivierten Polychemotherapien haben zu einer strikteren Dosisreduktion und risikoadaptierten Behandlung insbesondere auch in der adjuvanten Therapie geführt. Effekte der kumulativen Toxizität auf das kardiovaskuläre System manifestieren sich zum Teil erst 20 Jahre nach Therapieende: Ungefähr 10 % aller Hodentumorpatienten erleiden ein kardiovaskuläres Ereignis im Sinne eines Myokardinfarktes oder einer Angina pectoris. Das seit einigen Jahren besser untersuchte Problem des metabolischen Syndroms betrifft fast ein Drittel aller Patienten und trägt ebenfalls zu einem kardiovaskulären Risikoprofil bei. Begleitend entsteht durch eine zunächst kompensierte, später dann dekompensierte Leydig-Zell-Insuffizienz ein Testosteronmangel, der zusammen mit den entsprechenden klinischen Symptomen in einen therapiepflichtigen Hypogonadismus bei 25–40 % der Patienten mündet. Darüber hinaus verstärken diese endokrinen und metabolischen Spätfolgen die ohnehin häufig eingeschränkte Vita sexualis: Sei es durch einen begleitenden Hypogonadismus, durch eine polyneuropathische Komponente oder auch unmittelbare postoperative Folgen verzeichnet mindestens ein Drittel aller Hodentumorpatienten Einschränkungen der Erektion, Ejakulation oder Orgasmusfähigkeit. Die unmittelbar aufgrund der Erkrankung, aber auch die Therapie bedrohte Fertilität des Hodentumorpatienten kann als einzige Spätfolge präventiv angegangen werden: Rund die Hälfte aller Hodentumorpatienten nimmt das Angebot der Kryokonservierung von Spermien als Fertilitätsprotektion an. Dieser Anteil wird voraussichtlich aufgrund der Kostenübernahme durch die Krankenkassen für die Kryokonservierung und für die Lagerung der Kryodepots seit Juli 2021 in Zukunft zunehmen. Voraussetzung ist allerdings, dass Spermien produziert werden. Da Hodentumorpatienten bereits durch die Grunderkrankung eine Reduktion der Spermatogenese aufweisen, sind die Ejakulatwerte primär bereits bei 75 % der Männer eingeschränkt. Ungefähr 14 % der Patienten sind bereits bei Diagnosestellung azoosperm, einige haben bereits eine Anejakulation. In diesen Fällen kann die testikuläre Spermienextraktion (Onko-TESE) aus dem Hoden die Anlage eines Kryodepots ermöglichen. Nach einer durchgeführten Hodentumortherapie verlieren rund 23 % der Männer die Chance auf eine spontane Konzeption und sind auf ihr Kryodepot zur Familienplanung angewiesen. Drei Viertel aller Patienten erfahren eine Erholung ihrer Spermatogenese, wobei jedoch nur 25 % normale Ejakulatwerte erreichen.