Einleitung: Die „Verkörperung“ von Männlichkeit
„
Wann ist ein Mann ein Mann“ (Grönemeyer,
1984)? Die Antwort auf die Frage nach dem vorherrschenden Konzept von Männlichkeit in der westlich geprägten Kultur hat gegen Ende des 20. Jahrhunderts einen deutlichen Wandel erfahren. Cineastisch interessierte Lesende mögen sich zur Veranschaulichung kurz an bekannte Darsteller des Actionfilms vor 1980 erinnern: Yul Brynner in
Die glorreichen Sieben (1960) etwa, Steve McQueen in
Bullitt (1968) oder Clint Eastwood in
Dirty Harry (1971), um nur einige zu nennen. Abgesehen von der Ausübung instrumenteller
Aggression erscheint Männlichkeit hier überwiegend durch
innere Eigenschaften wie Wertorientierung oder „Coolness“ bestimmt gewesen zu sein. Dies änderte sich deutlich, als eine neue Generation sogenannter „Hardbody“-Darsteller Erfolge feierte, deren Protagonisten (Arnold Schwarzenegger: z. B.
Terminator, 1984; Sylvester Stallone: z. B.
Rambo, 1982) einen Grad an Muskulosität salonfähig machten, der zuvor höchstens in der Nische des sogenannten Sandalenfilms gesehen worden war (z. B. in
Die unglaublichen Abenteuer des Herkules mit Steve Reeves, 1958). Eine Analyse von Actionfilmen zwischen 1980 und 2006 zeigte außerdem, dass muskulöse Männer als romantisch und sexuell erfolgreicher dargestellt wurden als weniger muskulöse (Morrison & Halton,
2009, S. 57–74). Zugleich wurden Männerkörper im Film während der 1980er-Jahre in einer Weise zum Objekt der Betrachtung gemacht (z. B. durch Nacktheit und Nahaufnahmen), wie dies zuvor nur Frauenkörpern widerfahren war (Ayers,
2008, S. 41–67). Eine überdurchschnittlich entwickelte, sichtbare Muskulatur wurde so zur Verkörperung von Erfolg und Maskulinität (Mishkind, Rodin, Silberstein, & Striegel-Moore,
1986, S. 545–562). Ein Blick auf die Darsteller des gegenwärtig so erfolgreichen Superheldenkinos (z. B.
Avengers-Filme) lassen trotz des Niedergangs des Hardbody-Genres Zweifel aufkommen, dass sich dieser Trend abgeschwächt hat – auch wenn aktuelle Inhaltsanalysen in diesem Bereich fehlen, scheint definierte Muskulosität im Actionkino heute eher der Normalfall zu sein (vgl. Ricciardelli, Clow, & White,
2010, S. 64–78).
Über diese eher anekdotischen Hinweise hinaus untermauern viele Studien eine Veränderung der Art und Rolle dargestellter Männerkörper. So nahm die Häufigkeit von Fotos leicht bekleideter Männer in Zeitschriften während der 1980er-Jahre deutlich zu (Pope Jr., Olivardia, Borowiecki, & Cohane,
2001, S. 189–192). Die fotografierten Modelle wurden muskulöser bei sinkendem Körperfettanteil (Labre,
2005, S. 187–200; Leit, Pope Jr., & Gray,
2001, S. 90–93) und sogar Spielzeug-Actionfiguren wurden hypermuskulös (Pope Jr., Olivardia, Gruber, & Borowiecki,
1999, S. 65–72). Im Fernsehen „kämpfen“ bis heute WWE-Wrestler für ein überwiegend männliches Publikum, die üblicherweise 110 bis 130 kg auf die Waage bringen (Soulliere & Blair,
2006, S. 268–286).
Über die Ursachen dieser „Muskularisierung“ popkultureller Produkte kann nur spekuliert werden. Hier werden im Wesentlichen drei Faktoren diskutiert: Ein erster Erklärungsansatz sieht die Ursache im politischen und ökonomischen Kontext der 1970er-Jahre. Die USA kamen 1973 aus dem verlorenen Vietnamkrieg, 1979 begann die sowjetische Intervention in Afghanistan. Zusätzlich verdüsterte sich die wirtschaftliche Situation der westlichen Industrieländer bzw. ihrer Verbraucher (Stagflation, Ölpreisschock). Die Verknüpfung von Maskulinität mit Muskulosität und
Aggression wäre aus dieser Sicht eine Art nationale Traumabewältigung (Jeffords,
1993, S. 245–262; Mishkind et al.,
1986, S. 545–562). Eine unterhaltsame Darstellung dieser Ansicht bietet der Film
Bigger, Stronger, Faster (Bell, Buono, Czarnecki, Engfehr, & Rawady,
2008).
In die gleiche Richtung geht ein zweiter Erklärungsansatz, der als „Compensatory Masculinity“-, „Threatened Masculinity“- und „Precarious Manhood“-Hypothese bezeichnet worden ist (Babl,
1979, S. 252–257; Mills & D’Alfonso,
2007, S. 505–518; Vandello, Bosson, Cohen, Burnaford, & Weaver,
2008, S. 1325–1339). Die Grundidee ist, dass Männer auf Bedrohungen ihrer männlichen Geschlechtsrolle mit einer Akzentuierung stereotyp maskuliner Verhaltensweisen oder Eigenschaften – etwa mit verstärkter Aggressivität oder einer Betonung körperlicher Stärke – reagieren. Hierfür existieren vereinzelte empirische Belege (z. B. Frederick et al.,
2017, S. 156–165; Vandello & Bosson,
2013, S. 101–113). Aus dieser Perspektive wird der emanzipatorische Abbau der traditionellen Geschlechterrollen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (mit dem Mann als Hauptversorger der Familie) als eine Bedrohung der Männlichkeit interpretiert, derer sich Männer erwehren, indem sie einen Grad an Muskulatur und Kraft anstreben, der von Frauen aufgrund des niedrigeren Testosteronspiegels im Mittel nicht erreicht werden kann (Janssen, Heymsfield, Wang, & Ross,
2000, S. 81–88; Lassek & Gaulin,
2009, S. 322–328). Tatsächlich finden sich positive Zusammenhänge zwischen dem Streben nach Muskulosität und konservativen Einstellungen bezüglich der männlichen Geschlechtsrolle (z. B. Saucier, O’Dea, & Stratmoen,
2018, S. 547–559; Steinfeldt, Gilchrist, Halterman, Gomory, & Steinfeldt,
2011, S. 324–338; Swami et al.,
2013, S. 653–656). Darüber hinaus fanden jeweils zwei Studien negative Zusammenhänge zwischen Neurotizismus und Körperkraft sowie positive zwischen Neurotizismus und Muskulositätsstreben, was eine gewisse psychische Kompensationsfunktion von Muskulatur zumindest plausibel erscheinen lässt (Benford & Swami,
2014, S. 454–457; Davis, Karvinen, & McCreary,
2005, S. 349–359; Fink, Weege, Pham, & Shackelford,
2016, S. 175–177; Tolea et al.,
2012, S. 264–270).
Und drittens muss die im betrachteten Zeitraum gestiegene Verbreitung und Verfügbarkeit anabol-androgener Steroide in Rechnung gestellt werden (AAS; d. h. Verwandte des Geschlechtshormons
Testosteron, die oral bzw. intramuskulär verabreicht werden). Obwohl synthetische AAS in unphysiologisch hohen Dosen bereits seit den 1950er-Jahren zunächst im Leistungssport (v. a. Gewichtheben) und wenig später im kompetitiven Bodybuilding eingesetzt wurden, verbreiteten sie sich erst in den 1980er- und 1990er-Jahren im Hobbytraining (Kanayama & Pope,
2018, S. 4–13). Im Zusammenwirken mit Muskeltraining erleichtern und beschleunigen AAS deutlich den Aufbau von Muskulatur und Kraft (Hartgens & Kuipers,
2004, S. 513–554) und ermöglichen ein anderweitig kaum erreichbares Ausmaß fettfreier Körpermasse (Kouri, Pope Jr., Katz, & Oliva,
1995, S. 223–228). Viele Anwender berichten entsprechend, AAS hätten ihnen geholfen, ihr Körperideal zu erreichen (Wright, Grogan, & Hunter,
2000, S. 566–571). Die Schattenseite sind unerwünschte körperliche und psychische Wirkungen (z. B.
Akne, Leberschäden, Herzerkrankungen, Aggressivität; Frati, Busardò, Cipolloni, De Dominicis, & Fineschi,
2015, S. 146–159). Obwohl sich die Erforschung der AAS-Verwendung aufgrund der potenziellen Illegalität (gemäß Arzneimittel- oder Anti-Doping-Gesetz) schwierig gestaltet, kommen verschiedene Umfragen zu dem Ergebnis, dass bis zu 5 % der männlichen Bevölkerung AAS verwendet. Unter Bodybuildern, Lesern von Bodybuilding-Magazinen und allgemein in Fitnessstudio-Stichproben liegt die
Prävalenz deutlich höher, obwohl die Rücklaufquoten in Umfragen niedrig ausfallen (Sjöqvist, Garle, & Rane,
2008, S. 1872–1882; Tricker, O’Neill, & Cook,
1989, S. 313–325; Wright et al.,
2000, S. 566–571). Der Erwerb von AAS sowie der Bezug von Anleitungen ist über das Internet überdies denkbar einfach geworden (McBride, Carson, & Coward,
2018, S. 1352–1357). Entsprechend hat sich die Zahl der Zollermittlungen in den letzten Jahren vervielfacht (Grieß,
2015). Auch wenn dies nicht lückenlos empirisch belegbar ist, dürften AAS somit ihren Beitrag zur Ubiquität muskulöser Männerkörper in Filmen und sozialen Medien (Underwood,
2017, S. 78–85) beigetragen haben.
Dieser Trend scheint nicht spurlos am männlichen Körperideal vorübergegangen zu sein: Bittet man Männer, ihren tatsächlichen und ihren idealen Körper auf Figurskalen auszuwählen, so zeigt sich, dass sie Idealkörper wählen, die mehrere Kilogramm reine Muskelmasse mehr aufweisen als sie selbst, dabei aber einen geringeren Körperfettanteil (z. B. Olivardia, Pope Jr., Borowiecki III, & Cohane,
2004, S. 112–120). Fragt man normalgewichtige, trainierende Männer nach ihrem Idealgewicht, so erhält man das gleiche Resultat (ca. +4 kg bei Waldorf, Cordes, Vocks, & McCreary,
2014, S. 140–152). Allerdings wünschen sich die meisten Männer einen athletisch-muskulösen Körper und weniger einen hypermuskulösen Bodybuilder-Körper (Ridgeway & Tylka,
2005, S. 209–220). Bilder von Bodybuildern des sogenannten „Silbernen Zeitalters“ der 1940er- und 1950er-Jahre (z. B. Vince Gironda, Steve Reeves) vermitteln einen guten Eindruck dieses Ideals.
Es lässt sich also eine gewachsene Präsenz muskulöser Männerkörper in Kulturprodukten seit 1980 konstatieren. Dieser Trend kann sowohl historisch-soziokulturell als auch psychologisch (im Sinne einer Kompensationshypothese) und technologisch-ökonomisch (durch die gestiegene Verfügbarkeit und Applikation von AAS) erklärt werden. Der männliche Idealkörper weist eine große Muskelmasse bei geringem Körperfettanteil auf. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden betrachtet werden, wie es um die Körperzufriedenheit von Männern in Bezug auf ihre Muskulatur bestellt ist.
Muskulaturbezogene Körperzufriedenheit bei Männern
Zweifellos trainieren Männer (und Frauen) ihre Muskulatur häufiger als vor dem oben diskutierten Zeitraum: So hat sich die Anzahl der Fitnessstudios in Deutschland allein zwischen 1980 und 2000 versechsfacht (Müller-Platz, Boos, & Müller,
2006), ein Trend, der sich bis heute fortsetzt (Deutscher Sportstudio-Verband & Deloitte,
2019). Weit weniger eindeutig sieht die Empirie zu Muskelzufriedenheit aus, deren Erforschung erst seit der Jahrtausendwende Fahrt aufgenommen hat (v. a. mit der einflussreichen Arbeit von McCreary & Sasse,
2000, S. 297–304; zuvor finden sich nur vereinzelte Publikationen zum Körperideal: Mishkind et al.,
1986, S. 545–562; Salusso-Deonier, Markee, & Pedersen,
1993, S. 1155–1167). Ob die Muskulaturzufriedenheit von Männern also vor einigen Jahrzehnten tatsächlich höher ausfiel als heute, lässt sich nicht beantworten, da die Beobachtungszeiträume zu kurz sind. In der bislang einzigen
Metaanalyse an längsschnittlichen Daten zum Muskulositätsstreben (d. h. Wunsch nach größerer Muskelmasse und entsprechendes Verhalten: McCreary & Sasse,
2000, S. 297–304) konnte nur der Zeitraum seit der Jahrtausendwende betrachtet werden. Zwar fiel das Muskulositätsstreben der überwiegend jungen Männer mit großem Effekt (
d = 1,72) höher aus als das der Frauen, stieg allerdings nicht signifikant an (Karazsia, Murnen, & Tylka,
2017, S. 293–320). Es muss also offenbleiben, ob sich Muskulositätsstreben von Männern nach 2000 auf einem erhöhten Niveau stabilisiert hat.
Betrachtet man die Ergebnisse großer Umfragen, so findet man dennoch einen nicht zu vernachlässigenden Anteil muskulaturunzufriedener Männer: So fanden Fallon, Harris und Johnson (
2014, S. 151–158) in einer Onlineumfrage unter 647 Männern heraus, dass ca. 23 % unzufrieden mit ihrer Muskulatur waren (und 3 % sehr unzufrieden). In einer noch größeren Gesamtstichprobe von 116.356 Männern gaben 19 % Prozent der heterosexuellen und 33 % der homosexuellen, normalgewichtigen Männer an, unzufrieden mit ihrer Muskulatur zu sein. Da in großen Umfragen häufig globale Ein-Item-Messungen erfolgen, lässt sich der Fokus der Unzufriedenheit (d. h. Masse, Form und/oder Sichtbarkeit [„Definition“] der Skelettmuskulatur; spezifische Körperbereiche) nicht weiter eingrenzen. Es ist allerdings aus kleineren, z. T. qualitativen Arbeiten bekannt, dass Männer (zusätzlich zu ihrem Bauch) Bereiche des Oberkörpers mit „maskuliner“, Körperkraft signalisierender Muskulatur, d. h. Brust, Oberarme und Schultern, wichtig finden (McNeill & Firman,
2014, S. 136–143; Ridgeway & Tylka,
2005, S. 209–220). Interessanterweise scheinen nicht-adipöse Männer ein ambivalentes Verhältnis zum Körpergewicht zu haben, da in ihm Körperfettanteil (hohes Gewicht = negative Valenz) und Muskelmasse (hohes Gewicht = positive Valenz) konfundiert sind. Einerseits bezeichnen auch normalgewichtige Männer ihren Bauch häufig als „Problemzone“ (Cordes, Vocks, Düsing, Bauer, & Waldorf,
2016, S. 243–254). Andererseits wiesen in einer Onlineumfrage unter 52.677 heterosexuellen Erwachsenen die Männer durchgängig positivere Attraktivitätsselbsteinschätzungen auf als Frauen derselben Gewichtsklasse – außer in den Gruppen mit einem BMI unter 22, in denen es entweder keine Unterschiede gab oder sich die Frauen sogar positiver einschätzten (Frederick, Peplau, & Lever,
2006, S. 413–419). Fast 40 % der schlanken, nicht untergewichtigen Männer hielten sich entsprechend für „zu dünn“ (Frauen: 2 %).
Etwa ein Fünftel bis ein Drittel der Männer berichtet, unzufrieden mit ihrer Muskulatur zu sein, allerdings scheint das mittlere Ausmaß an Muskulositätsstreben seit dem Jahr 2000 stabil geblieben zu sein. Es gibt eine kleine Gruppe sehr muskulaturunzufriedener Männer. Im Folgenden soll auf das Störungsbild der Muskeldysmorphie als pathologisch übersteigerte Form einer entsprechenden Unzufriedenheit eingegangen werden.