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Die Urologie
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Publiziert am: 06.04.2022

Neuroblastome in der pädiatrischen Urologie

Verfasst von: Norbert Graf, Rhoikos Furtwängler und Raimund Stein
Neuroblastome können ubiquitär im Bereich des gesamten Sympathikus auftreten. Die Risikogruppeneinteilung beinhaltet Stadium, bildgebende Risikofaktoren, Alter, Histologie, und MYCN-Amplifikation. Zusätzlich spielen weitere genetische Faktoren eine Rolle. Hauptsymptome sind der tastbare oder sichtbare Tumor sowie neurologische Symptome bis hin zur Querschnittlähmung durch Kompression des Rückenmarks. Die Diagnose erfolgt durch Bildgebung (einschließlich mIBG Szintigrafie), der Histologie und dem Nachweis einer MYCN Amplifikation aus einer Tumorbiopsie sowie erhöhter Katecholamine. Die Behandlung orientiert sich an Lokalisation und Risikogruppeneinteilung, wobei der Nachweis einer MYCN Amplifikation von entscheidender Bedeutung ist. Im Fall einer fehlenden MYCN Amplifikation kann eine ‚watch and wait‘ Strategie eingeschlagen werden. Ansonsten ist eine multimodale Therapie stratifiziert bestehend aus Chemotherapie, Operation, Bestrahlung und autologer Stammzelltransplantation indiziert. Die Heilrate liegt zwischen 30 % (Stadium IV mit MYN Amplifikation) und bis zu 100 % (niedrige Stadien).

Einleitung

Neuroblastome gehören zusammen mit den benignen Ganglioneuromen und den Ganglioneuroblastomen zu der Gruppe der neuroblastischen Tumoren und entstehen aus unreifen Zellen des sympathischen Nervensystems. Dementsprechend können Neuroblastome ubiquitär im Bereich des Sympathikus auftreten, die häufigsten Lokalisationen sind jedoch das Nebennierenmark (ca. 1/3), die retroperitonealen sympathischen Ganglien (ca. 20 %) und das Zuckerkandlsche Organ (sympathisches Paraganglion am Abgang der A. mesenterica inferior). Die Risikogruppeneinteilung erfolgt heute entsprechend der International Neuroblastoma Risk Group (INRG) und beinhaltet Stadium, bildgebende Risikofaktoren (Image Defined Risk Factors – IDRF), Alter, Histologie mit Grad der Tumordifferenzierung, den Status der MYCN-Amplifikation, den Status von Chromosom 11q und die DNA Aneuploidie (Tab. 1) (Cohn et al. 2009; Monclair et al. 2009). Zusätzlich spielen weitere genetische Faktoren eine Rolle zur Einteilung in unterschiedliche Therapiegruppen (Tab. 2) (Ackermann et al. 2018).
Tab. 1
Risikogruppenklassifikation nach INRG (L1: lokalisierter Tumor ohne IDRF; L2: lokoregionaler Tumor mit IDRF; GN: Ganglioneurom; GNB: Ganglioneuroblastom; NA: nicht amplifiziert; AMP: amplifiziert; NBL: Neuroblastom; HD: Hyperdiploid; D: diploid; M: metastasiert; MS: Metastasen nur in Haut, Leber oder Knochenmark (<10 %) bei Kindern unter 18 Monaten)
INRG Stadium
Alter
(Monate)
Histologie
Differenzierungsgrad
MYCN
11q Aberration
DNA Ploidie
Risikogruppe.
L1/L2
 
GN
GNB
    
Sehr niedrig
L1
 
Alle außer GN, GNB
 
NA
  
AMP
  
Hoch
L2
<18
Alle außer GN, GNB
 
NA
Nein
 
Niedrig
Ja
 
Intermediär
>18
Nodulär GNB;
NBL
Differenziert
NA
Nein
 
Niedrig
Ja
 
Intermediär
Wenig differenziert, undifferenziert
NA
 
 
AMP
  
Hoch
M
<18
  
NA
 
HD
Niedrig
<12
  
NA
 
D
Intermediär
12–18
  
NA
 
D
<18
  
AMP
  
Hoch
>18
     
MS
<18
  
NA
Nein
 
Sehr niedrig
Ja
 
Hoch
AMP
  
Tab. 2
Therapiestratifizierung nach Risikoprofil mit Einschluss der Geneexpression . (MRG: mittlere Risikogruppe; HR: Hohe Risikogruppe)
Klinisches Risiko inklusive MYCN
Stadium
MYCN
1–3
4S
4
Amplifikation
<18 Monate
>18 Monate
 
<18 Monate
>18 Monate
Genexpression
günstig
ungünstig
günstig
ungünstig
günstig
ungünstig
ungünstig
günstig
Stadium 1,2
Stadium 3
Therapie
Beobachtung
MRG
HRG
Beobachtung
MRG
MRG reduziert
HR

Epidemiologie

Die Inzidenz beträgt ca. 0,9–1:100 000 pro Jahr, wobei 90 % in den ersten 5 Lebensjahren diagnostiziert werden. In den ersten 12 Lebensmonaten ist die Inzidenz mit 0,6:100.000 deutlich höher als in den übrigen Altersgruppen, wobei die Prognose im Säuglingsalter wesentlich besser ist als bei älteren Kindern.

Klinik und Diagnostik

Im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen (U2–U6) werden über 1/3 der Neuroblastome entdeckt. Hauptsymptome sind der tastbare oder sichtbare Tumor sowie neurologische Symptome bis hin zur Querschnittlähmung durch Kompression des Rückenmarks durch Sanduhrtumoren (ca. 5 %). Eine Panzytopenie kann durch Infiltration des Knochenmarkes verursacht sein. Allgemeinsymptome wie Schmerzen (bis zu 33 %), Fieber unklarer Genese, Inappetenz und Gewichtsverlust (bis zu 12 %) sollten zur weiteren Diagnostik Anlass geben. In ca. 2 % der Fälle werden Patienten primär neurologisch durch ein Opso-Myoklonus-Ataxie-Syndrom auffällig. Eine Katecholaminerhöhung kann zur Hypertonie führen und die Ausschüttung von vasoaktivem intestinalen Peptid (VIP) zu wässrigen Diarrhöen.
Die Katecholamine bzw. deren Metaboliten (Vanillinmandel- und Homovanillinsäure) werden im Urin und/oder Blut bestimmt. Die Knochenmarkspunktion an mehreren Stellen ist obligat und durch den immunhistochemischen Nachweis des GD2 auf Neuroblastomzellen aus gepooltem EDTA-Knochenmark auch sensitiv. Neben der untersucherabhängigen Sonografie eignet sich insbesondere die MRT als bildgebendes Verfahren zur Bestimmung des Stadiums und sie gibt, wenn adäquat durchgeführt, einen guten Überblick über die mögliche Infiltration der benachbarten Organe (Abb. 1). Die Metaiodbenzylguanidin-(MIBG)-Szintigrafie ist bei Katecholamin-produzierenden Tumoren eine sensitive und spezifische Methode zur Lokalisation von Tumor und Metastasen. 131I-MIBG kann bei ungünstiger Prognose auch systemisch zur Radionuklidtherapie eingesetzt werden. Als weiterer prognostischer Faktor hat sich der MYCN-Status (MYCN-Amplifikation) aus Frischmaterial oder der gewonnen Histologie etabliert. Die Amplifikation des MYCN-Onkogens ist prognostisch ungünstig.

Therapie

Die Behandlung orientiert sich an Lokalisation und Risikogruppeneinteilung nach INRG und muss interdisziplinär und multimodal (Chemotherapie/Radiotherapie/Operation) erfolgen. Die operative Biopsie dient der Sicherung der Diagnose. Hiervon abweichend kann bei jungen Säuglingen (<3Monate) ohne Symptome im Stadium L1 durch eine zunächst wöchentliche klinisch-sonografische Überwachung durch ein hierin erfahrenes Zentrum bis zum Alter von 3 bis 6 Monaten auf eine Spontanregression gewartet werden. Bei lokalisierten Tumoren ohne Infiltration der Umgebung kann die Tumorresektion kurativ sein. Ansonsten wird nach Diagnosesicherung und dem MYCN Status entschieden, ob eine Chemotherapie notwendig ist. Im Fall einer fehlenden MYCN Amplifikation kann eine ‚watch and wait‘ Strategie eingeschlagen werden. Dies betrifft ungefähr 50 % der Kinder. Bei ihnen bildet sich das Neuroblastom in aller Regel ohne weitere Therapie über Monate bis manchmal Jahre zurück. Alle anderen Patienten werden chemotherapeutisch behandelt. Zeigt sich nach Abschluss der Chemotherapie noch vitaler Tumor, sollte dieser, wenn technisch möglich, operativ entfernt werden. Insgesamt ist man in den letzten Jahren trotz operativer Risiken zunehmend aggressiver mit der operativen Tumorresektion geworden, da hierdurch die Prognose verbessert wird. Tumoren im Bereich des Ganglion coeliacum sind aufgrund der Nähe zu den großen Gefäßen und der Ummauerung des Truncus coeliacus eine chirurgische Herausforderung und sollten nur von sehr erfahrenen Chirurgen durchgeführt werden.
Zeigen die Tumoren ein intraspinales Wachstum, ist oft eine sofortige Therapie indiziert, um bei neurologischer Symptomatik eine Dekompression des Rückenmarks zu erreichen (Chemotherapie/Radiotherapie). In den INSS Stadien II-IV wird eine risikoadaptierte Chemotherapie durchgeführt. Kombinationen verschiedener Substanzen (Adriamycin, Carboplatin, Cisplatin, Cyclophospaphmid, Dacarbacin, Doxorubicin, Etoposid, Ifosfamid, Irinotecan, Teniposid, Topotecan und Vincristin) mit unterschiedlichen Wirkungsmechanismen haben sich etabliert. Die Hochdosischemotherapie mit anschließender Stammzelltransplantation hat die Prognose von Patienten >18 Monaten mit Metastasen bzw. mit MYCN-Amplifikation deutlich verbessert und ist integrierter Bestandteil der Therapie. Als Differenzierungstherapie wurden Retinoide in der Dauertherapie eingesetzt, diese ist aber durch die Behandlung mit Anti-GD2 Antikörpern ersetzt worden (Moreno et al. 2020). Die Radiotherapie wird heute trotz einer effektiven Chemotherapie neben einer notfallmäßigen Indikation (akute Kompression des Rückenmarks, bei Hepatomegalie mit respiratorischer Insuffizienz) zur besseren lokalen Tumorkontrolle im Bereich der präoperativen Tumorausdehnung eingesetzt. Die Radionuklidtherapie mit 131I-MIBG stellt zusätzlich eine Option für Hochrisikopatienten dar.
Das im Alter unter 18 Monaten auftretende Stadium MS (ehemals IVs) bedarf bei fehlender MYCN-Amplifikation einer weniger aggressiven Therapie, da trotz Metastasen häufig Spontanregressionen auftreten.

Prognose

Die Prognose ergibt in den Stadien I und II 95–98 % Heilung, im Stadium III: 75 % und im Stadium IVS: 76–100 %. Patienten mit Stadium IV können heute zu einem Drittel durch die Intensivierung der Therapie (Hochdosis-Chemotherapie und Stammzelltransplantation) geheilt werden. Rezidive sind prognostisch ungünstig. Die Behandlung mittels Antikörper gegen das auf Neuroblastomzellen nachweisbare Gangliosid GD-2 (Anti-GD-2) und haploidente Stammzelltransplantationen gehen mit einer Prognoseverbesserung bei diesen Kindern einher.

Zusammenfassung

  • Neuroblastome, Ganglioneurome und Ganglioneuroblastome gehören zur Gruppe der neuroblastischen Tumoren
  • Klinik: tastbarer oder sichtbarer Tumor, sowie neurologische Symptome
  • Diagnostik: Bildgebung mit MIBG Szintigrafie, Tumormarker (Katecholamine), Nachweis einer MYCN Amplifikation; Staging Untersuchungen mit Ausschluss oder Nachweis von Knochenmarksinfiltrationen
  • Therapie: Stratifiziert nach Alter, Stadium, Histologie und molekularen Markern (u. a. MYCN Status), watch and wait bis multimodale Therapie mit Operation, Chemotherapie, Strahlentherapie und autologer Stammzelltransplantation
  • Prognose: abhängig von Histologie, Stadium und molekularen Markern (MYCN Amplifikation) zwischen 30 und 100 %
Literatur
Ackermann S, Cartolano M, Hero B, Welte A, Kahlert Y, Roderwieser A et al (2018) A mechanistic classification of clinical phenotypes in neuroblastoma. Science 362:1165–1170CrossRef
Cohn SL, Pearson ADJ, London WB, Monclair T, Ambros PF, Brodeur GM, Faldum A, Hero B, Iehara T, Machin D et al (2009) The International Neuroblastoma Risk Group (INRG) classification system: an INRG Task Force report. J Clin Oncol Off J Am Soc Clin Oncol 27:289–297CrossRef
Monclair T, Brodeur GM, Ambros PF, Brisse HJ, Cecchetto G, Holmes K, Kaneko M, London WB, Matthay KK, Nuchtern JG et al (2009) The International Neuroblastoma Risk Group (INRG) staging system: an INRG Task Force report. J Clin Oncol Off J Am Soc Clin Oncol 27:298–303CrossRef
Moreno L, Barone G, DuBois SG, Molenaar J, Fischer M, Schulte J et al (2020) Accelerating drug development for neuroblastoma: summary of the second neuroblastoma drug development strategy forum from Innovative Therapies for Children with Cancer and International Society of Paediatric Oncology Europe Neuroblastoma. Eur J Cancer 136:52–68CrossRef