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Klinische Angiologie
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Publiziert am: 03.10.2023

Begutachtung von Erkrankungen der Venen und Lymphgefäße

Verfasst von: Markus Stücker
Ärztliche Gutachten sind häufig Grundlage von Leistungen der Unfall-, Haftpflicht- und Rentenversicherungen. Die Begutachtung phlebologischer Erkrankungen stellt aufgrund der sehr hohen Prävalenz der Venenerkrankungen, der vielschichtigen Beziehung zwischen möglichen Ursachen und sehr variablen Krankheitsbildern und Krankheitsverläufen und der nicht selten großen Latenzzeit zwischen dem auslösenden Ereignis und der Ausbildung schwerer Folgekomplikationen im Rahmen einer fortgeschrittenen chronischen Veneninsuffizienz eine große Herausforderung für die ärztlichen Gutachter dar. Daher ist eine sorgfältige, möglichst objektive Befunderhebung bei der Begutachtung von Erkrankungen des Venensystems und der Lymphgefäße anhand von anerkannten Klassifikationssystemen besonders relevant, um versicherungsrelevante Schäden angemessen berücksichtigen und bewerten zu können.
Wie bei anderen medizinischen Gutachten auch gliedert sich die Begutachtung von Erkrankungen der Venen und Lymphgefäße in 4 Hauptabschnitte:
1.
Fragestellung
 
2.
Vorgeschichte
 
3.
Befund
 
4.
Beurteilung
 
In den vorliegenden Ausführungen soll insbesondere auf die für den Befund und für die Beurteilung maßgeblichen Aspekte eingegangen werden. In beiden Unterkapiteln ist es das Ziel eines Gutachtens, eine Entscheidungsgrundlage für Instanzen ohne spezifische medizinische Kenntnisse und Fähigkeiten nachvollziehbar aufzustellen. Hierbei hat sich die Verwendung von Score-Systemen und Klassifikationen zur Beschreibung bewährt.

Erkrankungen der Venen

Score-Systeme

Der klinische Befund wird nach der CEAP-Klassifikation beschrieben, wobei hier in der Regel nur die C-Klassifikation verwendet wird (Lurie und De Maeseneer 2020; Eklöf et al. 2004) (Tab. 1).
Tab. 1
CEAP-Klassifikation
CEAP-Klassifikation
 
C0
Keine sichtbaren oder palpablen Zeichen einer Venenerkrankung
C1
Besenreiser oder retikuläre Venen
C2
Varizen
C2r
Rezidivierende Varizen
C3
Ödem
C4
Veränderungen an Haut und Subkutis
C4a
C4b
C4c
Hyperpigmentierung oder Ekzem
Lipodermatosklerose oder Atrophie blanche
Corona phlebectatica
C5
Abgeheiltes Ulkus
C6
Florides Ulkus
C6r
Rezidivierendes aktives venöses Ulkus
Für die Klassifikation des postthrombotischen Syndroms wird typischerweise der Villalta-Score genutzt (Tab. 2).
Tab. 2
Villalta-Score zur PTS-Diagnostik – empfohlen von der American Heart Association
 
Nicht vorhanden
Mild
Moderat
Schwer
Schmerz
0
1
2
3
Krämpfe
0
1
2
3
Schweregefühle
0
1
2
3
Parästhesien
0
1
2
3
0
1
2
3
Prätibiale Ödeme
0
1
2
3
Hyperpigmentierung
0
1
2
3
Venöse Ektasien
0
1
2
3
Rötungen
0
1
2
3
Induration der Haut
0
1
2
3
Schmerz bei Wadenkompression
0
1
2
3
Kahn et al. Circulation. 2014; 130: 1636–166 (Kahn et al. 2014)
Für die Klassifikation des PTS nach Villalta-Score sind folgende Abstufungen wichtig:
- 0 bis 4:
- ≥ 5:
- 5 bis 9:
mildes postthrombotisches Syndrom
- 10 bis 14:
mäßiges postthrombotisches Syndrom
- ≥ 15 oder venöses Ulkus:
schweres postthrombotisches Syndrom
Die in diesen beiden Klassifikationen vorkommenden Parameter müssen sowohl bei der Anamneseerhebung als auch bei der Befunderhebung sorgfältig beschrieben werden. Unabhängig von der Genese des Venenleidens sollten die subjektiven und objektiven Parameter des Villalta-Score sowie die objektiven Parameter der CEAP-Klassifikation im Gutachtenbefund gesondert erwähnt werden. In der Anamnese ist also nach Schmerzen, Krämpfen, Schweregefühl, Parästhesien und Pruritus zu fragen. Bei der klinischen Befunderhebung sollte überprüft werden, ob ein prätibiales Ödem vorliegt. Zur Objektivierung seitendifferenter Ödeme sind Umfangsmessungen im Seitenvergleich sinnvoll. Bei der Befundbeschreibung sollten sichtbare bzw. palpable Hautveränderungen mit Lokalisation und Ausdehnung dokumentiert werden, insbesondere Hyperpigmentierungen, Rötungen, Schuppungen bzw. Ekzemherde, Indurationen, Vernarbungen, Atrophie blanche und Ulzerationen sowie venöse Ektasien und Schmerzen bei der Wadenkompression. Vorhandene Ulzerationen sollten zumindest mit einer Basisdokumentation mit folgenden Parametern dokumentiert werden: Lokalisation, Größe mit zumindest Länge und Breite, prozentuale Anteile mit frischem Granulationsgewebe und Wundbelägen sowie die semiquantitative Einschätzung der Exsudatmenge (nicht vorhanden, gering, mäßig, stark) und die klinischen Zeichen eines Wundinfektes.

Funktionsdiagnostik und bildgebende Diagnostik

Auch bei der Begutachtung von Erkrankungen der Venen sollte der Knöchel-Arm-Index zum Ausschluss oder Nachweis einer möglicherweise begleitenden peripheren arteriellen Verschlusskrankheit bestimmt und gemessen werden. Als Funktionsuntersuchungen werden in Gutachten regelmäßig venöse Photoplethysmografien mit Angabe der venösen Auffüllzeit ggf. mit und ohne Tourniquet und die Venenverschlussplethysmografie (venöse Kapazität und venöser Ausstrom) durchgeführt. Als bildgebendes Verfahren ist die farbcodierte Duplexsonografie das Standardverfahren bei der Begutachtung. Nur bei speziellen Fragestellungen, wie z. B. bei Venenleiden in der Beckenregion, können Techniken wie die Phlebografie, CT und MRT sinnvoll sein.

Beurteilung

Bei der Beurteilung der Befund- und Verlaufstatsachen ist zu unterscheiden zwischen der Beurteilung der Wertigkeit der Befunde (Zustandsgutachten) und der Beurteilung der Ursachen (Zusammenhangsgutachten) (Nüllen und Noppeney 2011).

Arbeitsunfähigkeit

Für die Bemessung der Arbeitsunfähigkeit gibt es keine quasiamtlichen Vorgaben, sondern sie ist individuell festzustellen. Dabei muss neben der gesundheitlichen Einschränkung die Art der Erwerbstätigkeit berücksichtigt werden (Marshall und Krämer 2017a, b) (Fortbildung und Übersicht). Hierbei gibt es durchaus unterschiedliche Einschätzungen, was z. B. bei der tiefen Beinvenenthrombose deutlich wird. Während Marshall und Krämer (Marshall und Krämer 2017a, b) eine Arbeitsunfähigkeit bei akuter Thrombose uneingeschränkt nur bei proximaler Beinvenenthrombose oder bei Beckenvenenthrombosen oder mit symptomatischer Lungenembolie annehmen, nehmen Nüllen und Noppeney (Nüllen und Noppeney 2011) unabhängig von der Ausdehnung bei sog. frischer Thrombose eine Arbeitsunfähigkeit an, empfehlen aber den Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nach ausreichender Entstauungstherapie. Dementsprechend ist gerade bei kurzstreckigen Unterschenkelvenenthrombosen ohne stärkere Ödembildungen und ohne massive Schmerzen nicht zwingend eine Arbeitsunfähigkeit zu bescheinigen. Eine mögliche Orientierung zur Bemessung von Arbeitsunfähigkeitszeiten bei Erkrankungen des Venensystems gibt Tab. 3.
Tab. 3
Bemessung von AU-Zeiten bei Erkrankungen des Venensystems (Empfehlung); unter Verwendung einer Tabelle aus Nüllen/Noppeney 2011 (Nüllen und Noppeney 2011)
Primäre Varikose ohne Komplikation
In der Regel keine AU
Entstauung bei venösem Ödem
In der Regel keine AU
Entstauung bei chronischem peripheren Ödem anderer Art
Gelegentlich kann eine AU während der Entstauungsmaßnahmen gerechtfertigt sein, wenn aufgrund der Tätigkeit eine Berufstätigkeit mit den Kompressionsverbänden nicht zumutbar ist, z. B. Bäcker, Metzger, Köche, Kellner, Arbeiten mit schwerer körperlicher Belastung, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten etc. im Gegensatz z. B. zum kaufmännischen Angestellten oder Verwaltungsbeamten mit reiner Bürotätigkeit
Varizenoperation
Ca. 1–14 Tage
Sklerosierungstherapie
In der Regel keine AU
Seitenastphlebitis
In der Regel keine AU
Stammvenenphlebitis
Bei Operation, s. dort
Bei konservativer Therapie AU in Abhängigkeit vom Schweregrad 1–14 Tage
Tiefe Beinvenenthrombose (TVT)
Im akuten Stadium bei sog. „frischer“ Thrombose besteht AU bei entsprechenden Schmerzen und Schwellungen. Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nach ausreichender Entstauungstherapie, Anpassung einer Kompressionsstrumpfversorgung und Einleitung der OAK unter Berücksichtigung der Ausdehnung der TVT, der individuellen Belastungssituation, Begleiterkrankungen (Auslösesituation, z. B. Malignom, Unfall etc.) im zeitlichen Umfang in der Regel zwischen wenigen Tagen und 4 Wochen.
Längere AU-Zeiten sind nach LE denkbar.
AU-Zeiten darüber hinaus sind auf die reine TVT in der Regel nicht zu beziehen, sondern Begleit- oder Triggererkrankungen zuzuordnen.
Axillarvenenthrombose
Im akuten Stadium besteht AU. Nach Entstauung und Anpassung der Kompressionstherapie und Beginn der OAK ist unter Berücksichtigung der beruflichen Tätigkeit in der Regel Arbeitsfähigkeit zu unterstellen. Ausnahmen können bei besonderen seitenbezogenen beruflichen Belastungen gegeben sein (Berufsmusiker für Streichinstrumente, Goldschmied etc.). Die Freistellung von besonderen Arbeiten, wie z. B. Presslufthammer-, Über-Kopf-Arbeiten etc., sind denkbar.
Im akuten Stadium besteht AU. Nach Entstauung und suffizienter Kompressionstherapie besteht keine AU. Bei Exazerbation der Stauungserscheinungen, Phlebitiden, Dermatitiden etc. und Ulzerationen besteht AU entsprechend der Versorgungssituation und der Belastungssituation im ausgeübten Beruf.
Ulcus cruris
Im akuten Stadium AU, Wiederaufnahme der Tätigkeit in Abhängigkeit vom Beschwerdebild und vom Abheilungsstadium. AU auch ggf. aus besonderen Gründen (Hygiene, extrem stehende Tätigkeit, körperlich schwere Arbeiten etc.)
Nüllen H, Noppeney T. Gefässchirurgie 2011; 16:20–37 (Nüllen und Noppeney 2011)
AU, Arbeitsunfähigkeit

Grad der Behinderung und Grad der Schädigung

Der Grad der Behinderung und der Grad der Schädigung wird gängigerweise entsprechend der Anlage Versorgungsmedizinische Grundsätze der Versorgungsmedizinverordnung aus dem Jahr 2008 angegeben. Die entsprechenden Parameter für Venenleiden finden sich in Tab. 4.
Tab. 4
GDS-/GDB-Tabelle aus Versorgungsmedizinische Grundsätze (2008) für Venenleiden
Chronisch-venöse Insuffizienz (z. B. bei Krampfadern), postthrombotisches Syndrom ein- oder beidseitig
Mit geringem belastungsabhängigem Ödem, nicht ulzerösen Hautveränderungen, ohne wesentliche Stauungsbeschwerden
0–10
Mit erheblicher Ödembildung, häufig (mehrmals im Jahr) rezidivierenden Entzündungen
20–30
Mit chronischen rezidivierenden Geschwüren, je nach Ausdehnung und Häufigkeit (einschließlich arthrogenes Stauungssyndrom)
30–50
GDS, Grad der Schädigung; GDB, Grad der Behinderung

Sozialmedizinische Aspekte

Ein wichtiger Aspekt der Begutachtung ist nicht selten die Beurteilung des Zusammenhangs zwischen einem Ereignis wie z. B. einem Unfall während einer beruflichen Tätigkeit und dem unmittelbaren Gesundheitsschaden und den damit verbundenen Folgeschäden. Im Folgenden werden diesbezüglich die wichtigsten Aspekte bei Erkrankungen der Venen aufgeführt.

Primäre Varikose

Im sozialen Entschädigungsrecht kann eine primäre Varikose mit und ohne chronischer Veneninsuffizienz eine Rolle bei gutachterlichen Fragestellungen spielen (Nüllen und Noppeney 2011). Hier kann die Tabelle aus den versorgungsmedizinischen Grundsätzen für Venenleiden verwendet werden. Ist das permanente Tragen von Kompressionsstrümpfen aufgrund von Ödemen oder CVI-bedingten Hautkomplikationen erforderlich, kann eine ausschließlich oder weit überwiegende stehende Tätigkeit nur begrenzt zumutbar sein, ebenso wie die Tätigkeiten mit besonderen Belastungen durch Umgebungsbedingungen wie Nässe, Staub, Schmutz, Hitze, Kälte, besondere Hygieneanforderungen (Nüllen und Noppeney 2011). Dies dürften aber Ausnahmesituationen sein, sodass bei einer Varikose unter Kompressionstherapie eine vollschichtige Belastung zumutbar ist. Einschränkungen der Wegefähigkeit im Zusammenhang mit der Varikose ergeben sich in der Regel nicht, Ausnahmen können seltene, sehr ausgeprägte Formen der chronischen Veneninsuffizienz ohne postthrombotisches Syndrom mit Dermatolipofasziosklerose oder arthrogenem Stauungssyndrom sein. Kommt es im Rahmen einer primären Varikose zur Ausbildung eines Ulcus cruris, führt dies zunächst lediglich in Abhängigkeit von der Befundausprägung und der Art der Tätigkeit zu einer Arbeitsunfähigkeit.

Venenthrombose

Eine wesentliche gutachterliche Aufgabenstellung im Zusammenhang mit Venenthrombosen ist die Beurteilung, ob eine Thrombose mit einem Unfallereignis oder einer medizinischen Behandlung zusammenhängt. Um den Zusammenhang zu klären, sind 2 Aspekte zu berücksichtigen, zum einen der zeitliche Zusammenhang, zum anderen die Frage, inwieweit die in Betracht kommende Ursache eine wesentliche Bedingung für das Eintreten der Thrombose ist (Nüllen und Noppeney 2011; Marshall und Krämer 2017a, b). Beispiele für wesentliche Bedingungen sind:
  • Beinvenenthrombosen nach ipsilateralen Frakturen, insbesondere Unterschenkelfrakturen, Armvenenthrombosen nach Porteinlage oder Subklaviakathetereinlage
  • Unterschenkelvenenthrombosen nach Gipsanlage am selben Bein
  • Fernthrombosen in den Beinvenen z. B. nach ausgedehnten Verletzungen, Operationen, Verbrennungen, Kälteschäden und bei schweren Allgemeinerkrankungen wie Hepato- und Nephropathien, Hungerödemen und Infektionskrankheiten (Marshall und Krämer 2017a, b).
  • Thrombosen während unfallbedingter Bettruhe
Bei entsprechendem zeitlichem Zusammenhang können auch posttraumatische kontralaterale Beinvenenthrombosen nach Unfallereignissen und anschließender Ruhigstellung eine Unfallfolge darstellen.
Nicht selten werden postoperative oder posttraumatische Beinschwellungen und Beinschmerzen fehlgedeutet und nicht in der Akutphase diagnostiziert. Dies kann bei einer späteren Begutachtung eines postthrombotischen Syndroms die Begründung eines Kausalzusammenhangs erschweren (Wahl und Hirsch 2015).
Zusätzliche Aspekte ergeben sich, wenn eine Rezidivthrombose im zeitlichen Zusammenhang mit einem Unfall auftritt. Bei der Beurteilung des Zusammenhangs zwischen einem Unfall und einer Thrombose ist in diesem Fall der Vorschädigung des Venensystems eine erhebliche Bedeutung beizumessen. Häufig ist dann die Rezidivthrombose nur als vorübergehende Verschlimmerung zu werten. Anders ist die Situation jedoch, wenn die erste Thrombose zu keinen fassbaren Folgen geführt hat, d. h., dass weder ausgedehntere Klappenschädigungen oder Obstruktionen noch klinische Zeichen eines postthrombotischen Syndroms vorliegen. In diesem Fall kann ein Unfall durchaus als alleinige und wesentliche Ursache der Rezidivthrombose in Betracht kommen (vgl. hierzu Straub 1984 in Fritze et al. Das ärztliche Gutachten (Fritze und Viefhues 1984)).

Postthrombotisches Syndrom

Bei der Bewertung des postthrombotischen Syndroms spielen die subjektiven und objektiven Beschwerden, wie sie im Villalta-Score quantifiziert werden, eine wesentliche Rolle. Hingegen gehen die Ausdehnung und Schwere der hämodynamischen Veränderungen, wie sie duplexsonografisch und auch in den Funktionsmessungen fassbar sind, nicht in die Bewertung des Schweregrads des postthrombotischen Syndroms ein und spielen damit auch keine Rolle in der entsprechenden Tabelle aus den versorgungsmedizinischen Grundsätzen. Das postthrombotische Syndrom wird also primär nicht anhand von plethysmografischen, duplexsonografischen und phlebografischen Untersuchungen, sondern entsprechend der klinischen Symptome bewertet (Marshall und Krämer 2017a, b). Dies steht in einem gewissen Widerspruch zu früher geäußerten Einschätzungen, welche den messtechnischen Parametern einen höheren Stellenwert einräumten (Nüllen und Noppeney 2011).

Verschlimmerung eines Venenleidens

Wenn durch einen Unfall oder eine ärztliche Handlung eine Thrombose im Bereich einer Extremität auftritt, wo schon eine chronische Veneninsuffizienz nachweisbar ist, kann durch dieses Ereignis eine Verschlimmerung hervorgerufen werden, die auch gutachterlich anzuerkennen ist. Zu differenzieren ist in diesen Fällen, ob die Verschlimmerung lediglich vorübergehenden Charakter hat oder aber anhaltend ist. Denkbar wäre z. B., dass sich im Rahmen eines Unfallgeschehens an einer Extremität mit einer chronischen Veneninsuffizienz mit einer Dermatoliposklerose eine therapieresistente Ulzeration ausbildet. Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist, dass von dem erstbehandelnden Arzt zum Unfallzeitpunkt die bestehende Venenerkrankung möglichst präzise dokumentiert wurde (Marshall und Krämer 2017a, b).

Ulcus cruris venosum

Das Ulcus cruris venosum kann als besonders schwere Komplikation eines Venenleidens mit einer Latenzzeit von vielen Jahren im Rahmen eines postthrombotischen Syndroms auftreten. Ist die für das postthrombotische Syndrom verantwortliche Thrombose gutachterlich als Unfallfolge anzuerkennen und bestand ein postthrombotisches Syndrom mit Symptomen wie z. B. Beinödemen, Hyperpigmentierungen, Ekzemen oder Dermatosklerose mit maximal 2 Jahren Abstand zum Unfallereignis, ist auch nach jahrelanger Latenzzeit das Ulkus als Unfallfolge anzuerkennen (Marshall und Krämer 2017a, b). Zu beachten ist hierbei, dass je nach Pathogenese der Thrombose das Ulkus nicht zwingend am unfallgeschädigten Bein auftreten muss (z. B. nach einer kontralateralen Thrombose im kausalen Zusammenhang mit dem Unfallereignis).

Ulcus cruris nach Bagatelltrauma

Besteht an einem Bein eine chronische Veneninsuffizienz, kann es durch ein Bagatelltrauma zur Ausbildung eines Ulcus cruris venosum kommen. Wenn zusätzlich Erkrankungen, welche zu einer chronischen Wundheilungsstörung führen können, wie Diabetes mellitus, periphere arterielle Verschlusskrankheit, arthrogenes Stauungssyndrom, neurologische oder orthopädische Erkrankungen, vorliegen, kann es schwierig sein, die ursächliche Wertigkeit des Traumas auf der einen Seite und die vorhandene Disposition auf der anderen Seite abzuschätzen. Denkbar ist ein Zusammenhang des Unfalls mit der Ulzeration im Sinne einer vorübergehenden Verschlimmerung, es kann jedoch auch zu einer anhaltenden oder richtungsgebenden Verschlimmerung kommen.

Erkrankungen der Lymphgefäße

Der Grad der Behinderung und der Grad der Schädigung für Erkrankungen der Lymphgefäße in der entsprechenden Tabelle aus den versorgungsmedizinischen Grundlagen bezieht sich auf Lymphödeme, s. Tab. 5.
Tab. 5
GDS-/GDB-Tabelle aus Versorgungsmedizinische Grundsätze (2008) für Lymphödem
Lymphödem
An einer Gliedmaße ohne wesentliche Funktionsbehinderung, Erfordernis einer Kompressionsbandage
0–10
Mit stärkerer Umfangsvermehrung (mehr als 3 cm) je nach Funktionseinschränkung
20–40
Mit erheblicher Beeinträchtigung der Gebrauchsfähigkeit der betroffenen Gliedmaße, je nach Ausmaß
50–70
Bei Gebrauchsunfähigkeit der ganzen Gliedmaße
80
Entstellungen bei sehr ausgeprägten Formen sind ggf. zusätzlich zu berücksichtigen
GDS, Grad der Schädigung; GDB, Grad der Behinderung
Liegen nach einem traumatischen Ereignis Ödeme vor, sollte eine Differenzierung eines phlebogenen und lymphogenen Ursprungs erfolgen. Dies geschieht sowohl durch eine klinische als auch eine apparative Untersuchung, wobei die Befunderhebung bei der Frage nach einem Lymphödem immer auch die oben skizzierten Vorgehensweisen bei einer Venenerkrankung beinhalten sollte (Wahl und Hirsch 2016).
Bei der Begutachtung müssen akute von chronischen Lymphödemen unterschieden werden. Das akute Lymphödem bildet sich in der Regel Tage bis wenige Wochen nach dem Trauma durch einen Unfall oder durch eine Operation zurück. Chronische Lymphödeme resultieren aus ausgedehnteren Schädigungen des Lymphsystems und sind häufig nicht reversibel. Ein chronisches Lymphödem kann zu bleibenden Einschränkungen der Lebensqualität und auch zu Einschränkungen im Arbeitsleben führen. Ist der Zusammenhang zwischen einem Unfall und einem Lymphödem gutachterlich bestätigt, sind auch die entsprechenden krankheitsspezifischen therapeutischen Maßnahmen vom Versicherungsträger zu erstatten. Beim Lymphödem ist hier insbesondere an die komplexe physikalische Entstauungstherapie mit allen leitliniengerechten Bestandteilen zu denken (Wahl und Hirsch 2016).
Literatur
Eklöf B, Rutherford RB, Bergan JJ, Carpentier PH, Gloviczki P, Kistner RL, Meissner MH, Moneta GL, Myers K, Padberg FT, Perrin M, Ruckley CV, Smith PC, Wakefield TW (2004) American Venous Forum International Ad Hoc Committee for Revision of the CEAP Classification. Revision of the CEAP classification for chronic venous disorders: consensus statement. J Vasc Surg. 40(6):1248–1252. https://​doi.​org/​10.​1016/​j.​jvs.​2004.​09.​027. PMID: 15622385CrossRefPubMed
Fritze E, Viefhues H (1984) Das ärztliche Gutachten., 1. Aufl. Steinkopff, DarmstadtCrossRef
Kahn SR, Comerota AJ, Cushman M, Evans NS, Ginsberg JS, Goldenberg NA, Gupta DK, Prandoni P, Vedantham S, Walsh ME, Weitz JI, American Heart Association Council on Peripheral Vascular Disease, Council on Clinical Cardiology, and Council on Cardiovascular and Stroke Nursing (2014) The postthrombotic syndrome: evidence-based prevention, diagnosis, and treatment strategies: a scientific statement from the American Heart Association. Circulation 130(18):1636–1661. https://​doi.​org/​10.​1161/​CIR.​0000000000000130​. Epub 2014 Sep 22. Erratum in: Circulation. 2015 Feb 24;131(8):e359. PMID: 25246013CrossRefPubMed
Lurie F, De Maeseneer MGR (2020) The 2020 update of the CEAP classification: what is new? Eur J Vasc Endovasc Surg 59(6):859–860. https://​doi.​org/​10.​1016/​j.​ejvs.​2020.​04.​020. Epub 2020 May 4. PMID: 32376218CrossRefPubMed
Marshall M, Krämer K (2017a) Aktuelle Begutachtung phlebologischer Erkrankungen. Vasomed 29:238–246
Marshall M, Krämer K (2017b) Aktuelle Begutachtung phlebologischer Erkrankungen Teil 2. Vasomed 29:276–279
Nüllen H, Noppeney T (2011) Begutachtung von Erkrankungen des Venensystems. Gefäßchirurgie 16:20–37. https://​doi.​org/​10.​1007/​s00772-010-0782-1CrossRef
Wahl U, Hirsch T (2015) Thrombose und postthrombotisches Syndrom als Unfallfolge. Unfallchirurg 118:867–880. https://​doi.​org/​10.​1007/​s00113-015-0065-0CrossRefPubMed
Wahl U, Hirsch T (2016) Das praktische Vorgehen beim postoperativen und posttraumatischen Lymphödem. Zentralbl Chir. https://​doi.​org/​10.​1055/​s-0042-110792