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Handbuch Klinische Psychologie
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Publiziert am: 08.05.2019 Bitte beachten Sie v.a. beim therapeutischen Vorgehen das Erscheinungsdatum des Beitrags.

Rechenstörung

Verfasst von: Lars Tischler und Marc Schipper
Die Rechenstörung stellt eine Neuroentwicklungsstörung mit Beginn in der frühen Kindheit dar, die sich erst nach Einsetzen der Beschulung als eine umgrenzte Beeinträchtigung im Erwerb der Rechenfertigkeiten manifestiert. Als Kerndefizit gilt eine Beeinträchtigung in der größen- und relationsbezogenen Informationsverarbeitung. Es bestehen genetische und entwicklungsbiologische Ursachen, moderiert etwa von umweltbezogenen, emotionalen und motivationalen Einflussgrößen. Eine Diagnose als originäre Rechenstörung erweist sich als schwierig, eine Intervention gegebenenfalls als vielschichtig.

Einleitung

Es besteht aktuell keine einheitliche funktionale Definition der entwicklungsbezogenen Rechenstörung (developmental dyscalculia; Karagiannakis, Baccaglini-Frank, & Papdatos, 2014; Kosc, 1974; Szücs & Goswami, 2013, S. 33). Die für die Beeinträchtigungen im Rechenerwerb verwendeten Begriffe sind ungenügend definiert und nicht klar voneinander abgrenzbar. Dies führt zu Uneinheitlichkeit sowohl in der Forschung als auch in Diagnostik und Therapie von Rechenschwierigkeiten (Landerl & Kaufmann, 2008). Gemäß der Heterogenität des Störungsbildes kommen unterschiedliche selektions- und modifikationsdiagnostische Testverfahren zum Einsatz. Eine phänomenologisch ausgerichtete Definition bezieht sich auf eine Beeinträchtigung in a) kognitiven Repräsentationen (AMR [analoge Größenvorstellung] Zahlwort, Ziffer) und b) allgemeinpsychologischen Informationsverarbeitungsprozessen (Funktionen) sowie auf c) sekundäre Einflussgrößen wie emotionale, motivationale, Verhaltens- und zusätzlich auftretende Entwicklungsrückstände. Als hereditär-biologische Kernursache gilt eine Beeinträchtigung der Größenvorstellungen und Relationen. In der Folge manifestiert sich mit einsetzender Beschulung eine erwartungswidrige Minderleistung im Rechenerwerb, die nicht auf eine unangemessene Beschulung (z55.8 ICD-10), erworbene Hirnschädigung, Seh- und Hörstörungen oder etwaige psychosoziale Widrigkeiten zurückzuführen ist.

Klassifikation der Rechenstörung

Die Rechenstörung (F81.2 ICD-10) wird gemäß ICD-10 als Umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten (UESF) den Entwicklungsstörungen zugeordnet. Wie etwa auch die Lese- und Rechtschreibstörung (F81.0 ICD-10), die Umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache (F80.- ICD-10) oder der motorischen Funktionen (F82.- ICD-10) zeichnet sie sich aus durch a) einen „Beginn ausnahmslos im Kleinkindalter oder in der Kindheit [… , b)] eine Entwicklungseinschränkung oder -verzögerung von Funktionen, die eng mit der biologischen Reifung des zentralen Nervensystems verknüpft sind [… sowie durch c) einen] stetigen Verlauf ohne Remissionen und Rezidive“ (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information [DIMDI], 2019). Sie kann allein oder in Kombination mit einer Lese- und Rechtschreibstörung oder einer isolierten Rechtschreibstörung auftreten (Kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten, F81.3 ICD-10).
Das DSM-5 (American Psychiatric Association [APA], 2013) ordnet die Rechenstörung als specific learning disorder 315.1 „with impairment in mathematics“ (APA, 2013, S. 67) den Neuroentwicklungsstörungen (neurodevelopmental disorders [NDD]) zu. Für die ICD-11 ist eine dem DSM-5 entsprechende Klassifikation als Neuroentwicklungsstörung und Developmental learning disorder (World Health Organization [WHO], 2018) vorgesehen. Die Diagnose Kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten entfällt zugunsten einer individuellen Kodierung der einzelnen Domänen Lesen, Schreiben und Rechnen.
Mit Einsetzen der Beschulung manifestieren sich die bereits bestehenden spezifischen Defizite in der effizienten und akkuraten Perzeption und Prozessierung von Information als schulische Beeinträchtigung (APA, 2013, S. 31−32). Somit liegt der Ursprung der Rechenstörung wie auch der anderen Spezifizierungen von NDD in einer hereditär-biologisch bedingten Beeinträchtigung von Kognitionen (Informationsverarbeitungsprozesse/Fähigkeiten), die sich wiederum in entsprechenden Defiziten im Rechenerwerb zeigt (dreifache Kausalität von Biologie/Genetik, Kognition und Symptom unter moderierendem Einfluss von Umweltbedingungen (Morton, 2004). Zwar werden die neurologischen Grundlagen der unterschiedlichen NDD immer besser verstanden, doch stehen bisher keine ursachenspezifischen Diagnose- und Fördermöglichkeiten zur Verfügung (Konrad & Schulte-Körne, 2016, S. 330).

Symptomatik, Prävalenz und Verlauf der Rechenstörung

Die Symptomatik der Rechenstörung besteht in einer umschriebenen Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten. Betroffen sind insbesondere „die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten [Arithmetik], wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differenzial- und Integralrechnung benötigt werden“ (DIMDI, 2019). Da die Entwicklung der zugrunde liegenden Informationsverarbeitungsprozesse (Kognitionen/Funktionen) individuell verschieden ist und nicht immer geradlinig verläuft, variiert die Rechenleistung von Schülerinnen und Schülern gerade im Kindesalter beträchtlich. Zu dem Entwicklungsaspekt tritt die Beschulung, so dass etwa eine Minderleistung in der dritten Klasse für die zweite Jahrgangstufe eine angemessene Leistung darstellen kann.
Das regelgeleitete Prozessieren von Größenvorstellungen ist sämtlich betroffen. Dies umfasst sowohl den Erwerb der Zahlwortsequenz, Zählfertigkeiten, des Stellenwertsystems und die Speicherung von Faktenwissen (Einmaleins) als auch die basalen Fähigkeiten zum Erfassen von Größen und das entsprechende Verständnis von Relationen als Grundlage mathematischer Konzepte (Zahlensemantik, Konzeptwissen; viel – wenig, mehr – weniger, Teil-Ganzes-Beziehungen) und deren regelgeleitete Anwendung in Rechenaufgaben (Prozedurales Wissen) mit diskreten Zahlen und Mengen: Mangelndes Zahlwissen und Zählverständnis wird ergänzt durch ungenügendes Wissen und fehlendes Verständnis von Rechenoperationen und deren zielführender Anwendung (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie [DGKJP], Bundesarbeitsgemeinschaft Leitender Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, & Berufsverband der Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 2000, S. 199).
Die Defizite in Wissen, Verständnis und Anwendung lassen sich mit Bezug auf das Triple-Code-Modell [TCM] von Dehaene (1992; dreifache Repräsentation der Zahl als Vorstellung, Zahlwort und Ziffer) strukturieren in a) Zahlensemantik (Größen- und Mengenvorstellungen, Relationen und Proportionen), b) sprachliche Zahlenverarbeitung (Speicherung von Faktenwissen/Einmaleins, Zahlwortsequenz, Zählfertigkeit) sowie c) symbolische Repräsentation (arabische Notation/Ziffern, Stellenwertsystem). Es sind weiters betroffen Transkodierungsleistungen (zwei = •• = 2), kognitive Operationen (Anwendung; mathematical reasoning) sowie die grundsätzliche Kapazität der hierzu notwendigen Informationsverarbeitungsprozesse (etwa Arbeitsgedächtnisleistung und Exekutivfunktionen).
Demgemäß besteht eine Rechenstörung keineswegs allein in einer beeinträchtigten Rechenfertigkeit, sondern bereits in einem Defizit der diesen zugrunde liegenden Fähigkeiten beziehungsweise Informationsverarbeitungsprozessen/Funktionen (etwa Aufmerksamkeit, Gedächtnis Arbeitsgedächtnis, visuelle Informationsverarbeitung, logisches Denken; Flanagan, Alfonso, & Mascolo, 2011, S. 155 ff.; Renner & Mickley, 2015, S. 73). Erst in der Folge kommt es zu Beeinträchtigungen im Umgang sowohl mit kontinuierlichen Größen als auch diskreten Mengen (Landerl, Bevan, & Butterworth, 2004; Reigosa-Crepo et al., 2012); dies betrifft das Verständnis von Größen, Mengen und deren Relationen und Proportionen, die Zuordnung zu entsprechenden Zahlwörtern und die Verwendung der zugehörigen Ziffern (arabische Notation) sowie die darauf aufbauenden mathematischen Basiskompetenzen (Jacobs, Petermann, & Tischler, 2013, S. 188) wie etwa Mengenschätzen und Abzählen. Gemeinsam mit der Rechenstörung treten gemäß ihrem Entwicklungsbezug häufig andere Entwicklungsrückstände beziehungsweise Neuroentwicklungsstörungen auf (DSM-5; APA, 2013, S. 41 ff.).
Die Prävalenz der Rechenstörung beträgt sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen etwa 3–6 % (Shalev, 2004, S. 766), die Prävalenz im Erwachsenenalter erweist sich als unbekannt, wird jedoch auf etwa 4 % geschätzt (APA, 2013, S. 70). Schwankungen in den Prävalenzangaben, auch nach Geschlecht, sind womöglich auf unterschiedliche Diagnosekriterien zurückzuführen (etwa Verwendung von für die klinische Praxis ungeeigneten Forschungskriterien, unterschiedlichen Diskrepanzkriterien oder aufgrund ungenügender Unterscheidbarkeit von emotionalen und motivationalen Einflüssen; Devine, Soltész, Nobes, Goswami, & Szücs, 2013; Moll, Kunze, Neuhoff, Bruder, & Schulte-Körne, 2014).
Der Verlauf der Rechenstörung erweist sich als stetig, ohne Remissionen und Rezidive. Minderleistungen bleiben regelmäßig bis in das Erwachsenenalter hinein bestehen, schwächen sich jedoch ab. Die individuelle Bedeutung der Störung variiert je nach schulischem und beruflichem Werdegang, bleibt jedoch aufgrund des Wesens der Rechenfertigkeit als Kulturtechnik dauerhaft bestimmend für die Interaktion mit der Umwelt.
Erste Hinweise auf Entwicklungsrückstände (Beeinträchtigungen in Sprache, Motorik und visueller Wahrnehmung) finden sich regelmäßig bereits bei den Früherkennungsuntersuchungen, dokumentiert im sogenannten Kinderuntersuchungsheft (U-Heft; Gemeinsamer Bundesausschuss, 2017), sukzessive in konsiliarärztlichen und Entwicklungsberichten aus Kindergarten und Schule. Dies deckt sich mit neurologischen Erkenntnissen zu angeborenen Beeinträchtigungen in der Prozessierung von Größen und Relationen.
Hinzu treten in der Entwicklung weitere, vermutlich ebenfalls genetisch bedingte, funktionale Defizite, die den Rechenerwerb negativ beeinflussen. Dies sind Beeinträchtigungen in kapazitätslimitierten Informationsverarbeitungsressourcen und -prozessen wie Gedächtnis (Zahlwortsequenz, Zahl-, Konzept- und Regelwissen), Arbeitsgedächtnis (Kopfrechenleistung und phonological loop; Baddeley, 1992) und visuelle Informationsverarbeitung (auch in Bezug auf das visualspatial sketchpad: Baddeley, 1992; Simms et al., 2015).
Weitere Moderatorvariablen stellen emotionale und Verhaltensstörungen dar, wie etwa eine spezifische Mathematikangst (mathematics anxiety; Carey, Hill, Devine, & Szücs, 2015). Auch bei motivationalen Beeinträchtigungen, die sich selbstverständlich auf die Leistungsbereitschaft und die Informationsverarbeitung auswirken, handelt es sich keinesfalls um originäre Aspekte der Rechenstörung im Sinne einer Entwicklungsstörung. Dennoch kann zum Zeitpunkt einer Diagnosestellung kaum ausgeschlossen werden, dass die Bedeutung solcher, durch die Umwelt moderierter, Einflüsse auf den Rechenerwerb unentdeckt bleibt – die Minderleistung also auch bei familiärer Häufung nicht ausschließlich genetisch determiniert ist.

Ursachen der Rechenstörung

Wie bei der Lese- und Rechtschreibstörung wird maßgebend für die Ausbildung einer Rechenstörung eine dreigliedrige Kausalität aus Biologie/Genetik, Kognition und manifestem Symptom unter Einbezug moderierender Umwelteinflüsse angenommen (Morton, 2004). Zum Erwerb der mathematischen Basiskompetenzen (Abzählen, Vergleichen und Schätzen diskreter Mengen) muss die zu erlernende Zahlwortsequenz (Symbole) mit den angeborenen exakten (Numerosität; Butterworth, 2010) oder approximativen (AMR; Carey, 2009; Dehaene, 1997) Größenvorstellungen in eine regelgemäße Beziehung gesetzt werden. Der Ordinalaspekt der Zahl (Größenvergleiche, Relationen und Proportionen) wird dabei ergänzt um den sogenannten Kardinalaspekt: Die Größe einer Menge ist definiert als der letzte einer Reihe von Zählschritten (abzählen) und repräsentiert durch das entsprechende Zahlwort in der zu erlernenden Zahlwortsequenz. Das Hinzufügen/Hinfortnehmen exakt eines Objekts einer Menge entspricht dabei dem Vorwärts-/Rückwärtsgehen exakt eines Schrittes in der Zahlwortsequenz. Dieser Schritt kann von dyskalkulen Personen nur bedingt nachvollzogen werden.
Als ursächlich für die Entstehung einer Rechenstörung gilt eine Beeinträchtigung von Funktionen (Informationsverarbeitungsprozessen), die eng mit der biologischen Reifung des zentralen Nervensystems verbunden sind. Diese beziehen sich als Kerndefizit der Rechenstörung auf präverbale, nicht-symbolische Repräsentationen von Größen. Uneinigkeit besteht hinsichtlich der Natur dieser grundlegenden, angeborenen Kapazität. Die Defective Number-Module-Hypothese (Butterworth, 2005) vermutet Schwierigkeiten in der Verarbeitung exakter Repräsentationen (exakte Fünfheit, exakte Sechsheit) von Numerositäten (numerosity; „innate specific capacity for acquiring arithmetic skills“, Butterworth, 2005, S. 3) in sogenannten Sets. Hingegen nimmt die Deficient-Approximate-Number-System(ANS)-Hypothese (Mazzocco, Feigenson, & Halberda, 2011) die beeinträchtigte Prozessierung näherungsweiser Repräsentationen (analogue magnitude representation, AMR) an (parallel individuation- und numerical magnitude-system; Feigenson, Deaene, & Spelke, 2004). Weiters geht die Access-Deficit-Hypothese (Rousselle & Noël, 2007) von einem Defizit in der Verknüpfung zwischen Repräsentation und Symbol aus.
Die AMR erweisen sich als genetisch determiniert (Gallistel & Gelman, 1992) und bilden die Grundlage für eine reziproke Ausbildung der weiteren Module im TCM (Dehaene, 1992). Aufgrund ihrer phylo- und ontogenetisch früh angelegten Bedeutung für das Erfassen von Relationen und Proportionen (vgl. Webersches Gesetz) dienen die AMRs als Erklärungsansatz für die Zahlbegriffsentwicklung; sie begründen das Verständnis für den semantischen Gehalt der Zahl (Ordinalaspekt). Sie werden regelmäßig als mentaler Zahlenstrahl (Brannon, 2006; Dehaene, Bossini, & Giraux, 1993; Santens & Gevers, 2008) metaphorisiert. Neben (Mengen-)Schätzen und Größenvergleichen (auch bei Zahlenstrahlaufgaben) kann mit AMR auch die Fähigkeit zur sofortigen Mengenerfassung (Subitizing; Kaufman, Lord, Reese, & Volkmann, 1949) erklärt werden. Die Simultanerfassung und das Schätzen anhand angeborener AMR stellen damit das Komplement zum erlernten Zählen diskreter Mengen dar.

Neurologische Korrelate der Rechenstörung

Ausgehend von den drei Modulen des TCM (Dehaene, 1992) kann der Rechenerwerb entwicklungs- und lernerfahrungsbezogen mit unterschiedlichen Hirnregionen in Verbindung gebracht werden. Die wesentliche Rolle scheint − aufgabenübergreifend sowohl im Kindes- als auch im Erwachsenenalter − der rechte Sulcus intraparietalis (IPS; Ashkenazi, Black, Abrams, Hoeft, & Menon, 2013) zu spielen.
Da die Module des TCM (Größenvorstellung, Zahlwort und Ziffer) zwar als autonom betrachtet werden, sie dennoch über Transkodierungsprozesse miteinander verbunden sind, findet beim Rechnen eine Interaktion verschiedener Hirnregionen statt. Sie werden mit Bezug auf die Entwicklung des Zentralnervensystems und Lernerfahrungen unterschiedlich angesteuert, so dass es dabei bei Kindern und Erwachsenen zu unterschiedlichen neuronalen Aktivierungsmustern kommt.
Die AMR (magnitude code) zur Repräsentation, Schätzung und zum Vergleich von Größen sind beidseitig mit den Sulcus intraparietalis verbunden. Die Zahlwörter (verbal code; Auditory Verbal Word Frame, AVWF) zur verbalen Repräsentation (Zahlenwissen, exaktes Kopfrechnen, Zählprozeduren) sind angesiedelt in linken perisylvischen Arealen und im linken Gyrus angularis. Die arabische Notation (Ziffer) wird beidseitig in der okzipito-temporalen visuellen Hirnrinde prozessiert (visual code; Visual Arabic Number Frame, VANF; Peters, Smedt De, & Beeck Op de, 2015).
Ein Vier-Stufen-Modell (four-step developmental model of number acqusition; Aster von, & Shalev) stellt diese Ergebnisse in einen Entwicklungs- und schulischen Kontext vom Kleinkindalter (Subitizing, Mengenschätzen und -vergleichen) über die Vorschulzeit (Zählen, Erwerb von Zahlwissen) und die Schulzeit (schriftliches Rechnen) hin zur Ausbildung eines mentalen Zahlenstrahls (Überschlagsrechnungen, rechnerisches Denken). Dieses entwicklungsneuropsychologische Modell formuliert Befunde, die Veränderungen in den Aktivierungsmustern von IPS und frontalen Hirnbereichen (Kaufmann, Kucian, & Aster von, 2014) als durch den sukzessiven Erwerb von mathematischen Basiskompetenzen und Rechenfertigkeiten hervorgerufen zeigen. Solche Befunde sprechen für eine Beeinträchtigung des im TCM (Dehaene, 1992) postulierten AMR-Moduls, das nach aktueller neuropsychologischer Befundlage im IPS lokalisiert ist. Somit stellt aktuell eine im AMR-Modul generierte defizitäre AMR/Numerosität das aus neuropsychologischer Perspektive vermutete Kerndefizit der Dyskalkulie dar.

Diagnostik der Rechenstörung

Grundsätzlich ist bei der Verwendung verfügbarer Kriterien und Leitlinien zwischen den einerseits explizit für die Forschung (WHO, 1993) und andererseits für die klinische Praxis (WHO, 1992; DGKJP, Bundesarbeitsgemeinschaft Leitender Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und Berufsverband der Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 2007) konzipierten Vorgehensweisen zu unterscheiden. Die amtliche Ausgabe der ICD-10-GM (German modification; DIMDI, 2019) enthält als bloßes Klassifikationssystem selbst keine diagnostischen Kriterien.
Als ursächlich für die bestehenden Schwierigkeiten im Rechenerwerb müssen eine unangemessene Beschulung oder eine fehlende Möglichkeit zu lernen, Intelligenzminderung, erworbene Hirnschädigung (Unfall oder neurologische Erkrankung), sensorische Beeinträchtigungen wie Seh- und Hörstörungen, mangelndes Instruktionsverständnis oder etwaige psychosoziale Widrigkeiten (Motivation, Emotion) ausgeschlossen werden. Spezifische Funktionsdefizite stellen bisher keine diagnostizierbaren Störungen nach ICD-10 dar.
Da sowohl die Entwicklung (allgemeinpsychologischer) kognitiver Prozesse selbst als auch ihre Beanspruchung durch variierende Lehrinhalte fortwährender Veränderung unterworfen sind, erweist sich eine sichere Diagnose im Sinne einer persistierenden kognitiven Beeinträchtigung (Szücs & Goswami, 2013, S. 35) als schwierig. Dies bezieht sich ebenso auf die wenig offensichtliche Rolle etwa der Lern- und Merkfähigkeit oder metakognitiver Strategien bei aufeinander aufbauenden Lehrinhalten (Exekutivfunktionen; Drechsler, 2007; Pressley, Borkowski, & Schneider, 1987). So kann eine Minderleistung zwar als Rechenstörung imponieren, sich im Nachhinein jedoch als Aspekt einer grundlegenderen Lernstörung erweisen. Andererseits kann eine Rechenstörung gerade in den unteren Klassenstufen zunächst unerkannt bleiben, wenn durch bloßes Auswendiglernen des Einmaleins‘ (Entlastung des Arbeitsgedächtnisses) andere funktionale Beeinträchtigungen und Verständnisschwierigkeiten vorübergehend kompensiert werden können. Eine Unterscheidung im weitesten Sinne zwischen erworbenen kognitiven Beeinträchtigungen und genetisch determinierten Beeinträchtigungen angeborener Kapazitäten − etwa im Sinne einer Subtypenbildung − erweist sich als klinisch impraktikabel.
Die Diagnostik von Rechenstörungen bezieht sich auf deren Wesen als erwartungswidrige Minderleistung. Dabei erweist sich die Rechenleistung zum einen als diskrepant von der Leistung, die aufgrund des Alters (Entwicklungsaspekt) oder der Klassenstufe (Beschulung) eigentlich zu erwarten wäre. Diese sozialrelativierende Abweichung (soziale Bezugsnorm) wird in Standardabweichungen (SD) gemessen und mit dem Mittelwert (T-Wert = 50) der Eichstichprobe eines alters- oder klassenstufennormierten Rechentests in Beziehung gesetzt. Hierbei handelt es sich um die sogenannte Bezugsgruppendiskrepanz.
Zum anderen erweist sich die Rechenleistung als diskrepant von der Leistung, die aufgrund der Intelligenz einer Person eigentlich zu erwarten wäre. Diese intraindividuelle Abweichung (ipsative Bezugsnorm) wird ebenfalls in SD als Diskrepanz zwischen Rechenleistung (T-Wert) und Intelligenzquotient (IQ) gemessen. Hierbei handelt es sich um die sogenannte IQ-Diskrepanz. Eine Intelligenzminderung (geistige Behinderung) sollte in jedem Fall als für die Minderleistung ursächlich ausgeschlossen werden. Die Intelligenz wird erfasst anhand von Intelligenzdiagnostika, „die dem betreffenden kulturellen Hintergrund und Schulsystem angemessen sind“ (Remschmidt, Schmidt, & Poustka, 2017, S. 354). Die Verwendung kulturrelativierender Diagnostika mit allein visuell-figuralem Stimulusmaterial empfiehlt sich keinesfalls, da bei Menschen mit Rechenstörung „die visuellräumlichen und Fähigkeiten der optischen Wahrnehmung eher beeinträchtigt sind“ (Remschmidt et al., 2017, S. 360 [aptitude-achievement consisistency]; vgl. Tischler & Tischler, 2015]). Das häufigste Ausschlusskriterium für die Diagnose Rechenstörung besteht gemäß den Forschungskriterien nach ICD-10 in einem IQ unter 70 in einem standardisierten Test (Dilling, Mombour, Schmidt, & Schulte-Markwort, 2016, S. 189). Ein Ausschlusskriterium „Nonverbaler [eigene Hervorhebung] IQ unter 70 in einem standardisierten Test“ (Remschmidt et al., 2017, S. 361) erweist sich entsprechend als nicht zielführend.
Erreichen beide Diskrepanzen eine bestimmte Größe, gilt das Doppelte Diskrepanzkriterium als erfüllt. Diese Vorgehensweise steht in Zusammenhang mit dem Legastheniekonzept von Maria Linder (1951). Es herrscht aktuell jedoch weder Einigkeit über die Größe noch über eine grundsätzliche Sinnhaftigkeit der Anwendung beider Diskrepanzen. Insbesondere die Anwendung des IQ-Diskrepanzkriteriums muss als disputabel gelten (Tischler, 2019), da für die gesellschaftlich-kulturelle Teilhabe (participation gemäß der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit [ICF]; DIMDI, 2005) die Abweichung vom Leistungsniveau der Bezugsgruppe entscheidend ist, nicht jedoch eine ipsative Leistungsheterogenität. Des Weiteren scheinen keine wesentlichen Unterschiede zwischen Minderleistern mit oder ohne erfülltes IQ-Diskrepanzkriterium zu bestehen (Jiménez González & Garcia Espínel, 1999). Das DSM-5 (APA, 2013) sieht wie auch die aktuelle S3-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften [DGKJP, 2018, S. 21] entsprechend kein IQ-Diskrepanzkriterium mehr vor (Bezug auf die Lese- und Rechtschreibstörung: DGKJP, 2015, S. 24 ff.). Eine Intelligenzdiagnostik erweist sich demnach als für eine Diagnosestellung nicht notwendig, jedoch als sinnvoll für eine Therapieplanung (Modifikationsdiagnostik; Pawlik, 1976). Dies hat Auswirkungen insbesondere für Schülerinnen und Schüler mit niedrigerem IQ, die das IQ-Diskrepanzkriterium nicht erfüllen, denn sie profitieren von (vormals aufgrund fehlender Diagnose womöglich verwehrter) Intervention, wie es auch Schülerinnen und Schüler mit höherem IQ tun.
Die besonders restriktiven und spezifischen Forschungskriterien nach ICD-10 (Dilling et al., 2016, S. 189; Freyberger, Dittmann, Stieglitz, & Dilling, 1990), die selbst nicht der amtlichen ICD-10-GM (German modification) zugehören, erweisen sich als für die klinische Praxis ungeeignet. Sie beinhalten die Verwendung sowohl des Bezugsgruppen- (chronologisches Alter − allerdings erweist sich der absolut überwiegende Teil verfügbarer Diagnostika abweichend als klassenstufennormiert) als auch des IQ-Diskrepanzkriteriums mit einer Diskrepanz von mindestens zwei SD. Die Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) schlägt in ihren klinisch-diagnostischen Leitlinien regelmäßig weniger strikte Kriterien vor (etwa IQ- und Bezugsgruppendiskrepanz [chronologisches Alter oder Klassenstufe] mindestens 1.2/1.0 Standardabweichungen; DGKJP et al., 2000, 2007, 2018).
Grundsätzlich lässt sich bei niedrigem IQ eine hohe IQ-Diskrepanz messtechnisch nicht mehr erreichen (DGKJP, Bundesarbeitsgemeinschaft Leitender Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und Berufsverband der Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 2003, S. 212), da entsprechende Schulleistungsdiagnostika unterhalb eines T-Wertes von beispielsweise 30 (≙ Prozentrang 2.28) kaum mehr sinnvoll differenzieren. Weiters geht die Bestimmung der IQ-Diskrepanz bei festem Diskrepanzkriterium (Subtraktionsmethode) von einer Korrelation zwischen Intelligenz und Rechenleistung r = 1 aus − über alle Intelligenzbereiche hinweg. Dies erweist sich mit Bezug auf statistische Regressionseffekte (Regression zur Mitte; Zwingmann & Wirtz, 2005) als eindeutig falsch, weshalb „Diagnosen auf der Grundlage von Subtraktionen des Leistungsalters vom Intelligenzalter [...] zwangsläufig erheblich irreführend“ (Remschmidt et al., 2017, S. 354) sind. Prinzipiell sollte daher − unter Verwendung von T-Wert-Bändern (Berücksichtigung von Messfehlern; Konfidenzintervall) − die zur Diagnosestellung einbezogene IQ-Diskrepanz sinken, je niedriger der IQ ausfällt (Tischler, 2019, S. 23).
Das DSM-5 sieht ein Bezugsgruppendiskrepanzkriterium von 1.5 Standardabweichungen vor, betont die Beliebigkeit bei der Festlegung spezifischer Diskrepanzen („to a large extent arbitrary“; APA, 2013, S. 69) sowie die Bedeutung und Notwendigkeit klinischer Urteilsbildung und Interpretation von Testwerten. Zudem wird die Benutzung nicht nur bezugsgruppenorientierter, sondern auch kriterienorientierter (bereits bei Glaser, 1963; Hammock, 1960) Schulleistungstests angeführt. Es werden vier zur Diagnosestellung erforderliche Kriterien genannt. Dies sind a) persistierende Lernschwierigkeiten mit b) Beginn der formalen Beschulung/in den ersten Schuljahren, eine c) für das Alter eindeutig unterdurchschnittliche Leistung sowie d) die eindeutige Begrenzung der Störung auf einen spezifischen Bereich (im Gegensatz etwa zu Intelligenzminderung oder globaler Entwicklungsverzögerung).
Eine qualitative Ausdifferenzierung − statt bloß quantitativer Berücksichtigung − der IQ-Diskrepanz zur Identifikation einer Rechenstörung kann anhand CHC-theoretisch fundierter (Flanagan & Dixon, 2013) Intelligenzdiagnostik erfolgen. Subtests (eines komplexen Intelligenzdiagnostikums), die rechenfertigkeitsbezogene Informationsverarbeitungsprozesse (aptitudes) beanspruchen, fallen demnach deutlich schlechter aus, als Subtests, die rechenunabhängige Funktionen (abilities) ansprechen. Das resultierende heterogene Intelligenzprofil beinhaltet dann eine sogenannte ability-achievement discrepancy bei gleichzeitiger aptitude-achievement consistency (Flanagan et al., 2011).
Diese Vorgehensweise bietet bereits Anhaltspunkte für die Ursachen der Minderleistung und damit für eine Therapieplanung. Dies bezieht sich ebenso auf die Verwendung komplexer Rechendiagnostika, die nicht nur quantitative (Selektionsdiagnostik), sondern auch qualitative (Modifikationsdiagnostik; Pawlik, 1976) Informationen zum Rechenerwerb liefern. Neben Aufgaben zu den vier Grundrechenarten (Roick, Gölitz, & Hasselhorn, 2011) sind hier Aufgaben zur Zahlbegriffsentwicklung und zu mathematischen Basiskompetenzen enthalten (Fritz, Ehlert, Ricken, & Balzer, 2017; Moser Opitz et al., 2010). Demgemäß empfiehlt etwa die AWMF (2000, 2003, 2007) die Verwendung von Zähl-, Transkodierungs- und Zahlenstrahlaufgaben sowie Aufgaben zur Menge-Zahlwort/Ziffer-Zuordnung, kontextuellen Mengeneinschätzungen und Größenvergleichen.

Behandlung der Rechenstörung

Aufgrund der Heterogenität des Störungsbildes im Zusammenspiel mit variierenden Anforderungen an unterschiedliche Informationsverarbeitungsprozesse zwischen Entwicklung und Beschulung einerseits und den zahlreichen begleitend auftretenden Beeinträchtigungen in Emotion, Motivation und Verhalten andererseits erweist sich die Behandlung von dyskalkulen Patientinnen und Patienten als komplex und uneinheitlich. Verschiedene Behandlungsformen greifen hier ineinander. Einbezogen sein können unterschiedliche, unspezifische Interventionsformen, distinkte störungsspezifische Inhalte sowie die Art der Instruktion. Dies können etwa ein individuell abgestimmtes Training defizitärer Informationsverarbeitungsprozesse (Lern- und Merkfähigkeit, Aufmerksamkeit, Exekutivfunktionen, Arbeitsgedächtnis u. a.), die lerntheoretisch fundierte Behandlung von Motivationsdefiziten und Denk- und Verhaltensroutinen (Attributionstraining, kognitive Umstrukturierung, Verhaltenstherapie) sowie Interventionen bei emotionalen Störungen (Angststörung, spezifische Phobie, Anpassungsstörung) sein.
Die eigentliche Rechenintervention muss dabei ebenfalls abgestimmt sein auf den aktuellen Lernstand. Sie richtet sich zudem, wie auch die verschiedenen Diagnostika, an unterschiedliche mathematikbezogene Inhalte, wie etwa Vorläuferfähigkeiten zu Zahlensemantik und Zählfertigkeiten, grundlegende arithmetische Fertigkeiten (Grundrechenarten) und mathematisches Problemlösen (Anwendungsbezug). Weiters lassen sich Unterscheidungen treffen nach Art der Instruktion, etwa direkte, computerassistierte oder Selbstinstruktion, kognitives Modellieren und strategische Instruktionen (Goldman, 1989).
Zum jetzigen Zeitpunkt besteht keine gesicherte Erkenntnis darüber, dass bestimmte Interventionen bei spezifischen mathematikbezogenen Schwierigkeiten einen Behandlungserfolg vorhersagen ließen (Dowker, 2009). Aktuelle Metaanalysen für Interventionen mit Bezug auf mathematische Basiskompetenzen und die Grundrechenarten lassen keine Interventionsform/theoretische Fundierung anderen überlegen erscheinen (Choudura, Kuhn, & Holling, 2015, S. 139). Dies bezieht sich sowohl auf computergestützte versus tutorielle als auch auf längerfristige versus kurzfristige Interventionen (Ise & Schulte-Körne, 2013). Grundsätzlich erscheinen Interventionen im Einzelsetting, die sich an grundlegende Aspekte des Rechenerwerbs richten, erfolgversprechend.
Der sogenannte Response-to-Intervention-Ansatz (RTI; Fuchs & Vaughn, 2012) stellt eine Besonderheit dar, da es sich um ein präventives Vorgehen handelt. Es finden Adaptionen an das Niveau möglicherweise von Dyskalkulie betroffener Schülerinnen und Schüler statt, sobald sich erste Defizite im Rechenerwerb zeigen. Somit steht die Intervention bereits vor einer späteren Diagnostik nach dem Wait-to-fail-Prinzip.
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