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Enzyklopädie der Schlafmedizin
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Publiziert am: 27.08.2024

Schlafwandeln

Verfasst von: Anna Heidbreder
Das Schlafwandeln gehört unter den Parasomnien in die Gruppe der NREM-Parasomnien oder Arousalstörungen. Es wird meist durch ein Verwirrtes Erwachen (confusional arousal) eingeleitet und führt definitionsgemäß zu einem Verlassen des Bettes während der Episode. Zur Diagnostik dient neben der ausführlichen spezifischen Anamnese die Durchführung einer Polysomnographie. ZUM Ausschluss einer epileptogenen Genese des nächtlichen Verhaltens sollte diese mit erweiterter EEG-Montage erfolgen. Eine Behandlung ist indiziert, wenn das nächtliche Verhalten zu Konsequenzen für den Bettpartner (Verletzungen) oder den Betroffenen (Verletzungen, nicht erholsamer Nachtschlaf, Tagesschläfrigkeit) führt. Im Vordergrund stehen Verhaltensmodifikation und gegebenenfalls Verhaltenstherapie. Für die medikamentöse Therapie stehen derzeit keine randomisierten Studien zur Verfügung. Eingesetzt werden vor allem Benzodiazepine.

Synonyme

Somnambulismus

Englischer Begriff

sleepwalking; somnambulism

Definition

Das Schlafwandeln gehört innerhalb der Diagnosegruppe der „Parasomnien“ zu den Arousalstörungen oder NREM-Parasomnien („ICSD-3“). Diese treten vornehmlich in der ersten Nachthälfte auf und sind charakterisiert durch eine inkomplette Weckreaktion aus dem Tiefschlaf (Schlafstadium N3), der ein Verlassen des Betten und andere komplexe Verhaltensmuster außerhalb des Bettes folgen.
Die Augen sind während der Episoden meist geöffnet, der Blick ist jedoch häufig nicht fokussiert und wirkt verwirrt. Komplexe kognitive Leistungen wie Planen, Aufmerksamkeit, Interaktion oder Ähnliches sind während solcher Episoden nicht möglich. Das Erwecken der Betroffenen fällt meist schwer; gelingt es, wirken die Betroffenen häufig noch eine Zeit lang verwirrt. Meist besteht eine Amnesie für die nächtlichen Ereignisse, gelegentlich können Fragmente erinnert werden. In manchen Fällen, insbesondere bei Erwachsenen, besteht eine Assoziation zu Geträumtem.

Genetik

Für eine genetische Prädisposition des Schlafwandelns sprechen neben dem familiär gehäuften Auftreten auch die Assoziation zum HLA-System. Zum anderen wurden verschiedene Modelle möglicher Vererbungsgänge, die sowohl rezessiv als auch autosomal dominant mit inkompletter Penetranz sein können, diskutiert.

Epidemiologie

Die Prävalenz des Schlafwandelns liegt, betrachtet auf die Lebenszeit, je nach Studie zwischen 18 und 29 %. In einer schwedischen Studie, in der Kinder zwischen 6 und 16 Jahren untersucht wurden, betrug diese sogar 40 %. Bei Erwachsenen liegt die Prävalenz bei 4,3 %. In der Untersuchung einer Gruppe Erwachsener, die aufgrund von Parasomnie-assoziierter Verletzung während des Schlafs untersucht wurden, begann das Schlafwandeln bei einem Drittel der Untersuchten erst nach dem 16. Lebensjahr.

Pathophysiologie

Bei der Mehrzahl der von einer NREM-Parasomnie wie Schlafwandeln betroffenen Menschen liegt keine objektivierbare neurologische oder psychiatrische Erkrankung vor. In nur wenigen Fallberichten fanden sich im Arousalsystem lokalisierte Läsionen, die möglicherweise bei diesen Betroffenen eine Ursache für die beobachtete NREM-Parasomnie waren. Die Läsionen fanden sich dabei im posterioren Hypothalamus, Mittelhirn oder im periventrikulären Grau. In EEG-Studien konnte gezeigt werden, dass es während einer parasomnischen Episode zu einem parallelen Zustand von Wach und Schlaf verschiedener Hirnregionen kommt.

Symptomatik

Beschwerden und Symptome

Häufig beginnen Episoden mit Schlafwandeln wie ein „Verwirrtes Erwachen“ („confusional arousal“), aber auch ein plötzliches Verlassen oder sogar ein aus dem Bett Stürmen oder Rennen ist möglich. Diese kann begleitet sein von einem agitierten, nicht angebrachten, auch aggressiven Verhalten. Das Verhalten ist meist einfach und nicht geplant oder zielorientiert, kann aber auch komplex und länger andauernd sein. Gelegentlich beinhaltet es auch auto- oder interaktives sexuelles Verhalten. Das Schlafwandeln kann spontan beendet sein, und der Betroffene erwacht in einer für ihn/sie unerwarteten Umgebung, er kann jedoch auch zurückkehren an seinen Schlafplatz ohne vollständig zu erwachen. Eine adäquate Interaktion ist während der schlafwandlerischen Episoden nicht möglich, und es besteht meist eine Amnesie für das Ereignis.

Erstmanifestation

Meist beginnen NREM-Parasomnien und somit auch das Schlafwandeln bereits in der frühen Kindheit und nehmen mit zunehmendem Alter wieder ab oder verschwinden bis zum jungen Erwachsenenalter vollständig. In seltenen Fällen treten sie erstmals im Erwachsenenalter oder wieder nach einer asymptomatischen Phase auf. Das Wiederauftreten des Schlafwandels ist dann häufig assoziiert mit Stress, Schlafentzug oder im Zusammenhang mit einer anderen schlafassoziierten Erkrankung.

Diagnostik

Grundlage für die Diagnose ist eine ausführliche Anamnese, die Beobachtungen eines Bettpartners einbeziehen sollte, da die Betroffenen selbst häufig eine Amnesie für die nächtlichen Aktivitäten haben. Die Fremdanamnese sollte den Zeitpunkt des Auftretens, die Beschreibung des Verhaltens, Art der Bewegungen, Stereotypie, Interaktionfähigkeit, Erweckbarkeit etc. beinhalten. Die „Polysomnographie“ mit zeitsynchroner Videoaufzeichnung dient der Zuordnung der nächtlichen Verhaltensauffälligkeiten zu dem assoziierten Schlafstadium. Zum sicheren Ausschluss einer epileptogenen Genese der nächtlichen Verhaltensauffälligkeiten sollte die Polysomnographie mit erweiterter EEG-Montage erfolgen.

Differentialdiagnostik

Zu differenzieren ist das Schlafwandeln von anderen Parasomnien wie der REM-Schlaf-Verhaltensstörung, schlafassoziierten epileptischen Anfällen, schlafassoziierten dissoziativen Störungen sowie Verhaltensauffälligkeiten, die im Zusammenhang mit Alkohol- oder anderem Substanzgebrauch stehen. Auch schlafbezogene Verhaltensauffälligkeiten, die durch eine nicht behandelte schlafbezogene Atmungsstörung vorgetäuscht werden können, müssen ausgeschlossen werden.
Siehe auch „Parasomnien“; „REM-Schlaf-Verhaltensstörung“; „Epilepsie“; „Schlafbezogene Atmungsstörungen“.

Therapie

Die Aufklärung der Betroffenen und der Bettpartner steht zunächst im Vordergrund der Behandlung. Dazu gehört auch die Aufklärung über schlafhygienische Maßnahmen, wie das Einhalten regelmäßiger, wenn möglich fester Bettliegezeiten, das Vermeiden von Schlafdeprivation und ein adäquates Stressmanagement, gegebenenfalls durch das Erlernen von Entspannungstechniken. In Schlaflaborstudien konnte gezeigt werden, dass Schlafdeprivation zu einem 2,5- bis 5-fachen Anstieg parasomnischer Ereignisse führte. Zudem ist es erforderlich, für eine sichere Bettumgebung zu sorgen. Dazu gehören das Entfernen potenziell verletzungsgefährdender Gegenstände aus der Schlafumgebung, das Abpolstern scharfer Ecken und Kanten und, wenn erforderlich, sogar das Anbringen abschließbarer Fenster und das Abschließen von Türen. Triggerfaktoren, wie schlafbezogene Atmungs- und Bewegungsstörungen, sollten durch eine adäquate Therapie ausgeschaltet werden.
Wenn es trotz der oben genannter Maßnahmen zu keiner relevanten Besserung und zu einer relevanten Einschränkung durch die NREM-Parasomnie kommt, sollte eine spezifische Therapie begonnen werden:
  • Hypnose inklusive Selbsthypnose, die sowohl bei Kindern als auch Erwachsenen Effekte zeigte.
  • Verhaltensinterventionen, wie das antizipierte oder das geplante Erwachen; Letzteres kommt durch Erwecken ca. 15 Minuten vor dem erwarteten Zeitpunkt eines parasomnischen Ereignisses zur Anwendung, vor allem bei Kindern mit regelmäßigen Bettliegezeiten effektiv.
  • Die medikamentöse Therapie, für die aber bisher keine größeren randomisierten klinischen Studien vorliegen, sollte den schweren, den Patienten und/oder Bettpartner gefährdenden, stark schlaffragmentierenden Fällen vorbehalten bleiben. Dazu gehören vor allem Benzodiazepine (Clonazepam, Diazepam), die neben einer Suppression von Tiefschlaf zu einer Reduktion von Weckreaktionen und Angst führen, oft aber nicht ausreichen, um parasomnische Ereignisse vollständig zu verhindern. In Einzelfällen wurden Effekte von Carbamazepin auf die Frequenz von NREM-Parasomnien zuzuordnenden nächtlichen Ereignissen gezeigt, auch Melatonin zeigte sich in Einzelfällen wirksam.

Psychosoziale Bedeutung

Durch das potenzielle Verletzungsrisiko des Schlafwandelnden oder dessen Bettpartners ergeben sich häufig relevante psychosoziale Konsequenzen. Zudem führt die NREM-Parasomnie nicht selten zu einem nicht erholsamen Nachtschlaf mit konsekutiver Tagesschläfrigkeit.

Zusammenfassung

Das Schlafwandeln gehört unter den Parasomnien in die Gruppe der NREM-Parasomnien oder Arousalstörungen. Es wird meist durch ein Verwirrtes Erwachen („confusional arousal“) eingeleitet und führt definitionsgemäß zu einem Verlassen des Bettes während der Episode. Meist besteht eine Amnesie für das nächtliche Verhalten. Schlafwandeln wird bei Kindern häufig beobachtet und verschwindet bis zum jungen Erwachsenenalter meist vollständig. Nur in seltenen Fällen tritt es im Erwachsenenalter erstmals oder wieder auf, dies häufig im Zusammenhang mit Stress oder Schlafdeprivation. Zur Diagnostik dient neben der ausführlichen spezifischen Anamnese die Durchführung einer Polysomnographie zum Ausschluss einer epileptogenen Genese des nächtlichen Verhaltens mit erweiterter EEG-Montage. Eine Behandlung ist indiziert, wenn das nächtliche Verhalten zu Konsequenzen für den Bettpartner (Verletzungen) oder den Betroffenen (Verletzungen, nicht erholsamer Nachtschlaf, Tagesschläfrigkeit) führt. Im Vordergrund stehen Verhaltensmodifikation und gegebenenfalls Verhaltenstherapie. Für die medikamentöse Therapie stehen derzeit keine randomisierten Studien zur Verfügung. Eingesetzt werden vor allem Benzodiazepine.
Literatur
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