Sexualanamnese
Die Sexualanamnese stellt das zentrale Element in der Diagnostik einer Sexualstörung dar. Die umfangreiche Exploration des sexuellen Erlebens und Verhaltens ist eine grundlegende Voraussetzung zur Einschätzung von Verursachungen, aufrechterhaltenden Bedingungen, Auswirkungen einer beklagten sexuellen Symptomatik und stellt die Grundlage dar zur Einordnung und Klassifizierung in ein komplexes Störungsbild. Sie ist integraler Bestandteil für ein individuelles Behandlungskonzept.
Das konkrete, sachliche, empathische Sprechen über Sexualität, in einer „geschützten Atmosphäre“, eröffnet die Möglichkeit, ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten(paar) aufzubauen und stellt den ersten Schritt zur Beratung bzw. Behandlung dar.
Im Folgenden werden
Prinzipien der Sexualanamnese (Bosinski
2008) aufgeführt:
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Sie sollte selbstverständlicher Bestandteil des ärztlichen Gesprächs sein.
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Sie sollte so genau wie möglich und so umfangreich wie nötig sein.
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Sie darf nicht verletzend sein.
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Sie muss gelernt werden.
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Sie ist wesentlich für das Erkennen weitergehender Störungen.
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Sie kann der erste Schritt zu einer erfolgreichen
Sexualtherapie sein.
Allgemeine Äußerungen von Betroffenen („Es funktioniert nicht mehr.“, „Alles hat nachgelassen.“, „Sie wissen schon, was ich meine.“, „Das ist nur mein Problem.“) sind nicht ausreichend, um die Tragweite für die Hilfesuchenden einschätzen zu können. Eine fehlerhafte Einschätzung des sexuellen Funktionsniveaus, der sexuellen Präferenzstruktur und der partnerschaftlichen Verursachungen bzw. Auswirkungen könnten zur Ineffektivität eingeleiteter Behandlungsmaßnahmen führen bzw. Schaden am Patienten oder an Dritten anrichten (Fallbeispiel). Dies wird dann prekär, wenn
Erektionsstörungen zunächst medikamentös mit PDE-5 Inhibitoren behandelt werden und sich zu einem späteren Zeitpunkt, nach genauerer Erhebung der Sexualanamnese, eine pädophile Präferenzstörung
herausstellt (Bosinski
2004).
Ob die Erhebung der sexuellen Anamnese bei Paaren im Einzelsetting oder gemeinsam stattfindet, sollte mit dem Paar besprochen werden. Themen wie Masturbation und diesbezügliche Begleitphantasien können im Einzelsetting oft unbefangener mitgeteilt werden. Wiederum liegt der Vorteil beim Paargespräch in einem verbesserten Verständnis für das Erleben und Verhalten des Partners. Nachteil einer separaten Exploration könnte sein, dass der Befrager zum „Geheimnisträger“ wird, was die weitere Arbeit mit dem Paar erschweren kann (Beier und Loewit
2011). Im Fall einer bestehenden Partnerschaft sollte eine Sexualanamnese immer von beiden erhoben werden.
Zu hinterfragen sind unrealistische Vorstellungen und Leistungsmythen. Auf Dualisierungen ist zu achten: entweder/oder, richtig/falsch, alles/nichts, bio/psycho. Auf Ambivalenzen sollte hingewiesen werden, z. B. „Weil ich eine Erektionsstörung habe, finde ich keine Partnerin.“ – Frage: „Welche Stärken zeichnen Sie aus, was macht Sie als Partner attraktiv?“ Eine sorgfältig durchgeführte Sexualanamnese sollte Wertschätzung vermitteln, Grenzen akzeptieren, den Betroffenen in seinem Leid annehmen, „Erfolgsdruck“ reduzieren und einen verfrühter Behandlungsansatz (bei unklarer Problemlage) vermeiden.
Es bedarf einer gezielten Fortbildung, um kommunikative Fähigkeiten und verbale Interventionstechniken zu erlernen, die die erforderliche und notwendige Sicherheit im Umgang mit einem „besonderen“ Thema vermitteln. Wichtig ist es dabei den situativen und individuellen Gegebenheiten Rechnung zu tragen und keine „Katalogabfragung“ durchzuführen. Offene W-Fragen helfen, um nicht nur sachliche Fakten zu erfahren, sondern die subjektive Bedeutung dahinter zu erkunden. Damit gelingt es in der Anamnese bereits von der Makroebene auf die Mikroebene zu fokussieren, um ein detailliertes Bild subjektiver Bedeutungszuschreibungen zu ermitteln. Erst durch ein minutiöses Nachfragen der Bedeutungsebene kann dem Patienten(paar) das „Eigentliche“ bewusster werden (
syndyastisches Fokussieren, Tab.
1; Abschn.
3).
Tab. 1
Struktur und Inhalt einer Sexualanamnese (Ahlers et al.
2004; Rösing et al.
2009; Beier und Loewit
2011)
Genaue Exploration der sexuellen Symptomatik im biopsychosozialen Kontext – 3 Grundlagen | Was genau ist gestört? (z. B. sexuelle Funktionen: Appetenz, Erregung, Orgasmus, sexuelles Erleben, sexuelles Verhalten, Geschlechtsidentität) Welche Auslöser werden vermutet? (Erkrankungen, Medikamente, Behandlungen, seelische –, partnerschaftliche Konflikte etc.) Seit wann? (primär vs. sekundär) Wie häufig? (immer vs. gelegentlich) In welcher sexuellen Situation? (situativ vs. generalisiert) Unter welchen Bedingungen treten die Probleme auf? (Beispiele berichten lassen) Mit wem? (partnerabhängig vs. partnerunabhängig) Wodurch verstärkt? (Ängste, Leistungsempfinden) Wodurch verbessert/Was gelingt? (Ressourcen) Warum erfolgt die Vorstellung gerade jetzt? (Leidensdruck) Welche Hypothesen der Verursachung und Aufrechterhaltung hat der Betroffene? Was wurde bisher unternommen und warum? (z. B. wie groß war der bisherige Aufwand zur Problemlösung, Verlustängste, Angst vor Ablehnung, Druck von außen) |
Frühestmögliche Einbindung des Partners | Exploration der „partnerschaftlichen Betroffenheit“ in Bezug auf Auslösung, Aufrechterhaltung und Auswirkungen der sexuellen Störung |
Exploration der sexuellen Präferenzstruktur – 3 Achsen | Auf welches Geschlecht erfolgt ein sexuelles Ansprechen? (sexuelle Orientierung auf das andere oder gleiche Geschlecht oder beides) Welche Ausrichtung liegt vor? (sexuelles Ansprechen auf das präpubertäre, pubertäre- oder postpubertäre Körperschema, Greisenalter) Art und Weise? (gewünschter Partner, Objekte, Modus und Praktik einer sexuellen Interaktion) |
Exploration des sexuellen Erlebens und Verhaltens – 3 Ebenen | Sexuelles Selbstkonzept Sexuelle Fantasien (Begleitphantasien bei Masturbation) Sexuelles Verhalten (alle 3 Ebenen greifen ineinander) |
In welcher Form findet sexuelles Verhalten statt? 3 Formen | Masturbation (seit wann, Häufigkeit, Veränderungen) Extragenitale sexuelle Interaktionen (z. B. Streicheln, Küssen, Schmusen) Genitale Interaktionen (z. B. Petting, Geschlechtsverkehr) |
Welche Bedeutung hat Sexualität für den Einzelnen und in der Beziehung? Wie werden Grundbedürfnisse erfüllt oder frustriert? | Wie, wo und wann wurden und werden Bedürfnisse nach sicherer Bindung (Nähe, Geborgenheit, nährende Zuwendung und Annahme) erfüllt oder aber frustriert? Welche Rolle spielt dabei der Alltag, die nicht sexuelle und im Besonderen die sexuelle Intimität? Was bedeutet (heißt) es für Sie, für Ihren PartnerIn miteinander zu schlafen? Gab und gibt es Phasen, bei denen Sexualität als Ressource genutzt werden konnte und welche Bedeutung hatte das? |
Welche soziosexuelle Entwicklung wurde durchlaufen? | Kindheit, Adoleszenz, Elternhaus, kommunikative Erfahrungen mit den Themen Sexualität und Partnerschaft, religiöse Bindungen, Kontakte mit Pornografie im Internet, in welchem Alter zum ersten Mal, mit welchen Auswirkungen, Partnerschaften bis zum gegenwärtigen Status, sexuelle (Erst)Erfahrungen, reproduktive Dimension |
Gab es problemhafte lebensgeschichtliche Ereignisse, die Einfluss auf die Sexualität hatten oder haben? | Sexuelle Übergriffe, Gewalt, Alkohol, Drogen, frühere Erkrankungen, Verlusterleben |
Allgemeines | Bildung, Beruf, Berufstätigkeit, Arbeitslosigkeit, ökonomische Situation, sonstige Alltagsbelastungen |
Sexualberatung
Sexualmedizinische Behandlung kann als
Sexualberatung oder als eigentliche
Sexualtherapie erfolgen. Allerdings ist Sexualberatung keine „Schmalspur-Therapie“, sondern erfordert ebenfalls Behandlungskompetenz (Grenzen erkennen, therapeutische Haltung, Erfahrung mit Paargesprächen, Fachwissen,
Reflexion der eigenen Einstellung usw.), wobei bedauerlicherweise (Sexual-) Beratung juristisch gesehen kein geschützter Begriff ist! Der Unterschied zur Therapie liegt in verschiedener Zielsetzung und zeitlich verkürzter Durchführung, wobei es nicht um „Ratschläge“, sondern um Hilfe zur Selbsthilfe geht, damit Patienten/Paare ihre eigenen Lösungen finden und Schritte zur Veränderung unternehmen können. Sexualberatungen können fallweise während der üblichen Ordinationszeiten möglich sein, besser ist die Vereinbarung eines eigenen Termins, damit für ein Erstgespräch (vorzugsweise mit dem Paar) genügend ungestörte Zeit zur Verfügung steht. Dem zunächst meist einzelnen Patienten ist u. U. erst bewusst zu machen, dass alles was in einer Beziehung geschieht beide Partner betrifft und Einzelgespräche zwar auch Sinn machen können, aber buchstäblich „eine halbe Sache“ bleiben. Bloß informationsbezogene „Funktionsberatung“ stellt noch keine Sexualberatung dar.
Indikationen für
Sexualberatung im engeren Sinn – auch als Einstieg bzw. Überweisung zu einer
Sexualtherapie – können alle sexualmedizinisch relevanten Störungen sein, also beim Urologen in erster Linie
Störungen der sexuellen Funktion, aber auch der sexuellen Entwicklung, der Geschlechtsidentität, der sexuellen Präferenz, des sexuellen Verhaltens und der sexuellen Reproduktion. In einem weiteren Sinn kann Sexualberatung prophylaktisch zur Verhinderung oder „therapeutisch“ zur Behebung sexuell-partnerschaftlicher Probleme sinnvoll sein bei Informationsdefiziten, zur Korrektur falscher Vorstellungen oder „Mythen“, zur Sensibilisierung für neue Sichtweisen, zur Bewältigung veränderter Lebenslagen in „Schwellensituationen“ oder bei einschneidenden Ereignissen, z. B. Krankheiten und ihrer Behandlung.
In vielen Fällen genügt die Beratung zur temporären oder nachhaltigen Lösung der Probleme. Dies wird vor allem durch die Verbesserung der partnerschaftlichen Kommunikation und der Überwindung der Sprachlosigkeit innerhalb des Paares bezüglich sexueller Wünsche, Gefühle, Verhaltensweisen ermöglicht. Missverständnisse können geklärt, Kränkungen besprochen, Ressourcen verstärkt werden. Dabei kann der Berater als Modell für konstruktive Auseinandersetzung mit sexuellen und Beziehungs-Problemen dienen, ohne selbst Partei zu ergreifen, außer für das Paar und seine Beziehung (sog. Allparteilichkeit). Im Sinne einer „geschützten Werkstatt“ können dabei für das Paar Erfolgserlebnisse möglich werden, die wiederum zu mehr Nähe und Vertrautheit führen und dadurch weitere positive Energien frei setzen. Entscheidend ist, dass der Berater – wo es um Beziehungsprobleme geht für deren Lösung das Paar selbst zuständig ist – seine Expertenrolle zugunsten eines nachfragenden Begleiters zurückstellt. Wo es um echte Informationsvermittlung, Beantwortung von Fachfragen etc. geht, muss er wiederum die Expertenrolle übernehmen. Das erfordert Flexibilität und Rollensicherheit sowohl in der (gewohnten!) Rolle des Experten und Machers (der dann aber auch für die Lösung der anstehenden Probleme verantwortlich ist!), als auch in der (meist nicht erlernten und eingeübten!) Rolle des „Veränderungs-Assistenten“ der an der Planung von Veränderungsschritten mitwirken kann, aber dem Paar die Verantwortung für die eigene Beziehung nicht abnehmen darf.
Über sexuelle Probleme mit einem „Kundigen“ zu sprechen kann bereits kurativ wirken, Verständnis und Akzeptanz von Seiten des Beraters und innerhalb des Paares zu erfahren erleichtert, stärkt das Selbstwertgefühl und erhöht die Beziehungsqualität. Neue Informationen können bisherige Ansichten korrigieren oder erweitern und die „sexuelle Weltanschauung“ salutogen verändern, z. B. durch die Entdeckung bewusst als intensive Kommunikation erlebter Sexualität: „Jetzt sind es mehr WIR, die miteinander
schlafen, früher war es eine ganz normale sexuelle Handlung.“ und „Das ist für uns eine ganz neue, revolutionäre Erkenntnis.“ oder „Jetzt habe ich zum ersten Mal Geschlechtsverkehr und Kuscheln nicht als verschiedene Dinge erlebt.“ Auch dem Urologen, der sich auf
Sexualberatung einlässt, vermag diese Erweiterung seiner fachlich-ärztlichen Tätigkeit neu motivierende Erfahrungen einer ganzheitlichen und nachhaltigen Heil-Kunde vermitteln, die für viel beruflichen Stress und Frust entschädigen können.
Sexualtherapie
Biopsychosozial, also ganzheitlich verstandene Sexualmedizin bedingt eine ebensolche
Sexualtherapie, welche die somatisch-organischen, die psychischen und die sozialen Aspekte bzw. Faktoren in ihren Wechselwirkungen berücksichtigt, wenn es um Störungen der sexuellen Gesundheit des Menschen geht. In diesem Sinn ist Sexualtherapie die klinisch-therapeutische Anwendung der Sexualmedizin. Zu ihrem Instrumentarium gehören Methoden der Organ-Medizin ebenso wie der „sprechenden Medizin“ Ihre Indikationen umfassen das gesamte Störungsspektrum der Sexualität (wie es zum größten Teil in ICD-10 und
DSM-5 kodiert ist), sofern ein Leidensdruck besteht.
Der Begriff
Sexualtherapie wird aber sehr oft für die psychotherapeutische Behandlung sexueller Störungen, also für eine bestimmte Indikation von
Psychotherapie verwendet bzw. zur Gänze von der Psychologie beansprucht. Sexualtherapie sei Psychotherapie, was sich aus der Geschichte (s. u.) der Sexualtherapie sowie interdisziplinär-methodischen Überschneidungen erklärt und letztlich mit der Standortbestimmung von Naturwissenschaft versus Geisteswissenschaft zu tun hat, aber als „entweder – oder“ längst obsolet sein sollte (Medicus
2006,
2012; Beier und Loewit
2012). In der Psychotherapieforschung erkannte wichtige Wirkfaktoren therapeutischen Handelns kommen auch in der biopsychosozialen Sexualtherapie – wie prinzipiell auch in erfolgreicher
Sexualberatung – zum Tragen, nämlich aktive Hilfe zur Problembewältigung, Klärungsarbeit, Ressourcenaktivierung und Veränderung durch reale Erfahrung (Grawe et al.
1994). Es müsste also unschwer möglich sein, zwischen Sexualmedizin und der ihr entsprechenden Sexualtherapie einerseits und Psychotherapie sexueller Störungen andererseits zu unterscheiden und beide in ihren jeweiligen Indikationen und Möglichkeiten zu begreifen.
Für ein besseres Verständnis der
Sexualtherapie lohnt sich ein kurzer Blick auf die Anfänge ihrer Entwicklung. In Europa richtete sich das Interesse der wissenschaftlichen Sexualmedizin im 19. Jahrhundert auf das auffällig Pathologische als Degenerationszeichen (von Krafft-Ebing
1886). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts trat die Erforschung der normalen Sexualität in den Mittelpunkt des Interesses. Pars pro toto sei nur das Magnus Hirschfeld Institut für Sexualwissenschaft in Berlin genannt (erste Sexualtherapien, Eheberatung, Fragen von Homosexualität und Sexualreform, Organisation erster internationaler sexualwissenschaftlicher Kongresse, Gründung der Zeitschrift für Sexualwissenschaft etc.; Pretzel
2013). Diese Arbeiten wurden durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 abrupt beendet, sodass die weitere Entwicklung in den USA erfolgte und die Sexualwissenschaft/-medizin von dort nach dem Ende des II. Weltkrieges „neu aus Amerika“ nach Europa zurückkehrte.
In den USA waren (neben vielen anderen) die Arbeiten von William Masters (Gynäkologe) und Virginia Johnson an ihrem Institut in St. Louis (zu Beginn noch ohne Hinweistafel an der Haustüre!) für die Weiterentwicklung der
Sexualtherapie von besonderer Bedeutung. 1966 erschien „Human Sexual Response“ (Masters und Johnson
1966), die Ergebnisse der Erforschung der Physiologie der sexuellen Reaktionen und zwar nicht mehr an Versuchstieren, sondern beim Menschen im Labor (damals ein unerhörter Tabubruch). Dabei wurde zunächst mit Prostituierten und freiwilligen „Partnern“ gearbeitet, also ebenfalls primär auf der physiologischen, nicht aber auf der Ebene echter Beziehungen, was z. T. zu stressverfälschten Werten führte. 1970 stellte die Beschreibung der für Jahrzehnte bestimmenden Standard-Therapie nach Masters und Johnson und ihrer erstaunlichen Erfolge in „Human Sexual Inadequacy“ einen bahnbrechenden Wendepunkt dar (Masters und Johnson
1970):
Als einer der Verfasser (K. L.) dieses Beitrages 1980 an einer Weiterbildungswoche am Institut in St. Louis teilnahm, waren die „Markenzeichen“ der
Sexualtherapie nach Masters und Johnson noch unverändert erhalten: Die Paartherapie (das Paar ist der Patient) mit „Kasernierung“ der Paare für 14 Tage in einem Hotel und Intensiv-Therapie mit täglichen Sitzungen am Institut, ein gemischtgeschlechtliches Therapeuten-Paar, getrennte Erstgespräche und die Zusammenführung der Partner am sog. round table. Danach die als Sensate Focus
bekannt gewordenen verordneten „Hausübungen“ und die Besprechung der dabei gemachten Erfahrungen. Dabei stand in erster Linie die Wiederherstellung der gestörten Funktion (Lust, Erregung, Orgasmus) im Vordergrund, psychotherapeutische Konzepte oder Methoden spielten explizit noch keine Rolle, Veränderungen wurden einerseits durch ärztlich-autoritative Information und Aufklärung, andererseits durch die bei den Übungen gemachten Erfahrungen angestrebt. Von der (damals bereits publizierten) Kommunikationsfunktion der Sexualität war keine Rede. Bei einem Aufbaukurs 2 Jahre später gehörte bereits eine psychodynamisch orientierte Psychologin zum Kernteam des Institutes – ein Zeichen, dass das Konzept auch bei Masters und Johnson in Weiterentwicklung begriffen war. 1974 gewann „The New Sex Therapy“ von
Helen S. Kaplan, die u. a. den Sensate Focus in ihr psychiatrisch-psychodynamisches Behandlungsprogramm übernahm, großen Einfluss (Kaplan
1974). Sie hielt Sexualtherapie für eine besondere Form von
Psychotherapie. Es würde den Rahmen des Beitrags sprengen, alle weiteren Entwicklungen anzuführen (s. Beier et al.
2005; Hartmann
2011), aber diese persönlichen Reminiszenzen nach über 30 Jahren seien gestattet, um die damalige Pionier- und Aufbruchsstimmung, auch die z. T. extreme Tabuisierung des Themas in den USA erahnen zu lassen, sowie an die bleibenden Fundamente zu erinnern, die damals gelegt wurden.
Andere Schwerpunkte als in der „klassischen Sexualtherapie“ ergaben sich aus dem Konzept der körpersprachlich-kommunikativen Dimension der Sexualität (Loewit
1980,
1992). Daraus entwickelte sich im Lauf der sexualtherapeutischen Arbeit mit Paaren die
Syndyastische Sexualtherapie (
SST; Beier und Loewit
2004,
2011), die als einzige Behandlungsmethode sexueller Störungen die Erfüllung der psychosozialen Grundbedürfnisse mit Sexualität als deren besonders ausdrucksstarker Kommunikationsmöglichkeit verbindet, also Lust und Beziehung verknüpft. SST lässt sich in sexualmedizinische wie psychotherapeutische Konzepte integrieren und versteht sich als fokussierte Kurztherapie (bis ca. 15 Stunden).
Ihre Kernpunkte wurden bereits mehrfach erwähnt (Abschn.
1 und
2):
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Der Mensch als Beziehungswesen mit einem sozialen Gehirn.
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Das Paar als Patient.
-
Die Fortpflanzungs-, Bindungs- und Lustdimension der Sexualität.
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Die universellen biopsychosozialen Grundbedürfnisse nach Angenommen-Sein und Zugehörigkeit, was Geltung, Respekt und Autonomie einschließt, mitmenschliche Nähe und Wärme vermittelt und daraus Geborgenheit und Sicherheit erleben lässt.
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Die Verwirklichung und Erfüllung dieser Grundbedürfnisse im partnerschaftlichen Alltag und in sexuell-körpersprachlicher Kommunikation durch die Beziehungs- oder Kommunikationsdimension der menschlichen Sexualität (d. h. Fokus auf der subjektiven Bedeutungsebene: syndyastisches Fokussieren).
So kann z. B. der Koitus als (buchstäblicher) Übersetzung der Grundbedürfnisse in die Sprache der Sexualität erlebt werden, wobei gleichzeitig die sexuelle Lust durch den Beziehungsaspekt (Beziehungslust) verstärkt wird und die Beziehung durch die mehrdimensional erfahrene orgastische Lust. Damit wird der oft beklagte Gegensatz zwischen „Sex“ und „Liebe“ gegenstandslos bzw. im dialektischen Sinn „aufgehoben“. Ziel der SST ist somit nicht nur die Beseitigung der sexuellen Störung(en), sondern die Erhöhung der Beziehungszufriedenheit insgesamt durch neue, vom Paar selbst entworfene, intime Erfahrungen, also die Freisetzung des salutogenen Potenzials der Sexualität. Ähnlich wie die Fortpflanzungsdimension der Sexualität von ihren übrigen Dimensionen abgekoppelt werden kann, ist auch die Lust- von der Beziehungsdimension trennbar, aber um den Preis syndyastischer Deprivation, d. h. die Beziehungswünsche bleiben unerfüllt. Fallweise stößt man in diesem Zusammenhang auf eine nicht mehr veränderbare Grenze der SST, nämlich das sekundär entstandene Fehlen von Bindungs- und Beziehungsfähigkeit an sich.
(Syndyastische)
Sexualtherapie bleibt speziell Ausgebildeten und Qualifizierten vorbehalten, ist aber nicht von bestimmten Fachrichtungen abhängig. So wurde in Deutschland die Zusatz-Weiterbildung Sexualmedizin in die (Muster-)Weiterbildungsordnung 2018 aufgenommen. Sie kann von Fachärzten mit Psychosomatischer Grundversorgung oder Zusatz-Weiterbildung
Psychotherapie, die in einem Gebiet der unmittelbaren Patientenversorgung tätig sind, erworben werden. Im (Muster-) Kursbuch, welches im April 2020 vom Vorstand der
Bundesärztekammer beschlossen wurde, wird der Umfang mit 120 h Theorieweiterbildung, 120 h Fallseminaren und 50 h Selbsterfahrung sowie Therapie unter Supervision abgebildet. In Österreich kann ein Diplom durch die ÖÄK erworben werden. Allgemeinärzte, Urologen und Gynäkologen sind prädestinierte Ansprechpartner, aber ebenso jeder hellhörige Arzt, der eine chronisch Stress erzeugende Hintergrundproblematik bei seinem Patienten vermutet und nach der Qualität wichtiger persönlicher Beziehungen fragt und evtl. nach der Rolle, welche die Sexualität dabei spielt. Über die Sexualmedizin hinaus wäre es in solchen Fällen längst überfällig, dass die Medizin auch den „Beziehungs-Status“ (d. h. die (Nicht-?) Erfüllung der Grundbedürfnisse) als wesentliche salutogene Ressource oder/und pathogenen Stressfaktor erhebt und in die Krankengeschichte/Leidensgeschichte mit einbezieht.