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Enzyklopädie der Schlafmedizin
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Publiziert am: 27.08.2024

Pavor nocturnus

Verfasst von: Anna Heidbreder
Der Pavor nocturnus gehört zur Gruppe der NREM-Parasomnien. Er ist gekennzeichnet durch ein plötzliches schreckhaftes, häufig von einem Aufschrei begleitetes Erwachen aus dem Tiefschlaf (Schlafstadium N3). Dabei kommt es zu vegetativen Begleitsymptomen wie Tachypnoe, Tachykardie, Schwitzen etc. Die Betroffenen sind in der Regel nur schwer erweckbar und beim Versuch, sie während dieser Episoden aufzuwecken, neigen insbesondere Erwachsene zu aggressivem Verhalten. Wenn sie Aufwachen wirken die Betroffenen meist noch einige Zeit verwirrt. Eine Behandlung ist dann indiziert, wenn es zu psychosozialen Belastungen, Tagesschläfrigkeit oder einer Gefährdung des Betroffenen oder des Bettpartners kommt.

Synonyme

Nachtschreck; Schlafterror

Englischer Begriff

night terrors; pavor nocturnus

Definition

Die Internationale Klassifikation der Schlafstörungen von 2014 („ICSD-3“) zählt den Pavor nocturnus unter den „Parasomnien“ zu den NREM-Parasomnien beziehungsweise Arousalstörungen. Pavor nocturnus tritt vornehmlich in der ersten Nachthälfte auf und ist charakterisiert durch ein plötzliches Aufschrecken aus dem Tiefschlaf (Schlafstadium N3). Typischerweise wird er von einer Vokalisation eingeleitet, häufig einem ängstlichen Aufschrei. Neben Zeichen von Angst finden sich autonome Reaktionen wie Mydriasis, Tachykardie, Tachypnoe und eine erhöhte Schweißneigung. Die Betroffenen setzen sich meist ruckartig auf, verlassen teilweise auch das Bett und werden nicht selten aggressiv, insbesondere wenn versucht wird, das Verhalten zu unterbrechen. Meist besteht eine Amnesie für die nächtlichen Ereignisse, gelegentlich können Fragmente erinnert werden. In manchen Fällen, insbesondere bei Erwachsenen, besteht eine Assoziation zu Geträumtem.

Genetik, Geschlechterwendigkeit

Spezifische Daten für den Pavor nocturnus fehlen und die hier gemachten Angaben betreffen NREM-Parasomnien im Allgemeinen. Es gibt wahrscheinlich keinen Unterschied in der Prävalenz zwischen Männern und Frauen. Eine genetische Prädisposition scheint eine wichtige Rolle zu spielen. Es wurden verschiedene Genloci nachgewiesen, die mit einer NREM-Parasomnie assoziiert sind. Auch eine Assoziation zum HLA-Faktor HLA DQB1∗0501 konnte gezeigt werden.

Epidemiologie

NREM-Parasomnien treten vor allem im Kindesalter und bis zu einem Alter von 35 Jahren auf. Die Prävalenz des Pavor nocturnus wurde bisher nicht explizit untersucht. Es wurden Prävalenzen von 1–6,5 % bei Kindern und 2,2 % bei Erwachsenen berichtet, mit einer sinkenden Prävalenz bei zunehmendem Alter. In einer anderen Studie wird eine Prävalenz bis 25 % bei Kindern unter 5 Jahren angegeben.

Pathophysiologie

Die Pathophysiologie ist bisher nicht geklärt. Man nimmt an, dass es während einer parasomnischen Episode zu einem gleichzeitigen Auftreten von Wach und Schlaf in verschiedenen Hirnarealen kommt, das Hirn also nur partiell wach ist.
Siehe auch „Lokaler Schlaf“.

Symptomatik

Es kommt zum plötzlichen Aufschreien und Aufschrecken aus dem Schlaf heraus, das begleitet ist von Zeichen großer Angst, mit Herzrasen, Tachypnoe, Schwitzen, Hautrötung, Dysphorie, Mydriasis und einem erhöhten Muskeltonus als Zeichen der vegetativen/autonomen Beteiligung. Die Augen sind während der Episoden meist geöffnet, der Blick ist jedoch in der Regel nicht fokussiert und wirkt verwirrt. Meist reagieren die Betroffenen nicht auf ihre Umgebung und sind nur schwer erweckbar; nach dem Aufwachen sind sie noch eine Zeit lang desorientiert. Sie können auch plötzlich aus dem Bett aufspringen und umherlaufen und zeigen dann nicht selten aggressive Verhalten, insbesondere wenn versucht wird, sie zu wecken. Komplexe kognitive Leistungen wie Planen, Aufmerksamkeit, Interaktion oder Ähnliches sind während solcher Episoden nicht möglich. Die Episoden sind meist kurz, können in seltenen Fällen aber auch 30–40 Minuten anhalten. Typischerweise besteht für das Ereignis am nächsten Tag Amnesie.

Erstmanifestation

Üblicherweise beginnt der PN beginnt Pavor nocturnus im frühen Kindesalter. Die Erstmanifestation liegt meist zwischen dem 4. und 12. Lebensjahr, kann seltener aber auch erst im Erwachsenenalter auftreten.

Auslöser

Es sind verschiedene auslösende Faktoren für das Auftreten von NREM-Parasomnien respektive des Pavor nocturnus bekannt. Dazu gehören insbesondere Schlafdeprivation und situativer Stress. Auch bei Hyperthyreodismus, Migräne und bei einem Zustand nach Schädelhirntrauma, Enzephalitis, Schlaganfall oder anderen hirnorganischen Erkrankungen besteht ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von derartigen Episoden, auch wenn die Berichte darüber bisher eher rar sind.
Weitere mögliche Triggerfaktoren sind nicht behandelte „Schlafbezogene Atmungsstörungen“, „Schlafbezogene Bewegungsstörungen“ sowie externe Stimuli (Geräusche in der Schlafumgebung, Licht) oder interne Stimuli (gefüllte Blase).
Auch eine ungewohnte Schlafumgebung, fieberhafte Infekte (vor allem bei Kindern), emotionaler oder körperlicher Stress, ein prämenstrueller Status bei Frauen, der Gebrauch psychotroper Substanzen wie beispielsweise Lithium, Anticholinergika, Phenothiazine oder Sedativa können ebenso wie Alkohol ein Trigger für das Auftreten von Episoden sein.

Verlauf

Meist beginnt der Pavor nocturnus in der frühen Kindheit und verschwindet mit dem Heranwachsen oder tritt bis zum Erwachsenenalter mit deutlich reduzierter Frequenz auf. Selten tritt er im Erwachsenenalter nach einer Pause erneut auf, dann häufig in Lebenssituationen mit erhöhter Stressbelastung, nach Schlafentzug oder im Zusammenhang einer anderen schlafmedizinischen Erkrankung, beispielsweise einer Obstruktiven Schlafapnoe (siehe „Obstruktive Schlafapnoe“). Die Erstmanifestation im Erwachsenenalter ist selten.

Psychosoziale Faktoren

Durch die nächtlichen Verhaltensauffälligkeiten entstehen nicht selten Probleme zwischen den Betroffenen und ihren Bettpartnern. In extremen Fällen können selbst Personen aus dem größeren Umkreis gestört werden. Auch ernsthafte Verletzungen sind möglich.

Komorbide Erkrankungen

Zwischen dem Auftreten von NREM-Parasomnien respektive Pavor nocturnus und psychiatrischen Erkrankungen konnten bei Kindern bisher keine Zusammenhänge festgestellt werden. Bei erwachsenen Betroffenen finden sich in der Vorgeschichte zwar häufig Angststörungen oder „Affektive Störungen“ wie eine depressive Störung ohne psychotische Symptomatik, ein direkter Zusammenhang beider Erkrankungen konnte bisher jedoch ebenfalls nicht gefunden werden.

Diagnostik

Goldstandard in der Diagnostik der NREM-Parasomnien ist die „Polysomnographie“ (PSG) mit zeitsynchroner Videographie. Nur damit ist die Zuordnung des nächtlichen Verhaltens zum NREM-Schlaf zuverlässig möglich. Schlafentzug oder akustischen Stimuli können während der Untersuchungssituation zur Provokation eingesetzt werden. Eine unauffällige Schlaflaboruntersuchung schließt aber eine NREM-Parasomnie nicht aus.

Differentialdiagnostik

Mittels Polysomnographie sind andere Parasomnien wie die REM-Schlaf-Verhaltensstörung auszuschließen, ferner nächtliche oder schlafgebundene epileptische Anfälle, schlafbezogene dissoziative Störungen sowie Alkohol- oder Drogen-assoziierte nächtliche Verhaltensauffälligkeiten. Auch mögliche Triggerfaktoren einer NREM-Parasomnie wie „Schlafbezogene Atmungsstörungen“ und „Schlafbezogene Bewegungsstörungen“ werden damit erfasst. Zur Differentialdiagnostik einer möglichen „Epilepsie“ ist die Erweiterung der EEG-Montage indiziert.
Siehe auch „Kardiorespiratorische Polysomnographie“; „Messung im Schlaflabor“.

Therapie

Schlafhygienische Maßnahmen stehen wie bei NREM-Parasomnien im Allgemeinen im Vordergrund der Behandlung. Dazu gehören neben dem Einhalten regelmäßiger, wenn möglich fester Bettliegezeiten das Vermeiden von Schlafdeprivation und ein adäquates Stressmanagement, gegebenenfalls durch das Erlernen von Entspannungstechniken. In Schlaflaborstudien konnte gezeigt werden, dass Schlafdeprivation zu einem 2,5- bis 5-fachen Anstieg parasomnischer Ereignisse führte. Unabhängig von der zugrunde liegenden Störung ist es erforderlich, für eine sichere Bettumgebung zu sorgen. Dazu gehören neben dem Entfernen potenziell verletzungsgefährdender Gegenstände aus der Schlafumgebung das Abpolstern scharfer Ecken und Kanten und, wenn erforderlich, sogar das Anbringen abschließbarer Fenster und das Abschließen von Türen. Bettpartner sollten über das Vorliegen des Pavor nocturnus aufgeklärt sein. Triggerfaktoren, wie schlafbezogene Atmungs- und Bewegungsstörungen, sollten durch eine adäquate Therapie ausgeschaltet werden.
Wenn es trotz der genannten Maßnahmen zu keiner Besserung und zu einer relevanten Einschränkung für den Betroffenen kommt, sollte eine spezifische Therapie begonnen werden. Zu den Therapieoptionen gehören zum einen Hypnose (inkl. Selbsthypnose), die sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsene Effekte zeigte, zum anderen Verhaltensinterventionen wie das antizipierte oder geplante Erwachen durch Erwecken ca. 15 Minuten vor dem erwarteten Zeitpunkt eines parasomnischen Ereignisses (insbesondere bei KIndern mit regelmäßigen Bettliegezeiten effektiv). Für die medikamentöse Therapie des Pavor nocturnus liegen bisher keine größeren, randomisierten, klinischen Studien vor. Sie sollte den schweren, Patient und/oder Bettpartner gefährdenden, stark schlaffragmentierenden Fällen vorbehalten bleiben. Dazu gehören vor allem. Benzodiazepine wie Clonazepam und Diazepam, die neben einer Suppression von Tiefschlaf zu einer Reduktion von Weckreaktionen und Angst führen, oft aber nicht ausreichen, um parasomnische Ereignisse vollständig zu verhindern.
In Einzelfällen wurden immer wieder Effekte von Carbamazepin auf die Frequenz von NREM-Parasomnien zuzuordnenden nächtlichen Ereignissen gezeigt. Auch Melatonin zeigt sich in Einzelfällen wirksam.

Zusammenfassung, Bewertung

Der Pavor nocturnus gehört zur Gruppe der NREM-Parasomnien. Er ist gekennzeichnet durch ein plötzliches schreckhaftes, häufig von einem Aufschrei begleitetes Erwachen aus dem Tiefschlaf (Schlafstadium N3). Dabei kommt es zu vegetativen Begleitsymptomen wie Tachypnoe, Tachykardie, Schwitzen etc. Die Betroffenen sind in der Regel nur schwer erweckbar und beim Versuch, sie während dieser Episoden aufzuwecken, neigen sie gelegentlich zu aggressivem Verhalten, insbesondere Erwachsene. Wenn sie Aufwachen wirken die Betroffenen meist noch einige Zeit verwirrt. Eine Behandlung ist insbesondere dann indiziert, wenn es zu psychosozialen Belastungen, Tagesschläfrigkeit oder einer Gefährdung des Betroffenen oder des Bettpartners kommt.
Literatur
American Academy of Sleep Medicine (2014) International classification of sleep disorders, revised: diagnostic and coding manual, 3. Aufl. American Academy of Sleep Medicine, Westchester
Petit D, Touchette E, Tremblay RE, Boivin M, Montplaisir J (2007) Dyssomnias and parasomnias in early childhood. Pediatrics 119:e1016–e1025CrossRefPubMed
Pilon M, Montplaisir J, Zadra A (2008) Precipitating factors of somnambulism: impact of sleep deprivation and forced arousals. Neurology 70:2284–2290CrossRefPubMed
Zadra A, Desautels A, Petit D, Montplaisir J (2013) Somnambulism: clinical aspects and pathophysiological hypotheses. Lancet Neurol 12:285–294. https://​doi.​org/​10.​1016/​S1474-4422(12)70322-8CrossRefPubMed