Historie der Lymphologie
Erstmals von Aristoteles 350 Jahre vor Christus als „Ductus lactei“ erwähnt, geriet die Wahrnehmung der Lymphologie
über fast 1800 Jahre in Vergessenheit, bis in Padua Caspar Asellius 1622 bei der Vivisektion eines Hundes bei der Eröffnung des Bauchraumes weißliche Gefäßstränge fand, aus denen beim Einschneiden eine milchige Flüssigkeit sickerte. Er nahm an, dass die neu entdeckten Gefäße dem Transport des resorbierten Speisebreis vom Darm zur Leber dienten. Dem italienischen Arzt Paolo Mascagni aus Siena (1752–1815) gelang über 110 Jahre später eine bildliche Darstellung des gesamten Lymphgefäßsystems. Seine Zeichnungen dieser feinen Verästelungen sind bis heute gültig. Recht exakt beschrieb er auch bereits mögliche Ursachen des
Lymphödems. Eingang in die Schulmedizin allerdings fand die Lymphologie erst spät, 1974 durch Johannes Asdonk und Michael Földi mit der Verbreitung der manuellen Lymphdrainage als Methode der Wahl des Lymphödems. Das erste Lehrbuch erschien dann folgerichtig 1978 durch Günther und Hildegard Wittlinger auf Anregung von Emil Vodder, dem Vater der „komplexen physikalischen Entstauungstherapie“ (KPE; Schuchhardt et al.
2003).
Grundzüge der Pathophysiologie und wichtige epidemiologische Aspekte
Zu den wesentlichen Aufgaben des Lymphgefäßsystems gehört der Rücktransport von Substanzen, die durch das venöse System nicht zentripetal befördert werden können. Hierzu zählen Proteine, langkettige
Fettsäuren und die fettlöslichen
Vitamine, aber auch Abwehrzellen sowie Fremdbestandteile (z. B. Viren,
Bakterien, Medikamente; Debus et al.
2012; Brenner
2024). Etwa 2–3 L Lymphflüssigkeit
pro Tag gelangen über kleine blind endende Lymphkanäle zunächst in die oberflächlichen Lymphgefäße
der Extremitäten und des Kopf-Hals-Bereichs, dann unter Passage der Lymphknoten in die tiefen Lymphgefäße. Diese vereinigen sich in den Venenwinkeln bds. und ermöglichen den Abfluss der Lymphflüssigkeit in den venösen Kreislauf (s. Kap. „Brenner, Anatomie und Physiologie des lymphatischen Systems“).
Ein Ungleichgewicht von Zustrom und Abtransport lymphpflichtiger Substanzen (in ihrer Gesamtheit als lymphpflichtige Last
bezeichnet) führt zu vermehrter Flüssigkeitsansammlung im interstitiellen Raum. Somit kann einerseits ein Überangebot, andererseits aber auch eine Lymphtransportstörung ein Ödem
auslösen. Daher sind vom im Vergleich selteneren
Lymphödem Zustände abzugrenzen, die über eine Erhöhung der lymphpflichtigen Last eine Zunahme der interstitiellen Flüssigkeit bedingen. Mechanistisch zugrunde liegen können hier ein erhöhter kapillärer (hydrostatischer) Druck, ein verminderter
kolloidosmotischer Druck im Gefäßsystem oder aber eine erhöhte Kapillarpermeabilität (jeweils Parameter des sog. Starling’schen Gleichgewichts; Beispiele in Tab.
1; Debus et al.
2012; s. Kap. „Brenner, Anatomie und Physiologie des lymphatischen Systems“). Diese Zunahme der interstitiellen Flüssigkeit kann zum Teil durch eine Steigerung der Lymphtransportkapazität
kompensiert werden. Beim Erreichen der Kapazitätsgrenze kommt es jedoch zum Ödem (sog. Hochvolumeninsuffizienz). Auch zahlreiche Medikamente können
Ödeme bedingen, die zugrunde liegenden Mechanismen sind variabel (z. B. Natriumretention bei Steroiden) und häufig unzureichend verstanden, ein klassisches Lymphödem wird durch Medikamente nicht hervorgerufen. Differenzialdiagnostische Aspekte sind im Kapitel von Gressenberger und Gary ausgeführt (s. Kap. „Differentialdiagnose akuter und chronischer Extremitätenschwellungen“).
Tab. 1
Ätiologie peripherer Ödeme. (Modifiziert nach Debus et al.
2012)
Erhöhter kapillärer Druck | |
Verminderter kolloidosmotischer Druck | • Reduzierte Albuminsynthese, z. B. Leberzirrhose, Mangelernährung |
Erhöhte Kapillarpermeabilität | • Verbrennung, Trauma • Lokale Entzündung |
Lymphtransportstörung | • Primäres Lymphödem • Sekundäres Lymphödem |
Vom
Lymphödem im eigentlichen Sinne spricht man, wenn eine Schädigung des Lymphtransportsystems mit resultierender Abnahme der Lymphtransportkapazität
vorliegt (sog. Niedrigvolumeninsuffizienz
).
Charakteristisch für das
Lymphödem ist eine Anreicherung von eiweißreicher Flüssigkeit im Interstitium. Es kommt es zu einer chronisch-entzündlichen Gewebsschädigung (ausgedrückt z. B. durch einen Reichtum an CD68-positiven
Makrophagen und messbare Erhöhungen proinflammatorischer
Zytokine wie „transforming growth factor ß“; Saito et al.
2013). Sekundär resultieren im Bereich der vornehmlich von
Ödemen betroffenen Extremitäten im Bereich von Haut und Unterhautfettgewebe eine Fibrosierung
sowie eine übermäßige Ansiedlung von Adipozyten. Welche adaptiven Vorgänge das Lymphsystem selbst im Kontext des Lymphödems durchmacht, ist unzureichend verstanden. Berichte weisen auf eine Muskelhypertrophie von Lymphkollektoren und eine Fibrosierung von Lymphknoten hin (Frick et al.
1990).
Eingeteilt werden die
Lymphödeme nach ihrer Entstehung. Während primäre Lymphödeme durch eine anlagebedingte und somit angeborene Malformation lymphatischer Gefäße gekennzeichnet sind, entwickeln sich sekundäre Lymphödeme aus einer erworbenen Lymphgefäßschädigung.
Der aktuelle Wissensstand in Bezug auf Häufigkeit, Vorkommen und Schweregrad von
Lymphödemen basiert auf einer relativ schlechten Datenlage. Immerhin sollen nach Földi alleine in Deutschland etwa 4,5 Mio. Patientinnen und Patienten an einem Lymphödem leiden (Földi
2004). Die
Prävalenz des Lymphödems (primär und sekundär, ohne begleitende
chronische venöse Insuffizienz – CEAP-Klassifikation, C 0/1) hierzulande wurde in der Bonner-Venenstudie 2003 mit 8,4 % angegeben, wobei als diagnostisches Kriterium einzig das positive Stemmer-Zeichen
diente (Rabe et al.
2003). Im Rahmen der Ochtruper Lymphstudie aus dem Jahr 2011 wurden 200 stationäre Patienten anamnestisch aufgearbeitet. Hier zeigte sich eine Anamnesedauer bis hin zur ersten Therapie von im Mittel 11,5 Jahren (Lulay
2012). Von Neuhüttler et al. wurde 2006 zudem darauf hingewiesen, dass die Patienten mit Lymphödemen unter erheblichen Einschränkungen der
Lebensqualität, mit teilweise immensen Einschränkungen der Mobilität leiden; Arbeitsunfähigkeit resultiert nicht selten. Es besteht durchaus auch eine soziale Komponente, die diese Patienten nicht selten auch an den Rand der Gesellschaft drängen (Neuhüttler und Brenner
2006). Im Rahmen der Versorgungsstudie Gutknecht wurde anhand von 348 Patienten gezeigt, dass bei einem Patienten mit chronischem Lymphödem
Kosten für die Versorgung von im Mittel 5784 € pro Jahr entstehen, wobei hier 4445 € für direkte und 1338 € für indirekte Transferleistungen anfielen. 649 € musste jeder Patient im Schnitt selbst tragen. Hauptkostentreiber bildeten die manuelle Lymphdrainage und die Arbeitsunfähigkeit (Gutknecht et al.
2017).
Primäres Lymphödem
Das sehr seltene, primäre
Lymphödem ist anlagebedingt (familiäre Formen oder sporadische Genmutationen) und macht vermutlich höchstens 1 % aller Lymphödeme
aus. Ursächlich zugrunde liegen können folgende Pathologien:
Es kann auch vergesellschaftet sein mit anderen vaskulären und/oder muskuloskelettalen Fehlbildungen.
Als klassisches Beispiel eines primären
Lymphödems in Kombination mit anderen vaskulären Anomalien und muskuloskelettalen Anomalien kann das Klippel-Trénaunay-Syndrom gelten. Hervorgerufen durch eine Mutation im PIK3CA-Gen resultiert eine kombiniert kapillär-lymphatisch-venöse Malformation mit umschriebenem Überwuchs (s. Kap. „Syndromale vaskuläre Malformationen“).
Insgesamt sind epidemiologische Daten zum primären
Lymphödem selten und stammen überwiegend noch aus dem letzten Jahrtausend. Die
Prävalenz wurde in den entsprechenden Studien auf 1:6000 bis 1:10.000 lebend geborener Kinder geschätzt, in anderen Quellen wurden sogar noch niedrigere Erkrankungsraten angegeben (S2k-Leitlinie Diagnostik und Therapie der Lymphödeme
2017).
Die Erkrankung kann bei Geburt bzw. innerhalb des ersten Lebensjahres manifest sein (kongenital). Als Ursache des primären kongenitalen
Lymphödems Typ I (Nonne-Milroy) wurde beispielsweise eine häufig familiär mit autosomal dominantem Erbgang auftretende Mutation der VEGFR3-Tyrosinkinase des Lymphgefäßendothels identifiziert. Das primäre Lymphödem
Typ 2 (Typ Meige) tritt hingegen erst in der
Pubertät in Erscheinung (Lymphoedema praecox), Mädchen sind dabei häufiger betroffen als Jungen (S2k-Leitlinie Diagnostik und Therapie der Lymphödeme
2017). Das Lymphoedema tarda tritt erst nach dem 35. Lebensjahr auf, in diesem Zusammenhang sind Fälle mit Ausbildung eines
Lymphangiosarkoms beschrieben. Eine Auswahl primärer Lymphödeme mit Manifestationsalter und typischen assoziierten Pathologien findet sich bei s. Kap. „Lymphödem“, Schacht (
2023).
Sekundäres Lymphödem
Das weitaus häufigere
sekundäre Lymphödem entsteht durch eine erworbene Schädigung des Lymphsystems (Tab.
2).
• Postinfektiös (Filariose , rezidivierende Erysipele) • Postoperativ (insb. onkologische Eingriffe mit Lymphknotenexstirpation oder Entfernung großer Weichteiltumoren, aber auch gefäßchirurgische Eingriffe, z. B. nach Varizenoperationen) • Nach Bestrahlung, ebenfalls meist bei Malignomerkrankungen • Bei lokaler Inflammation (z. B. Arthritis; schwere Weichgewebsinfektion wie der infizierte diabetische Fuß) • Posttraumatisch (z. B. schwere Schnittverletzungen, Haut-Debridement, Nervenschädigungen, ausgedehnte Frakturen) • Lymphknotenfibrose
• Artifiziell |
Das sekundäre
Lymphödem ist deutlich häufiger als das primäre.
Weltweit betrachtet ist die Filariose
, eine von Stechmücken übertragenen Nematoden (
Fadenwürmer) hervorgerufene Erkrankung, die häufigste Ursache (weltweit ca. 120 Mio. Infizierte mit Häufung in Südostasien, davon ca. 16 Mio. Menschen mit einem
Lymphödem). Betroffene haben teilweise monströs elephantiasische Extremitäten (Debus et al.
2012).
In Europa stellen operative Eingriffe, meist onkologische Operationen mit Lymphknotenexstirpation oder Lymphgefäßresektion bzw. -verletzung, die häufigste Ursache sekundärer
Lymphödeme dar. Seltener sind sekundäre Lymphödeme durch eine dann meist lokal weit fortgeschrittene oder metastasierte Malignomerkrankung selbst hervorgerufen. Die Häufigkeit des sekundären Lymphödems infolge Malignomerkrankung oder -therapie wurde in unterschiedlichen Studien allerdings sehr unterschiedlich angegeben, mit Angaben zur Inzidenz
pro 100.000 Einwohner zwischen 37,8 (Europäische Union) bzw. 48,5 (USA); weltweit ist sie mit etwa 10,7 Fällen pro 100.000 Einwohnern anzusetzen (Schuchhardt et al.
2003). Moffatt et al. fanden eine
Prävalenz von 133/100.000, wobei sich diese Rate mit dem Lebensalter erhöhte (540/100 000 bei den über 65-Jährigen) und eine höhere Prävalenz bei Frauen zu finden war (w.: m = 215/100.000 : 47/100.000; Moffatt et al.
2003). Ähnlich verhielt sich die Geschlechterverteilung in einer anderen Veröffentlichung (w.: m: 4,1:1), wobei das inguinale Tributargebiet deutlich häufiger als das axilläre betroffen war. Mit ca. 61 % der Fälle sekundärer Lymphödeme bei Krebspatienten ist das
Mammakarzinom die am häufigsten beobachtete ursächlich zugrunde liegende Entität (S2k-Leitlinie Diagnostik und Therapie der Lymphödeme
2017). Bemerkenswert ist die oftmals beobachtete Latenz zwischen onkologischem Eingriff und klinischer Manifestation des Lymphödems. So konnte eine Studie aus Slowenien im Jahr 2017 zeigen, dass beim Mammakarzinom das klinisch manifeste Lymphödem
der oberen Extremitäten im Schnitt nach 2,2 Jahren auftrat, nach Unterleibsoperationen das der unteren Extremitäten hingegen erst nach im Mittel 4,75 Jahren (Planinsek Rucigaj und Zunter
2015).
Durch fortentwickelte, schonendere Operationsverfahren konnte insbesondere beim
Mammakarzinom eine deutliche Reduktion der Inzidenz
des sekundären
Lymphödems gezeigt werden. Bei 109 Patientinnen mit Mammakarzinom (T1-T2-Tumoren) konnte ein deutlicher Rückgang der Lymphödemrate bei Verwendung der Sentinel-Lymphknoten-Methode unabhängig einer Bestrahlungstherapie festgestellt werden (ca. 5 % in einer Nachbeobachtungszeit von im Mittel 37 Monaten; Kuru et al.
2017). Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Coromilas et al. ein Jahr zuvor in einer retrospektiven Kohorte von 2002–2012 bei einer deutlich höheren Patientenzahl von 10.504 Patientinnen im Alter zwischen 65 und 90 Jahren. Lymphödeme
waren bei der Sentinel-Lymphknoten-Methode ohne axilläre komplette Lymphknotendissektion mit 5,9 % seltener gegenüber 8,2 % mit axillärer Lymphknotendissektion (Coromilas et al.
2016).
Daten zum sekundären
Lymphödem nichtonkologischer Genese sind rar. In einer Untersuchung von Moffat et al. waren vorhergegangene Traumen oder Operationen zu 75 % die Ursache (Moffatt et al.
2003). Zu den letztgenannten zählen explizit auch gefäßchirurgische Eingriffe (z. B. Varizenoperationen). Wiederum in der Ochtruper Lymphstudie machte der Anteil der Patienten mit
Erysipelen mit ca. 40 % einen erheblichen Anteil aus, welche häufig rezidivierten und ihrerseits das Lymphödem
noch einmal verschlechterten (Lulay
2012).
Zunehmend in den Fokus geraten die Ödemformen, die durch die
Adipositas bedingt bzw. aggraviert werden und heutzutage ebenfalls den sekundären
Lymphödemen zugerechnet werden. So konnte gezeigt werden, dass Patienten mit pathologischem
Body-Mass-Index eine Dysfunktion des lymphatischen Systems der unteren Extremitäten aufwiesen und umgekehrt ihre lymphatische Funktion im Szintigramm verbessern konnten, wenn eine Gewichtsabnahme stattfindet (Greene et al.
2015). Wenn auch eine Adipositas ein Lymphödem
aggravieren kann, so ist das
Lipödem jedoch eine eigenständige Krankheitsentität und vom Lymphödem abzugrenzen. Mischformen im Sinne eines Lipo-Lymphödems sind allerdings möglich (s. Kap. „Lipödem Ghods & Kruppa“).