Prinzipien primärer und sekundärer Eingriffe
Prinzipiell ist bei der Aufgabenstellung für die Chirurgie beim Neuroblastom
zwischen dem initialen Eingriff bei Therapiebeginn und einer sekundären Operation nach Chemotherapie und ggf. Bestrahlung zu unterscheiden. Vor jedem Eingriff an einem Neuroblastom sollte sich der Chirurg mittels der umfassenden Bildgebung (Abschn.
1.7) ein genaues Bild vom Tumor gemacht haben. Hierfür ist die Anwendung der Image Defined Risk Factors (Abschn.
1.8; Tab.
4) überaus hilfreich, weil mit ihrer Hilfe genau definiert werden kann, welche zentralen und vitalen anatomischen Strukturen vom Tumor einbezogen sind. Zur besseren räumlichen Vorstellung des Situs können aufgrund der Bildgebung auch dreidimensionale Modelle rechnerisch generiert und bildlich dargestellt werden (Gunther et al.
2008).
Beim initialen Eingriff steht an erster Stelle die Materialgewinnung aus dem Tumor durch eine Biopsie (Abschn.
1.7) oder bei kleinen Tumoren eine Resektion des (Primär-)Tumors. Bei schwerwiegender und akuter Symptomatik durch den Tumor, z. B. bei Kompression des Rückenmarks durch einen spinalen Tumor oder schwerer Luftnot bei einem riesigen Thoraxtumor kann auch einmal eine partielle Resektion sinnvoll sein.
Wichtig ist zu beachten, dass bei primären Resektionen von Neuroblastomen, bei denen einer oder mehrere der IDRFs vorliegen (Tab.
4), ein signifikant erhöhtes Risiko für inkomplette Entfernungen und chirurgische Komplikationen besteht (Pohl et al.
2016). Deshalb sollten in der Regel nur Tumoren ohne IDRFs primär reseziert werden.
Beim sekundären Eingriff nach konservativer tumorreduktiver Therapie geht es um die Resektion des Primärtumors und allfälliger lokoregionärer Lymphknotenmetastasen. Ganz besonders vor dieser Operation ist die präoperative Planung wichtig: Erstens sollte in einer gemeinsamen Konferenz mit den behandelnden Kinderonkologen und Strahlentherapeuten im individuellen Fall festgelegt werden, wie bedeutend eine radikale gegenüber einer subtotalen Resektion für die Heilung des Patienten ist und bis zu welchem Risiko eine radikale Resektion möglicherweise angestrebt werden soll. Zweitens ist es jetzt essenziell, die Anatomie des Situs und das Verhältnis des Tumors zu den Organen, Gefäßen und Nerven mittels einer Schnittbildgebung mit hoher Qualität darzustellen (Abb.
4), um die Operation minutiös planen zu können.
Das Ausmaß von Resektionen kann wie folgt klassifiziert werden:
-
(makroskopisch) komplette Resektion,
-
fast-komplette Resektion (>90 % der Tumormasse),
-
inkomplette oder partielle Resektion (50–90 % der Tumormasse),
-
Resektion <50 % der Tumormasse kann onkologisch einer Biopsie gleichgestellt werden.
Bei nicht resektablem Tumor kann auch nach Chemotherapie die Entnahme von multiplen Biopsien sinnvoll sein, um das Ansprechen des Tumors auf die bisherige Therapie festzustellen und so eine weitere Therapieplanung zu ermöglichen.
Vorgehen bei Tumorresektion
Außer bei gut abgekapselten Neuroblastomen v. a. der Nebenniere und im Halsbereich lassen sich insbesondere ausgedehnte Tumoren quasi nie in einem Stück radikal entfernen. Deshalb ist in der Mehrzahl der Fälle auch eine mikroskopisch radikale Resektion nicht möglich. Anhand der Bildgebung und den IDRFs kann der Chirurg die Einscheidung von Gefäßen und Nerven, die Infiltration von Organen sowie die Tumorausdehnung über mehrere Körperkompartimente und die Intervertebralforamina vor der Operation erkennen und nach diesen während des Eingriffs suchen.
Immer sollte eine Resektion so radikal wie möglich bei gleichzeitiger Schonung wichtiger und vitaler Strukturen sein.
Außer bei kleinen Tumoren ohne IDRFs (s. oben) erfolgt die Resektion deshalb in der Regel nach 4 oder 6 Kursen der Induktionschemotherapie. Bei lokalisierten Neuroblastomen ist naturgemäß eine komplette chirurgische Entfernung von allem Tumormaterial mit der günstigsten Heilungschance verbunden, jedoch ist diese wegen der zusätzlichen Therapiemöglichkeiten auch bei fast-kompletten Resektionen (95–100 % der Tumormasse) nicht beeinträchtigt (Fischer et al.
2017). Deshalb sollte hier zwar eine radikale Resektion angestrebt, nicht mit einem übermäßig hohen Risiko der Verletzung wichtiger Organe, Gefäße und Nerven erzwungen werden. Ältere und auch die aktuellen Daten legen nahe, dass aber bei biologisch ungünstigen Neuroblastomen, z. B. Stadium 3/L2 –
MYCN-amplifizierten Hochrisikotumoren eine radikale Resektion prognostisch wichtig ist (Fischer et al.
2017).
Bei metastasiertem Stadium-4/MS-Neuroblastomen ist zwar eine komplette oder fast-komplette Resektion des Primärtumors und der befallenen Lymphknotengebiete hilfreich, resultiert aber nicht in allen Studien, wie von anderen Autoren beschrieben (von Allmen et al.
2017), in einer signifikanten Verbesserung der Prognose, wie dies eine Auswertung von 278 Patienten der GPOH-Studie NB97 zeigt (Simon et al.
2013). Dieses ist auch unabhängig vom Nachweis ungünstiger molekulargenetischer Faktoren. Die Frage nach der notwendigen Radikalität der Resektion des Primärtumors beim metastasierten Neuroblastom (Stadium 4/MS) ist derzeit noch Gegenstand der internationalen Debatte. Es sollten bei diesen Patienten aber keinesfalls lebensgefährliche oder die weitere onkologische Therapie verzögernde Komplikationen bei der Resektion riskiert werden.
Bei Stadium 4S oder MS-Neuroblastomen kommt eine Tumorresektion primär oder sekundär nur selten in Betracht. Lediglich Resttumoren nach Ende der Beobachtungsperiode und Gabe von Chemotherapie sollten entfernt werden.
Bei
abdominellen Neuroblastomen (75 % aller Patienten, Abb.
4) erfolgt der Zugang am besten über eine quere Oberbauchlaparotomie, bei Beckentumoren über einen Pfannenstielschnitt. Bei kraniokaudal sehr ausgedehntem Tumorbefall und älteren Kindern bietet manchmal eine mediane Längslaparotomie Vorteile. Nur kleine, gut begrenzte Neuroblastome, z. B. einer Nebenniere, können auch laparoskopisch angegangen werden. Nach inspektorischer und palpatorischer Orientierung über die Tumorausdehnung und die intraabdominellen Organe erfolgt die Freilegung des Retroperitoneums. Dies geschieht rechts bis zur Ebene der Aorta durch Ablösung und Hochschlagen des rechten Kolons, des Mesenteriums, des Duodenums und Pankreaskopfs (Kocher-Manöver) sowie bei Bedarf der Mobilisierung der rechten Niere und auch der Leber. Das linke Retroperitoneum kann über das Ablösen und Hochschlagen des linken Kolons und Mesokolons, des Pankreaskorpus und -schwanzes, bei Bedarf auch der Milz und des Magens erfolgen, wenn nötig kann auch die linke Niere mobilisiert werden. Immer ist es wichtig, die Freilegung aller Tumoranteile großzügig genug vorzunehmen, um die weitere Präparation möglichst sicher zu gestalten. Nun können alle sicht- und tastbaren Tumoranteile und tumorösen Lymphknoten in einzelnen Teilen von den Gefäßen, den Ureteren, den Organen und ggf. dorsal den großen Nerven herunterpräpariert werden. Generell hat es sich bewährt, dabei entlang der Aorta und/oder der V. cava von kaudal nach kranial vorzugehen. Bei den Nieren- und Mesenterialgefäßen und dem Truncus coeliacus mit seinen Abgängen ist es meistens am sichersten, zunächst deren Abgänge aus Aorta und V. cava darzustellen und von dort in die Peripherie zu präparieren (Davidoff
2014). Durch eine wie oben geschilderte komplette Mobilisierung können auch Tumoranteile und ihre Beziehung zu den Gefäßen und Organen im Mittellinienbereich dargestellt und entfernt werden. Bei Neuroblastombefall beider Nebennieren sollte unbedingt versucht werden, ausreichend durchblutete Nebennierenreste zu erhalten. Eine geplante
Nephrektomie ist bei Neuroblastomresektionen fast nie indiziert.
Bei Neuroblastomen im Becken (Abb.
5) ist das Vorgehen ausgehend von der Bifurkation von Aorta und V. cava entlang der Iliakalgefäße und nach kaudal und medial am einfachsten. Hierbei sollte der Puls an den Füßen gemessen und dorsal mit Reizstrom nach dem Obturatorius- und Ischiasnerv, nach lateral nach dem N. femoralis gefahndet werden. Eine radikale Resektion von Tumoren auf dem Kreuzbein mit Ausdehnung in die Intervertebralforamina resultiert häufig in einer Blasen- und Mastdarmlähmung, weshalb in diesen Fällen vor der Operation festgelegt werden muss, ob nicht auch Tumorreste verbleiben dürfen.
Thorakale Neuroblastome werden in der Regel über eine laterale Thorakotomie reseziert. Hier wird der Tumor nach Inzision der Pleura parietalis schrittweise aus der Umgebung geschält. Eine Mitresektion von Rippen ist nicht indiziert. Vorsicht ist bezüglich des N. phrenicus und des N. recurrens, des Ductus thoracicus sowie der Aorta und ihren Abgängen geboten. Insbesondere bei ausgedehnten Tumoren muss unbedingt auf den Erhalt von genügend vielen Intervertebralarterienäste für eine ausreichende spinale Durchblutung geachtet werden. Kleine Tumoren können gelegentlich auch thorakoskopisch gut entfernt werden. Tumoren am Hals lassen sich in der Regel über einen zervikalen Zugang unter Schonung aller wichtigen Nerven und Gefäße resezieren (Davidoff
2014). Bei ausgedehnten thorakozervikalen Neuroblastomen kann ein türflügelartiger Zugang (De Corti et al.
2012) über den 4. ICR, das obere Sternum und einen tiefen Halsschnitt eine optimale Exposition des Tumors und der von ihm involvierten Nerven und Gefäße ermöglichen. Ein abdominothorakaler Zugang (Qureshi und Patil
2012) kann selten einmal für ausgedehnte abdominothorakale Neuroblastome notwendig sein.
Die meisten Neuroblastome lassen sich gut von Blutgefäßen und Organkapseln herunter präparieren, bei den großen Gefäßen unter Umständen unter Mitnahme der Adventitia. 10–20 % der Neuroblastome wachsen jedoch infiltrativ tiefer in die Gefäßwandschichten oder durch Organkapseln vor. Nach eigenen Erfahrungen ist dies nicht unbedingt mit einem ungünstigen Status der molekulargenetischen Marker verbunden. Bei diesen Tumoren können zwar äußere Schichten der Nieren, der Leber und der Milz mit entfernt werden, beim Pankreas aber sollte ein solch radikales Vorgehen vermieden werden. Bei den großen Gefäßen ist ein kompletter Ersatz oft nicht möglich und nach den oben geschilderten Ergebnissen für eine Radikalität auch nicht indiziert. So sollte bei diesen Tumoren lieber ein dünner Saum von 0,5–1 mm auf den Gefäßen und dem Pankreas belassen werden.
Cave: Eine Ruptur der befallenen Gefäße sollte unbedingt vermieden werden, da wegen der fragilen Wände eine Rekonstruktion oft nicht möglich ist.
In der Literatur wird eine Vielzahl von
technischen Hilfsmitteln für die Neuroblastomresektion beschrieben. So können neben Schere, Skalpell und bipolarer Strompinzette auch Ultraschallresektion,
Laser, Cuser und andere Techniken zum Einsatz kommen (Davidoff
2014). Hier muss der einzelne Chirurg seine Präferenz finden. Das Gleiche gilt auch für den Einsatz sog. „Navigationssysteme“, mit denen über die Injektion von radioaktiv markiertem MIBG vitaler Tumor markiert und intraoperativ mittels einer Sonde detektiert oder nach Injektion eines Photosensitizers intraoperativ die
Fluoreszenz vitaler Tumoranteile festgestellt werden kann. Von diesen aufwendigen Verfahren hat sich die radioaktive Methode bisher nicht durchgesetzt und die photodynamische Methode ist beim Neuroblastom noch experimentell.
Bei
Sanduhrtumoren mit Spinalkanalbeteiligung (Abb.
6) kann in akuter Querschnittsituation oder sekundär eine chirurgische Entfernung notwendig sein. Diese erfolgt über eine Laminotomie oder Laminektomie durch einen Neurochirurgen. Im akuten Fall ist zu entscheiden, ob eine Tumorreduktion auch mittels Chemotherapie und/oder Bestrahlungen rasch genug erreicht werden kann, damit die Symptome noch reversibel sind.
Bei massivem Leberbefall durch ein Stadium 4S- oder MS-Neuroblastom kann es in einzelnen Fällen wegen einer Kompression der V. cava inferior und der Nierengefäße sowie gleichzeitiger Atemeinschränkung notwendig werden, eine chirurgische Dekompression mittels einer temporären Bauchdeckenerweiterung durchzuführen.
Komplikationen
Intraoperativ kommen v. a. bei großen Tumoren Verletzungen der großen Gefäße mit schwerer Blutung und Organverlust vor. Lebensgefährlich sind diese bei Aorta, Truncus coeliacus, A. mesenterica und den großen Venen.
Unbedingt muss die Durchblutung der Oberbauchorgane und des Dünndarms erhalten bleiben. Am häufigsten kommt es zu Problemen mit den Nierenstielgefäßen, hier sollte ebenfalls der Verlust der Niere vermieden werden. Auch der allmähliche spätere Verlust einer Niere durch Gefäßspasmus oder Intimaverletzung wurde beobachtet.
Verletzungen der Harnleiter, der Unterbauchorgane und großen Nerven können ebenfalls vorkommen. Eine sehr häufige Folge von Neuroblastomresektionen sind große Lymphleckagen, die oft viele Wochen brauchen, bis sie spontan sistieren. Bei thorakalen Neuroblastomen sind die Verletzung der Aorta, Opferung von zu vielen intervertebralen Gefäßen und die Verletzung des Ductus thoracicus oder des N. phrenicus schwerwiegende Komplikationen. Bei hoch sitzenden thorakalen Neuroblastomen ist oft ein
Horner-Syndrom Folge der Operation. Die Resektion von thorakozervikalen oder zervikalen Neuroblastomen kann zu Verletzungen der dort liegenden wichtigen Nerven (Plexus brachiocephalicus, N. phrenicus, N. recurrens) und Gefäße führen.
Im weiteren Verlauf kann es neben Lymphleckagen und einem späteren Verlust einer Niere auch zu intestinalen Obstruktionen oder nach Resektion von Tumoranteilen aus dem Mesenterialansatz zu lang anhaltenden Diarrhoen kommen. Bei Entfernung beider Nebennieren ist mit Kortisonmangel und einem
Morbus Addison zu rechnen. Nach Resektion von pelvinen Neuroblastomen kommt häufig eine Blasen- und Mastdarmlähmung vor. Im Thorax sind neben pulmonalen Beeinträchtigungen v. a. persistierender
Chylothorax und anhaltende Paraplegie durch spinale Mangeldurchblutung gefürchtet, bei Neuroblastomen im Hals v. a. spätere neurologische Ausfälle. Nach spinalen Resektionen sind Wirbelsäulendeformitäten eine häufige Folge.
Immer ist zu bedenken, dass schwere intra- oder
postoperative Komplikationen zusätzlich zu einer Verzögerung oder Behinderung der weiteren Therapie führen und damit die Heilungschance beeinträchtigen können.