Epidemiologie
Die International Continence Society (ICS) definiert Harninkontinenz
„als ein Symptom des unfreiwilligen Urinverlusts jeglichen Ausmaßes.“ Die Angaben zur
Prävalenz schwanken zwischen 5 und 25 %, abhängig von der untersuchten Gruppe, der Erhebungsmethode und der Harninkontinenzdefinition (Abrams et al.
2002). Diese Definition ist sehr allgemein. Mit dem in Skandinavien entwickelten „Incontinence Severity Index
“ hingegen lassen sich behandlungsbedürftige bzw. krankheitswertige Inkontinenz von nicht behandlungsbedürftiger abgrenzen. Der Index unterscheidet zwischen leichter, moderater und schwerwiegender Harninkontinenz (Sandvik et al.
1993). Der Index wurde bei der norwegischen EPINCONT-Studie eingesetzt, bei der 28000 Frauen in Privathaushalten befragt wurde. Es wurde nicht nur das Ausmaß der Harnkontinez, sondern auch die Auswirkung auf die
Lebensqualität bzw. die Beeinträchtigung der Betroffenen erhoben (Hannestad et al.
2000).
Laut einer repräsentativen Befragung von Beutel et al. (
2005) an 883 Männern und 1122 Frauen klagen 12,6 % der Gesamtbevölkerung in Deutschland über Inkontinenzbeschwerden. Bei den über 60-Jährigen beträgt der Anteil 23 %. Frauen aller Altersgruppen leiden deutlich häufiger an Inkontinenz als Männer (Tab.
1). Aufgrund der demografischen Entwicklung dürfte die Gesamtzahl in den nächsten Jahren weiter ansteigen.
Tab. 1
Prävalenz der Urininkontinenz
in der deutschen Bevölkerung. (nach Beutel et al.
2005)
Männer | 3,6 % | 7,4 % | 17,3 % |
Frauen | 7,8 % | 11,3 % | 27,1 % |
Gesamt | 6,1 % | 9,5 % | 23 % |
Psychosoziale Folgen
Inkontinenzbeschwerden
korrelieren mit erhöhter Angst, Depressivität, Erschöpfung und einer deutlich erniedrigten
Lebensqualität.
Durch eine Harninkontinenz werden zahlreiche Bereiche des täglichen Lebens beeinträchtigt. Die Patienten schränken ihre Trinkmenge ein, aus Angst, unterwegs
Urin zu verlieren. Durch nasse Vorlagen und häufiges Waschen kommt es zu Entzündungen im Genitalbereich. Zum Teil verzichten sie auf Reisen, sportliche Aktivitäten oder auf die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen. Die Folge ist eine verminderte Teilnahme am sozialen Leben und eine damit verbundene Isolierung.
Die berufliche Leistungsfähigkeit ist nicht selten vermindert, es kommt vermehrt zu krankheitsbedingten Fehlzeiten. Darüber hinaus führt die Inkontinenz zu nicht unerheblichen finanziellen Belastungen, z. B. durch den Kauf von Inkontinenz- und Pflegemitteln oder spezieller Bettwäsche. Die Kostenübernahme für diese Mittel durch die Krankenkassen ist zum Teil ungeklärt. Nicht selten sind die Vorlagen, die von den Krankenkassen gestellt werden, ungeeignet. Sie entsprechen oft nicht den anatomischen Erfordernissen.
Aus Angst vor Urinverlust beim Geschlechtsverkehr werden sexuelle Kontakte und Intimität gemieden. Lustempfinden und Orgasmusfähigkeit sind häufig eingeschränkt. Die Inkontinenzpatientinnen klagen häufig über vaginale Trockenheit und Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Es kommt zu Spannungen in der Partnerschaft. Vor allem die Beziehungsdimension der Sexualität ist beeinträchtigt, das psychosoziale Grundbedürfnis nach Nähe Akzeptanz und Geborgenheit wird nur unzureichend befriedigt.
Die Angst vor Urinverlust führt zu einer ständigen Anspannung der Beckenboden- und Bauchmuskulatur, was wiederum die Inkontinenz verstärkt. Angsterkrankungen sind bei Inkontinenzpatienten 3,5-mal und Depressionen 2,5-mal häufiger als bei der Allgemeinbevölkerung. Das Ausmaß korreliert positiv mit dem Grad der Inkontinenz und der sozialen Beeinträchtigung. Bei Patienten mit einer Dranginkontinenz ist die Depressivität stärker als bei Patienten mit einer Stressinkontinenz. Sie haben eine geringere
Lebensqualität als Patienten mit einem
Diabetes mellitus (Abrams et al.
2000).
Eine Untersuchung im Rahmen der Epic-Studie (European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition Study) bezüglich der Auswirkungen von einer überaktiven Blase
(OAB, „overactive bladder
“), Inkontinenz und Beschwerden des unteren Harntrakts (
LUTS, „lower urinary tract symptoms
“) auf
Lebensqualität, Arbeitsfähigkeit, Sexualität und psychisches Befinden ergab unter anderem, dass am stärksten die OAB-Patienten von Einschränkungen ihrer Lebensqualität betroffen sind (Tab.
2).
Tab. 2
Auswirkungen des Overactive-bladder(OAB)-Syndroms. Ergebnisse der EPIC-Studie (Coyne et al.
2008)
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit | 24,7 | 12,2 |
Depressivität | 11,4 | 3,6 |
Sexuell aktiv in den letzten 12 Monaten | 62,4 | 68,2 |
Deutliche Abnahme der Sexualität | 15,4 | 2,8 |
| 9,8 | 5,6 |
Harninkontinenz ist nach wie vor ein Tabuthema. Man schätzt, dass ca. 85 % der Betroffenen sich scheuen, darüber und über die damit verbundenen Einschränkungen zu sprechen. Harninkontinenz und damit verbundene sexuelle Beeinträchtigungen unterliegen gewissermaßen einem doppelten Tabu. Ärzte können ihren Patienten helfen, dieses Tabu zu durchbrechen und durch eine empathische Unterstützung und Behandlung ihre
Lebensqualität verbessern.