Beispiele für sex- assoziierte Aspekte bei erworbenen vaskulären Erkrankungen
Die
Takayasu-Arteriitis (TAK) betrifft als Großgefäßvaskulitis in der Regel die Aorta und/oder ihre größeren Äste (siehe Kap. „Takayasu-Arteriitis“). Sie betrifft vorwiegend Patienten im jüngeren Erwachsenenalter mit einer Prädisposition des biologisch weiblichen Geschlechts (S2k-LL Takayasu-Arteriitis
2024). Bevölkerungsbasierte Erhebungen aus Japan zeigen für die Takayasu-Arteriitis ein Geschlechterverhältnis von 9 weiblichen zu 1 männlichen Patient (Watanabe et al.
2015). Zudem manifestierte sich die Erkrankung bei Frauen zeitiger (im durchschnittlichen Alter von 31 versus 33 Jahren bei Männern) und die Lebensphase mit der Erkrankung ist länger als bei männlichen Betroffenen (21 versus 14 Jahre). In genomweiten Analysen konnten spezifische Genloci, u. a.
HLA-B*52, identifiziert werden, welche die Suszeptibilität gegenüber der TAK erhöhen und möglicherweise auch ihre Verlaufsschwere beeinflussen (Ortiz-Fernández et al.
2021). In klinischen Studien zeigte sich ein erhöhtes Risikos von Organschäden in weiblichen Patienten mit Takayasu-Arteriitis (u. a.
Niereninsuffizienz 13 % vs. 8 %,
Aortenklappeninsuffizienz 38 % vs. 30 %), welche infolge der Erkrankung auch häufiger hilfs- bzw. pflegebedürftig (49 % vs. 40 %) und seltener schul-/erwerbstätig waren als die männlichen Patienten (Yoshifuji et al.
2024; Shimizu und Murohara
2024). Prädiktoren für die ungünstigere soziale Situation weiblicher TAK-Patienten im japanischen Setting waren neben dem Patientenalter zunächst krankheitsinhärent die häufigere Manifestation in Form von retinalen und cerebralen Ischämien. Inwieweit diese Daten auch auf kaukasische Patientinnen und Patienten mit Takayasu-Arteriitis im deutschen Sozial- und Gesundheitssystem übertragbar sind, lässt sich gegenwärtig nicht beurteilen, da verlässliche Daten hierzu fehlen.
Bei den sog. ANCA-assoziierten Kleingefäßvaskulitiden
(AAV:
Granulomatose mit Polyangiitis,
eosinophile Granulomatose mit Polyangiitis,
mikroskopische Polyangiitis; siehe Kap. „Entzündliche Erkrankungen der kleinen Gefäße“) sind die namensgebenden perinukleären (p-) bzw. zytoplasmatischen (c-)anti-Neutrophile-zytoplasmatische
Antikörper (ANCA) gegen die primären Zielantigene
Myeloperoxidase (MPO) und Proteinase 3 (P3) derzeitigen Wissens nach Ausdruck einer Autoimmunreaktion mit überschießender Aktivierung neutrophiler Granulozyten (Schirmer et al.
2017). Man geht auch hier davon aus, dass spezifische Humane-Leukozyten-Antigen (HLA)-Varianten (z. B.
HLA-DQ, HLA-DP) die Suszeptibilität gegenüber
ANCA-assoziierten Vaskulitiden entscheidend erhöhen (Lyons et al.
2012). In jüngsten Studien verdichten sich dank moderner Methoden der DNA-Sequenzierung die Hinweise darauf, dass im Falle der MPO-ANCA assoziierten
Vaskulitis die genetische Prädisposition auch geschlechtsspezifische Unterschiede aufweist: In einem skandinavischen Patientenkollektiv von 1088 Patienten mit granulomatöser Polyangiitis und
mikroskopischer Polyangiitis zeigte sich eine auffällig starke Assoziation des weiblichen Geschlechts mit den HLA-Varianten
HLA-DQB1 und
HLA-DQA2 bei Ausbildung einer MPO-AAV (Geschlechtsinteraktion OR 2,3; 95 %-CI 1,5–3,5) (Ekman et al.
2023). P-ANCA mit anderen Zielantigenen finden sich auch in anderen Autoimmunerkrankungen, wie dem systemischen
Lupus erythematodes, der
Colitis ulcerosa oder der
rheumatoiden Arthritis. Auch hier ist die pathophysiologische Rolle geschlechtsspezifischer HLA-Varianten Gegenstand der laufenden Forschung (Sakaue et al.
2021). Eine Genotypisierung an 1762 männlichen und 1216 weiblichen Patienten mit der leukozytoklastischen Kleingefäßvaskulitis
Morbus Behçet belegt analog geschlechtsspezifische Assoziationen zwischen den Varianten
HLA-B/MICA, HLA-C und
KLRC4 und dem Auftreten der Erkrankung bei Männern sowie dem Genmarker
IFNGR1 bei Frauen (Jo et al.
2022).
Neben differierenden genetischen Polymorphismen gibt es weitere geschlechtsspezifische Pathomechanismen, die in Autoimmunprozessen, und damit u. a. bei
Vaskulitiden, wirksam sind.
Im Rahmen der COVID-19-Pandemie
und der damit verbundenen hohen Forschungsaktivität in den letzten Jahren konnten neue Erkenntnisse in Bezug auf virusassoziierte Gefäßpathologien gewonnen werden (Tanzadehpanah et al.
2023; Flaumenhaft et al.
2022). So konnte im akuten Krankheitsgeschehen neben pro-inflammatorischen
Zytokinen auch ein Anstieg von gefäßinflammatorischen und in den Gefäßumbau (vascular remodeling) involvierten Serumfaktoren nachgewiesen werden (Petrey et al.
2021). Dabei waren insbesondere Signalfaktoren der T-Zell-Aktivierung vom Typ Th2 mit schweren und intensivpflichtigen Krankheitsverläufen assoziiert. Im Hinblick auf das Geschlecht zeigte sich, dass die Th2-Immunmediatoren
IL-4 und
sCD40L bei männlichen im Vergleich zu weiblichen COVID-Patienten signifikant erhöht waren. Die Th2-Zell-vermittelte Immunantwort ist auch zentrale Wirkkaskade in der Pathophysiologie des
Kawasaki-Syndroms, einer nekrotisierenden
Vaskulitis kleiner und mittelgroßer Arterien (Bordea et al.
2022). Somit mag sich zumindest teilweise die in Zusammenhang mit einer SARS-CoV-Infektion gehäuft reportierte sekundäre, Kawasaki ähnliche Symptomatik (sog. Kawasaki-like-Syndrome) erklären (Verdoni et al.
2020). Geschlechtsspezifische Häufungen sind – anders als beim männlich prädisponierten Kawasaki-Syndrom für das
Kawasaki-like-Syndrome bislang jedoch nicht bekannt.
Die pathophysiologischen Prozesse bei der Ausbildung eines AAA (u. a. Inflammation der Aortenwand, Modulation der extrazellulären Matrix,
Apoptose von glatten Muskelzellen, Einfluss von oxidativem Stress) unterliegen zahlreichen regulierenden Mechanismen. So zeigte sich auf hormoneller Ebene in männlichen AAA-Patienten eine Assoziation mit niedrigeren Testosteronspiegeln und erhöhten LH-Spiegeln im Vergleich zu gesunden gleichaltrigen Männern (Yeap et al.
2010). Es wird gemutmaßt, dass
Testosteron u. a. aufgrund seiner anabolen Wirkung einen stabilisierenden Effekt auf die aortale Gefäßwand ausübt. Bei weiblichen Patienten weisen Umfrageergebnisse auf die Bedeutung einer frühen Menopause und dementsprechend reduzierten Östrogenspiegeln bei AAA ≥ 5 cm hin (Villard et al.
2011). Ein protektiver Einfluss einer postmenopausalen Hormonersatztherapie (Lederle et al.
2008) als potenziellem therapeutischen Ansatz bleibt angesichts einer insgesamt widersprüchlichen Studienlage jedoch umstritten (Makrygiannis et al.
2014).
Auf genetischer Ebene wird entsprechend der klinischen Beobachtungen ein Zusammenhang zwischen bestimmten Varianten (SNPs) des Androgen-, Östrogen- und Progesteronrezeptors und der Ausbildung von AAA untersucht (Golledge et al.
2011; Massart et al.
2004). So reguliert beispielsweise der Androgen-rezeptor die
Transkription des lysosomalen Transkriptionsfaktors
TFEB (Shang et al.
2021). Die Aktivierung von
TFEB in glatten Muskelzellen wiederum konnte erst kürzlich im Tiermodell als pharmazeutisches Target zur Senkung des AAA-Risikos identifiziert werden (Lu et al.
2020). Inwieweit solche neuen Targets zudem auf epigenetischer Ebene reguliert werden (können) und damit auch potenziellen Einflüssen von
Gender unterliegen, bedarf noch intensiver Forschung (Mangum et al.
2022; Gurung et al.
2020; Krishna et al.
2010).
In der multifaktoriellen Genese der
Arteriosklerose wirken auf zellulärer Ebene u. a. proinflammatorische Signalkaskaden, Makrophagenaktivierung, eine
endotheliale Dysfunktion oder Imbalancen in der Gerinnungskaskade unheilvoll zusammen (siehe Kap. „Pathophysiologie der Atherosklerose“ und Kap. „Spezielle Pathophysiologie der PAVK“). Diese unterliegen auf biologischer Ebene vielfach geschlechtsspezifischen Regulationsmechanismen (
Sex) (Regitz-Zagrosek und Gebhard
2023). So wird angenommen, dass das chromosomale Geschlecht spezifische kardiovaskuläre Phänotypen hervorbringt, die mit einem erhöhten Risiko arteriosklerotischer Erkrankungen assoziiert sind. Bislang bekannte geschlechtsspezifische Genvarianten (sog. single nucleotide polymorphisms, SNPs) von mutmaßlich kardiovaskulärer Bedeutsamkeit sind nahezu ausschließlich auf den
Autosomen zu finden (Bernabeu et al.
2021; Loley et al.
2016; König et al.
2014). Diese bislang identifizierten SNPs betreffen beispielsweise Gene in Zusammenhang mit endothelialer Dysfunktion (Yoshino et al.
2016; Liao et al.
2010), des zellulären
Metabolismus oder der gewebespezifischen Angiogenese (Boua et al.
2022).
Das gonadale Geschlecht nimmt zudem über hormonelle Regulationsmechanismen Einfluss auf die Genexpression beispielsweise von Fibroblasten oder Endothelzellen der Gefäßwand (Hartman et al.
2021; Dworatzek et al.
2019; Babcock et al.
2022). In zahlreichen klinischen Studien wurde ein Zusammenhang zwischen niedrigen Testosteronspiegeln und erhöhter kardiovaskulärer Morbidität und Mortalität bei Männern beobachtet (Traish et al.
2009). Der protektive Nutzen einer
Testosteronsubstitution ist wissenschaftlich jedoch nicht belegt (Haddad et al.
2007). Allerdings konnte in einer placebokontrollierten randomisierten Studie an 5.246 Männern mit
Hypogonadismus die langfristige Sicherheit einer Testosterongabe im Hinblick auf kardiovaskuläre Ereignisraten belegt werden (Lincoff et al.
2023). Bei Frauen wird dem endogenen Östrogen eine protektive Wirkung im Hinblick auf die Ausbildung kardiovaskulärer Erkrankungen zugeschrieben (Babcock et al.
2022). So zeigten einige Studien eine Assoziation zwischen vorzeitiger bzw. früher Menopause (< 50 Jahre) und einer erhöhten kardiovaskulären Ereignisrate (Lee et al.
2023). Die E
strogen-Plus-Progestin-Studie an 16.608 postmenopausalen Frauen konnte jedoch auch hier im Umkehrschluss keinen protektiven Effekt im Hinblick auf die Entwicklung einer KHK unter einer Hormonersatztherapie mit kombinierter Gabe von
Östrogenen und
Progesteron feststellen (Manson et al.
2003), selbiges gilt für die
pAVK (Hsia et al.
2004). Neuere Daten, wie die prospektiv randomisiert kontrollierte
ELITE-Studie, weisen auf die Bedeutung des richtigen „Timings“ einer möglichst frühzeitigen Hormonsubstitution bereits bei nachlassender ovarieller Funktion hin (Karim et al.
2022).
Zum Effekt der geschlechtsangleichenden Hormontherapie (GAHT) bei
trans-Personen auf die kardiovaskuläre Gesundheit gibt es bislang nur wenige Daten: Ein systematisches Review deutet auf ein erhöhtes
kardiovaskuläres Risiko unter GAHT bei
trans-Männern, nicht aber bei
trans-Frauen hin (Moreira Allgayer et al.
2023). Die wissenschaftliche Datenlage bei
trans-Personen ist generell noch sehr spärlich. Auch wenn in Summe nur ein kleinerer Teil der Gesellschaft hiervon betroffen ist, so muss besonders berücksichtigt werden, dass die GAHT zunehmend sehr früh, teils bereits im Kindes- und Jugendalter, eingesetzt und damit in der longitudinalen Sicht über einen Großteil des Lebens der
trans-Personen ein- und fortgesetzt wird.
Beispiele für gender- assoziierte Aspekte bei erworbenen vaskulären Erkrankungen
Studien zufolge manifestiert sich die
Arteriosklerose bereits subklinisch Jahre bevor sie klinisch in Erscheinung tritt (López-Melgar et al.
2017). Risikofaktoren der prämaturen Arteriosklerose umfassen zum einen die traditionellen kardiovaskulären Risikofaktoren, v. a. die
arterielle Hypertonie, Dyslipidämie,
Diabetes mellitus Typ 2,
Adipositas, Nikotinabusus, ungesunde Ernährungsgewohnheiten, oder Bewegungsmangel (Mehta et al.
2021). Diese unterliegen vielfältigen
gender-spezifischen Einflüssen. Beispielsweise wird das Rauchverhalten von gesellschaftlichen Normen, vorgelebten oder über Werbung und soziale Medien vermittelten Rollenbildern als auch über die ökonomischen Möglichkeiten und den Bildungsgrad stark beeinflusst (Bottorff et al.
2014). Insbesondere Mädchen tendieren beispielsweise dazu, über den Nikotinkonsum Körper(vor)bilder erfüllen zu wollen (Stice
2003). Auch die Adipositas spielt bereits im frühen Kindes- und Jugendalter eine entscheidende weichenstellende Rolle für die spätere Manifestation arteriosklerotischer Erkrankungen. Dies wird neben zahlreichen anderen Faktoren auf ein unterschiedliches Ernährungsverhalten zwischen Männern und Frauen zurückgeführt (Kanter und Caballero
2012). Zudem prädisponiert sowohl ein niedriger sozioökonomischer Status für Adipositas (Anekwe et al.
2020) als auch Adipositas umgekehrt für ein geringeres Einkommen prädisponiert – und dies insbesondere bei Frauen (Pinkston
2017).
Eine vom Global Cardiovascular Risk Consortium veröffentlichte Analyse kommt zu dem Schluss, dass sich durch strikte Kontrolle in nur fünf modifizierbaren Risikofaktoren (
Adipositas,
Hypertonie,
Hypercholesterinämie, Nikotinabusus,
Diabetes) 57,2 % der kardiovaskulären Erkrankungsfälle in Frauen und 52,6 % in Männern vermeiden ließen (Magnussen et al.
2023).
Neben der Modifikation traditioneller (und nicht traditioneller) Risikofaktoren und prädisponierender Erkrankungen tragen weitere psychosoziale Faktoren
gender- spezifisch im Kontext familiärer und/oder beruflicher Belastungen (z. B. Schichtarbeit, Noxen, Stress), in Form der psychomentalen Gesundheit (u. a. Coping-Strategien, Resilienz), des ökonomischen Wohlstands oder des Bildungsstandes zur Entwicklung und Progression von kardiovaskulären Erkrankungen bei. So zeigt eine dänische Studie, dass das Risiko einer KHK bei Nachtschicht arbeitenden Personen im Gesundheitssektor um + 6 % gegenüber Nicht-Schichtarbeitenden signifikant erhöht ist. Zwar war diese Risikoerhöhung geschlechtsunabhängig, jedoch betrug der Anteil der Frauen unter den in Nachtschicht Arbeitenden 80 % (Vestergaard et al.
2023). Ferner vermag geschlechtliche Diskriminierung, u. a. im Arbeitsumfeld, vor allem bei Frauen einen anhaltenden Stressor darzustellen und das kardiovaskuläre Risiko relevant zu erhöhen (O’Neil et al.
2018). Eine finnische Studie an 3.708 Männern (mittl. Alter 49 Jahre) und 3.966 Frauen (mittl. Alter 46,3 Jahre) weist auf eine insbesondere bei Frauen verstärkte Assoziation einer depressiven Stimmungslage mit kardiovaskulärer Erkrankung hin (Haukkala et al.
2009). Schwere und frühe psychomentale Traumata, wie sie bei körperlichem oder sexuellem Missbrauch eintreten, sind Studien zufolge starke Prädiktoren für die spätere Ausbildung kardiovaskulärer Erkrankungen (Wegman und Stetler
2009). Dies gilt ebenso für
Gewalt in Partnerschaften (Stene et al.
2013), für die junge Frauen besonders vulnerabel sind (Black et al.
2011). Eine bundesweite bevölkerungsbezogene Umfrage des
Robert Koch-Instituts an rund 24.000 Personen in Deutschland illustriert zudem, dass Frauen mit niederem Bildungsstatus häufiger von einer KHK betroffen sind als solche mit hohem Bildungsstatus (7,3 % versus 1,2 %), wohingegen bei Männern der Bildungshintergrund eine weniger ausgeprägte Rolle zu spielen scheint (6,5 % versus 5,2 %) (Busch und Kuhnert
2017).
Eine Sensibilisierung von Risikogruppen – auch unter Gender-Gesichtspunkten – und der Ausbau entsprechender geschlechtssensibler Versorgungsstrukturen sind wichtige Schritte, die kardiovaskuläre Gesundheit in der Bevölkerung zu verbessern. Diese werden umfassend im nachfolgenden Kap. „Geschlechtsspezifische Versorgung in der Gefäßmedizin“ behandelt.