Ätiologische Faktoren und Häufigkeit unterschiedlicher Diagnosen
Entscheidend für die Betrachtung der männlichen Infertilität
ist, dass diese bei ca. 50 % aller Paare mit unerfülltem
Kinderwunsch von reproduktionsmedizinischer Relevanz ist. Bei 26 % liegt gleichzeitig eine weibliche Störung vor (Nieschlag
2009; Schuppe et al.
2013).
Ursachen der männlichen Infertilität werden nach Lokalisation und Art der Störung eingeteilt. Die klinische Ausprägung variiert hierbei stark und beruht auf unterschiedlichen ätiologischen Faktoren. Eine multifaktorielle Genese der Infertilität beim Mann ist häufig.
Als Lokalisation kann zwischen prä-, intra- und posttestikulären Störungen differenziert werden. Hinzu kommen sexuelle Störungen mit Beeinträchtigung der Libido, Erektion, Emission und Ejakulation. Es gibt jeweils eine Vielzahl von unterschiedlichen Ursachen, wie etwa genetische, endokrine/metabolische, postentzündliche und iatrogene.
In Tab.
1 wird nach Störungsart differenziert und hierzu jeweils typische klinische Beispiele gegeben.
Tab. 1
Ätiologische Faktoren bei männlichen Fertilitätsstörungen (mod. nach Tüttelmann und Nieschlag
2009 und Schuppe et al.
2013)
Prätestikulär | genetisch | |
endokrin | isolierter hypogonadotroper Hypogonadismus (IHH) |
|
|
Hypopituitarismus (wg. Tumor, posttraumatisch, Z. n. Ischämie, Z. n. Strahlentherapie/Operation) |
isolierter LH-Magel (Pasqualini-Syndrom) |
Intratestikulär | genetisch und epigenetisch | |
Y-chromosomale Deletion (wie z. B. AZF c-Mikrodeletion) |
XX-Mann |
|
|
|
Globozoospermie (Fehlende Akrosomenbildung) |
Umweltfaktoren |
endokrin/metabolisch | Primärer Hypogonadismus unklarer Ursache |
Altershypogonadismus |
|
kongenital | Maldeszensus testis |
entzündlich/postentzündlich | Orchitis/Epididymoorchitis (u. a. Mumpsinfektion) |
Spermatogenese schädigende exogene Noxen | Umweltfaktoren und Genussgifte (wie z. B. Tabakkonsum) |
Pharmaka/Zytostatika |
physikalische Faktoren (wie Hitze, ionisierende Strahlung und ggf. elektromagnetische Felder?) |
vaskulär | |
Torsion |
onkologisch | Maligner Keimzelltumor (Seminom/Nichtseminom) |
Stromatumor (wie z. B. Leydigzell-Tumor) |
systemische Erkrankung | Tumor (z. B. Leukämie), Leber- und Nierenerkrankungen |
Posttestikulär | genetisch | kongenitale bilaterale Aplasie des Vas deferens (CBAVD) |
Young-Syndrom |
obstruktiv | Utrikuluszyste |
iatrogen Verletzung der ableitenden Samenwege | Z. n. Vasektomie, Z. n. Spermatozelenresektion, Z. n. Herniotomie, Z. n. TUR-P, Z. n. Prostatektomie |
entzündlich/postentzündlich | |
|
Male accessory gland infection (MAGI) |
immunologisch | Spermienautoantikörper |
Liquefizierungsstörung | Funktionsstörungen der Prostata und der Samenbläschen |
Sexuelle Störung und Störung der Samendeposition | Libidostörung | psychosexuelle, pharmakoinduzierte Störungen |
| psychosexuelle, neurogene, vaskuläre, pharmakoinduzierte, posttraumatische oder postoperative Störungen |
Emissions- und Ejakulationsstörung (u. a. Ejacualtio praecox und retrograde Ejakulation) |
Penisdeformation | |
Es ist schwierig eine genaue Aussage bzgl. der Häufigkeit der einzelnen Störungen beim infertilen Mann zu geben. Dies liegt zum einen an der Tatsache, dass nicht bei jedem Paar eine umfangreiche andrologische Diagnostik erfolgt. Weiter kann die Häufigkeit in Abhängigkeit von der andrologischen Ausrichtung des untersuchenden Zentrums stark variieren. Zusätzlich sind in den letzten Jahren aufgrund der weiterentwickelten Untersuchungsmöglichkeiten weitere Ursachen beschrieben worden.
Insbesondere der zunehmende Kenntnisgewinn von genetischen Ursachen einer andrologischen Infertilität ist hierbei zu berücksichtigen (Salonia et al.
2018). Es besteht Übereinstimmung, dass die Häufigkeit chromosomaler Auffälligkeiten mit der abnehmenden Zahl von Spermatozoen ansteigt. Das
Klinefelter-Syndrom ist die häufigste sex-chromosomale Abnormalität. Y-Deletionen sind bei
nichtobstruktiver Azoospermie (NOA) vor einer operativen Spermiengewinnung zu identifizieren, CF-Mutationen (
zystische Fibrose) bei Agenesie der Samenleiter.
Eine wichtige Bedeutung kommt dem Bereich der
Epigenetik zu, die endokrinen Funktionen beeinflusst und Genetik und Umwelt miteinander verbindet. Dies könnte u. a. eine Erklärung dafür sein, warum sich in den letzten Jahrzehnten die reproduktive Gesundheit von Männern, die sowohl für die Umweltexposition als auch für den Stoffwechsel sehr empfindlich ist, verschlechtert hat (Cescon et al.
2020).
Eine idiopathische Infertilität stellt eine Ausschlussdiagnose dar. Sie wird im Vergleich zu früheren Statistiken heute etwas weniger diagnostiziert, steht aber weiterhin mit ca. 30–40 % an erster Stelle der männlichen Zeugungsunfähigkeit.
Eine Übersicht über die Häufigkeit einzelner Ursachen in unterschiedlichen andrologischen Ambulanzen gibt Tab.
2.
Tab. 2
Häufigkeit unterschiedlicher Diagnosen bei männlicher Infertilität (Vergleich zweier ambulanter andrologischer Zentren)
Bekannt | 42,6 % | | | |
Idiopathisch | 30 % | 13,3 % | 32,6 % | |
Maldesdeszensus testis | 8,4 % | 17,2 % | 2,7 % | 3–6 % der reifen männlichen Neugeborenen und etwa 30 % der Frühgeborenen |
Varikozele testis | 14,8 % | 10,9 % | 26,6 % | 14–20 % |
Spermienautoantikörper | 3,9 % | - | - | 9–12 % bei infertilen Männern (Bozhedomov et al. 2015) |
Testikulärer Tumor | 1,2 % | 2,8 % | 0,4 % | 1,6% aller Krebserkrankungen (2018: 4160 maligne Tumore (ICD-10 C62) (RKI 2021) |
endokrin | | | 1,5 % | |
| Hypogonadismus | 10,1 % | 1,4 % | | Biochemischer Hypogonadismus bei 2,1–12,8 % (Männer mittleren Alters); Inzidenz niedriger Testosteronspiegel und symptomatischer Hypogonadismus bei Männern 40 bis 79 Jahre 2,1 und 5,7 % |
Prim. Hypogonadismus unklarer Ursache | 2,3 % | 0,8 % | | |
Sekundärer Hypogonadismus | 1,6 % | 1,9 % | | |
Kallmann-Syndrom | 0,3 % | 0,5 % | | 1:8000 bis 1:10.000 |
genetisch | | | 1,2 % | |
| CBAVD | 0,5 % | 3,0 % | | |
Klinefelter-Syndrom | 2,6 % | 13,7 % | | 1:500 bis 1:1000 |
| Y-chromosomale Deletion | 0,3 % | 1,6 % | | 8–12 % Y-Deletionen bei azoospermen Männern, bei Oligozoospermie 3–7 %. Bei Spermienkonzentration > 5 Millionen/ml bei <0,7 %. |
Translokation | 0,1 % | 0,3 % | | Reziproke Translokation bei ca. 1:700 der Neugeborenen; Robertsonsche Translokation bei ca. 1:1000 der Neugeborenen. |
XX-Mann | 0,1 % | 0,6 % | | 1:10.000 bis 1:20.000 |
andere | <0,1 % | 0,3 % | | |
Infektion | 9,3 % | 10,5 % | 0,2 % | |
Pyospermie | | | 0,5 % | |
Obstruktion | 2,2 % | 10,3 % | 15,3 % | |
Vasektomie | 0,9 % | 5,3 % | | |
Ejakulationsstörung | 2,4 % | - | 2,0 % | |
sexuelle Dysfunktion | | | 0,7 % | |
Unauffällige weibliche Fertilität | | | 10,7 % | |
iatrogen (medikamentös/postradiogen) | | | 1,4 % | |
testikuläre Störung | | | 1,1 % | |
systemische Erkrankung | | | 0,3 % | |
Torsion | | | 0,1 % | 1:4000/Jahr (Männer <25 Jahre) |
Weidner et al. (
2010) analysierten die Diagnosen von 1834 Männern mit Fertilitätsproblemen, die sich im Gießener EAA-Zentrum (Zentrum der European Academy of Andrology) mit Fertilitätsproblemen vorstellten. Hierbei war das idiopathische OAT-Syndrom
(Oligo-Astheno-Teratozoospermie-Syndrom
) mit 34,6 % der häufigste Vorstellungsgrund. Die Diagnose basierte immer auf zwei Ejakulatuntersuchungen. In allen Fällen, in denen bei 2-facher Untersuchung im Ejakulat auffällige Werte für die Samenzellzahl, die Motilität und Morphologie der Samenzellen unterhalb der von der WHO (
2010) festgelegten Grenzwerte vorlagen, wurde eine umfassende andrologische Untersuchung durchgeführt. Auffällig war in diesem Patientenkollektiv eine hohe Rate von 24,5 % mit testikulären Störungen (Hodentumor, Kryptorchismus,
Klinefelter-Syndrom, nicht-obstruktive Azoospermie,
Varikozele testis).