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Klinische Angiologie
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Publiziert am: 23.02.2024

Isolierte tiefe Unterschenkelvenen- und Muskelvenenthrombose

Verfasst von: Sebastian M. Schellong
Die isolierte tiefe Thrombose der axialen Leitvenen und/oder der Muskelvenen des Unterschenkels (US-TVT) stellt bis zur Hälfte aller akuten Bein- und Beckenvenenthrombosen. Als limitierte Krankheitsmanifestation der venösen Thromboembolie (VTE) teilt sie das Spektrum der VTE-Risikofaktoren, allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung: Transiente Risikofaktoren sind häufiger, dafür sind idiopathische Episoden und Allgemeinerkrankungen als Komorbidität seltener, das Manifestationsalter ist jünger. Mit Ausnahme der tumorassoziierten US-TVT ist die Häufigkeit von Rezidiven gegenüber der proximalen TVT nur halb so groß, ebenso die Spätfolge des postthrombotischen Syndroms (PTS). Abortive Verläufe ohne Aszension überwiegen, sodass sich die Notwendigkeit zur Antikoagulation aus dem individuellen Risikoprofil ergibt. Sie soll, außer bei aktiver Tumorerkrankung, drei Monate nicht übersteigen.

Definition

Anatomisch betrachtet bietet sich am ehesten die Verwendung der heute im Englischen gebräuchlichen Terminologie an.
Unter „Isolated distal deep vein thrombosis“ (IDDVT) werden die Thrombose der axialen Unterschenkelvenen und die Thrombose der Muskelvenen des Unterschenkels zusammengefasst. Sie können jeweils einzeln oder in Kombination vorliegen.
Beide Entitäten sind definitionsgemäß „tiefe“ Thrombosen, da die betroffenen Venenabschnitte innerhalb der die Unterschenkelmuskulatur insgesamt begrenzenden Faszie gelegen sind. Im Folgenden wird die deutsche Abkürzung US-TVT (Unterschenkel-tiefe-Venenthrombose) als Oberbegriff verwendet.
Die anatomische Variabilität der tiefen Unterschenkelvenen ist groß. So können die drei axialen Venengruppen (anterior, posterior, fibular) streng paarig, einfach oder mehrfach angelegt sein. Anzahl und Größe der Muskelvenen sind ebenfalls variabel. Die Muskelvenen der zentral gelegenen Muskelgruppen werden – meist in drei oder vier Etagen – in die fibulare bzw. posteriore Gruppe drainiert, die Muskelvenen der beiden Gastrocnemius-Köpfe hingegen gemeinsam weiter proximal in die sog. Trifurkationsregion bzw. die V. poplitea. Hier wiederum ist die anatomische Variabilität am größten. Die Venengruppen, die die drei Unterschenkelarterien begleiten, werden proximal zu Konfluenten zusammengefasst, von denen der posteriore und fibulare manchmal untereinander querverbunden sind. Sie vereinigen sich in variabler Höhe zur Poplitealvene, die damit im streng anatomischen Sinne manchmal unterhalb und – häufiger – auf Höhe oder oberhalb des Kniegelenkspalts beginnt (Abb. 1). Bleibt die Vereinigung aus, setzen sich die Konfluenten direkt in die V. femoralis bzw. V. profunda femoris fort. Nur in diesem seltenen Fall kann von einer tatsächlich „gedoppelten“ Poplitealvene gesprochen werden. Viel häufiger trifft man auf Höhe des Kniegelenkspalts zwar ein die Arterie begleitendes Venenpaar an, das anatomisch aber noch die beiden Konfluenten der posterioren und der fibularen Gruppe darstellt.
Die Variabilität der Trifurkationsregion gibt Anlass zu einer Unschärfe in der Unterscheidung zwischen distaler und proximaler TVT, bei der traditionell erst die V. poplitea den proximalen Venen zugerechnet wird.
Getrieben durch das inzwischen allen geläufige Ultraschallbild, wird heute allerdings die Thrombosierung im Bereich der Trifurkation bereits als proximale TVT diagnostiziert. Dies ist anatomisch zwar inkorrekt, prognostisch und damit auch therapeutisch aber wohl angemessen. Mehr und mehr setzt sich aus pragmatischen Gründen durch, nur noch die paarigen axialen Venen als „distale“ Segmente zu betrachten. Diese Auffassung wird im Folgenden zugrunde gelegt.

Epidemiologie und Risikofaktoren

Aus monozentrischen Kohorten wie aus globalen Registerstudien gibt es Angaben darüber, wieviel Prozent aller symptomatischen Episoden von Beinvenenthrombosen auf die isolierte US-TVT entfallen. Die Spanne ist sehr groß und reicht von ca. 10–75 % (Schellong et al. 2019a; hier: online suppl). Die Ursachen hierfür liegen in der Verschiedenheit der betrachteten Patientenkollektive, vor allem aber in der unterschiedlichen Verfügbarkeit und unterschiedlichen Verwendung des venösen Ultraschalls. Die große Spanne der geschätzten Häufigkeiten wird sich daher kaum einengen lassen. In Zentren mit regelhafter Untersuchung des gesamten Beins liegt das Verhältnis aber bei 50 % (Johnson et al. 2010). Für den deutschsprachigen Raum muss man eher von 40–50 % ausgehen. Bei Screening-Untersuchungen in Risikosituationen ohne entsprechende Symptomatik werden regelmäßig mehr US- als proximale TVT gefunden.
Das Spektrum an Risikofaktoren für die US-TVT unterscheidet sich qualitativ nicht vom dem für die VTE insgesamt, d. h. für tiefe Beinvenenthrombose und Lungenembolie. Mehrere große Kohortenstudien haben jedoch übereinstimmend quantitative Unterschiede herausgearbeitet. So sind im statistischen Vergleich zu proximaler TVT und Lungenembolie Patienten mit US-TVT jünger, haben weniger komorbide Allgemeinerkrankungen, inklusive aktive Tumorerkrankungen, und weisen häufiger transiente Risikofaktoren auf, insbesondere Verletzungen oder Operationen der unteren Extremität. Gleich häufig und bedeutsam allerdings ist das Vorkommen bei malignen Erkrankungen. (Tab. 1)
Tab. 1
Vergleich ausgewählter Patientencharakteristika zwischen US-TVT (IDDVT) und proximaler TVT (PDVT) in vier großen Registerstudien
 
OPTIMEV (Galanaud et al. 2009)
n = 1643
GARFIELD-VTE (Schellong et al. 2019a)
n = 10.088
RE-COVERY (Schellong et al. 2019b)
n = 5722
RIETE (Bikdeli et al. 2022)
n = 33.897
 
IDDVT
PDVT
IDDVT
PDVT
PE
IDDVT
PDVT
PE
IDDVT
PE
Frauen [%]
57
43
21
38
41
18
40
43
50
49
Alter [Jahre]
62
69
56
58
60
58
62
63
61
65
Frühere VTE [%]
29
34
14
17
15
11
13
10
14
17
Aktiver Tumor [%]
11
20
7
10
10
8
10
12
12
17
Trauma/SOP [%]
22
12
28
18
18
6
7
8
16
9
Östrogeneinnahme [%]
8
6
11
10
10
< 1
< 1
< 1
14
10
Einen Sonderfall stellt die Thrombose par effort der Gastrocnemius-Venen dar. Sie betrifft überwiegend junge Menschen mit einer jüngst zurückliegenden Episode von übermäßigem Beinsport oder anderweitiger ihrem Trainingszustand nicht angemessener Beinbelastung.

Natürlicher Verlauf

Zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung stellt eine auf den Unterschenkel limitierte TVT einen geringen Schaden dar. Das Abflusshindernis ist – in Abhängigkeit von Anzahl und Lokalisation der betroffenen Venensegmente – gering, die Menge an emboligenem Material ebenfalls. Die Bedeutung des Befundes ergibt sich aus drei potenziellen Entwicklungen: der Aszension, des Rezidivs und des postthrombotischen Syndroms.

Aszension

Wie jede proximale TVT hat auch die US-TVT das Potenzial, weiter nach proximal zu aszendieren. Die Dynamik der Aszension als solche birgt mit zunehmender, nicht wandhaftender Thrombusmasse die Gefahr der Embolisation. Zusätzlich wird das Abflusshindernis größer. Für beide schädlichen Entwicklungen darf eine Schwelle angenommen werden, bei deren Überschreiten der Schaden bzw. die Gefahr sprunghaft zunimmt. Das ist dann der Fall, wenn aus der isolierten distalen eine proximale TVT wird, d. h. mit Erreichen der Trifurkationsregion bzw. der V. poplitea.
Die Dynamik der Aszension wiederum wird bestimmt von der Stärke und der Dauer der aktuell vorherrschenden Risikofaktoren. Sind Stärke und Dauer gering, ist ein vollständig abortiver Verlauf möglich, sodass der Schaden der gesamten Episode gering bleibt.
Daten darüber, in welcher Häufigkeit und mit welcher Geschwindigkeit eine US-TVT durch Aszension zur proximalen TVT wird, lassen sich zuverlässig nur aus prospektiven Beobachtungen von Patienten mit akuter US-TVT gewinnen, die keine Antikoagulation bekommen. Derartige Beobachtungen finden sich in sog. Surveillance-Studien mit seriellem Ultraschall sowie in RCTs mit einem Nicht-Behandlungs-Arm und einem Ultraschall-Endpunkt. Einige wenige solcher Studienergebnisse liegen vor (Porfidia et al. 2016), zeigen aber eine breite Varianz zwischen 1 % und 22 % Aszensionsrate. Als Einzelstudie am transparentesten ist nach wie vor die CALTHRO-Studie (Palareti et al. 2010), in der nach 3-monatigem Follow-up mehr als 90 % eine komplette Auflösung des Thrombus und nur 4,7 % eine Aszension nach proximal aufwiesen. Dagegen stehen die Daten einer großen randomisierten Diagnostikstudie (Bernardi et al. 2008) mit einer Aszensionsrate von 22 %. Die Erklärung für diese große Varianz liegt am ehesten im unterschiedlichen Risikoprofil der untersuchten Patienten. So hatten 30 % der Patienten in der Bernardi-Studie eine aktive Krebserkrankung. Auch jeder andere andauernde starke Risikofaktor muss als Ursache für eine größere Aszensions-Dynamik angesehen werden. Dennoch kann man zumindest für ambulante Patienten ohne Tumorerkrankung von einer Rate unbehandelt abortiver Verläufe von über 90 % ausgehen.

Rezidiv

Eine inzwischen größere Anzahl von Kohortenstudien mit mehreren Tausend Patienten haben Rezidivraten im Verlauf mehrerer Monate oder sogar Jahre ermittelt, darunter neben anderen kleineren die oben genannten großen VTE-Register. Die beobachteten Patienten waren in der Regel allerdings mit unterschiedlicher Dauer antikoaguliert, sodass es sich nicht um den „natürlichen“ Verlauf handelt. Eine aktuelle Zusammenfassung der Ergebnisse geben Potere und Ageno (Potere und Ageno 2023). Der wesentliche Befund ist, dass die US-TVT eine in etwa halb so hohe Rezidivrate aufweist wie die proximale TVT oder die Lungenembolie; er gilt auch bei gesonderter Betrachtung isolierter axialer bzw. muskulärer US-TVTs. Dieser Unterschied ist aber aufgehoben, wenn es sich um tumorassoziierte Thrombosen handelt, sodass sich die Rezidivraten zwischen US-TVT und proximaler TVT auf einem höheren Niveau angleichen, wenn auch mit kleinen Unterschieden für verschiedene Tumorentitäten. Für weitere Subgruppen konnten intermediär höhere Rezidivraten als der Durchschnitt ermittelt werden, so für die bilaterale US-TVT oder die Einbeziehung der Trifurkationsregion. Nach Absetzen der Antikoagulation wird der Unterschied zwischen US-TVT und proximaler TVT eher noch größer, was für einen deutlich unkomplizierteren Langzeitverlauf der US-TVT spricht. Dasselbe gilt interessanterweise für die idiopathische, d. h. die US-TVT ohne jeden Risikofaktor (Valerio et al. 2019).

Postthrombotisches Syndrom

Ungleich weniger Studien haben mit verlässlichen Endpunkten die Häufigkeit und Schwere des postthrombotischen Syndroms (PTS) nach US-TVT untersucht. Am aussagekräftigsten ist hier insbesondere der Vergleich zu Patienten mit proximaler TVT. So konnte im TULIPA-Register eine PTS-Rate von 15,6 % gegenüber 32 % ermittelt werden (Hach-Wunderle et al. 2012). Der Unterschied war etwas kleiner in der jüngsten Auswertung des RIETE-Registers (Bikdeli et al. 2022). Trotz großer methodischer Unterschiede ergibt sich das klare Bild, dass sowohl die Häufigkeit als auch die Schwere des PTS geringer sind als bei proximaler TVT. Von mehr als der Hälfte der Patienten darf angenommen werden, dass sie gar kein PTS bekommen.

Klinik

Da das Abflusshindernis bei US-TVT deutlich kleiner ist als bei proximaler oder gar einer Beckenvenenthrombose, sind auch die klinischen Beschwerden und diagnostischen Hinweiszeichen vergleichsweise gering ausgeprägt. Die für proximale TVT einigermaßen spezifische Schwellung des ganzen Beines, Hervortreten von Kollateralvenen oder Glanzhaut sind Folgen eines strategisch gelegenen Abflusshindernisses in der V. femoralis communis oder V. iliaca und entfallen daher bei der US-TVT. Außer einer geringen Schwellung bzw. nur Schwellneigung bei Herabhängen des Beines wird bei der körperlichen Untersuchung nichts festzustellen sein – wenn überhaupt. Es hat sich aber zumindest in Europa durchgesetzt, jede neu aufgetretene einseitige Beinbeschwerde gleich welcher Art als Verdachtsmoment für eine TVT anzusehen und eine entsprechende Ultraschalluntersuchung vorzusehen.
Ein Sonderfall auch in dieser Hinsicht ist die Muskelvenenthrombose par effort. Sie verursacht heftigste, streng lokalisierte Schmerzen. Der Schmerzort ist identisch mit dem später in der Bildgebung als thrombosiert gefundenen Segment der betroffenen Gastrocnemiusvene.

Diagnostik

Der diagnostische Standard zur Abklärung des Verdachts auf TVT ist heute die Kompressionssonografie. Soll zum Untersuchungsprotokoll die Darstellung der distalen Venen gehören, ist der Patient nach Untersuchung der proximalen Venen aufzusetzen und im Sitzen weiter zu untersuchen.
Es empfiehlt sich, das zu untersuchende Bein auf einen niedrigen Schemel zu stellen, um eine gut fixierte Position zu erreichen. Sie ist hilfreich bei der anatomischen Orientierung und unterstützt das Widerlager bei den wiederholten Kompressionsmanövern.
Zuverlässige Befunde (Schwarz et al. 2002) entstehen nur, wenn vor jedem einzelnen Kompressionsmanöver die anatomische Position eindeutig geklärt ist (Abb. 2). Ein Ödem oder ein übergroßer Beinumfang können die Untersuchungsbedingungen so weit beeinträchtigen, dass kein zuverlässiger Befund erhoben werden kann.
In diesem Fall muss man sich auf die Untersuchung der Poplitealregion beschränken und im negativen Falle eine Wiederholungsuntersuchung nach sieben Tagen ansetzen. Eine obligat behandlungsbedürftige proximale TVT ist ja für diesen Zeitraum bereits ausgeschlossen.
Die Phlebografie muss heute als obsolet gelten. Es fehlen flächendeckend sowohl die notwendige Ausrüstung wie Übung für dieses Verfahren.

Therapie

Vor dem Hintergrund der hohen Rate an abortiven Verläufen, der niedrigeren Rate an Rezidiven und der niedrigen Inzidenz eines postthrombotischen Syndroms im Vergleich zur proximalen TVT stellt sich die Frage, ob wirklich alle Patienten mit US-TVT eine Antikoagulation benötigen. Aufschluss geben am ehesten prospektive, randomisierte Studien, in denen die Behandlung mit Antikoagulanzien verglichen wird mit dem Verzicht auf Antikoagulation. In einer Metaanalyse aus dem Jahr 2017 (Franco et al. 2017) wie auch in der Cochrane-Metaanalyse von 2020 (Kirkilesis et al. 2020) werden jeweils fünf derartige Studien aufgeführt (Lagerstedt et al. 1985; Nielsen et al. 1994; Barrelier et al. 2010; Horner et al. 2014; Schwarz et al. 2010; Righini et al. 2016). Die drei Studien mit den meisten Patienten zeigten keinen signifikanten Unterschied bezüglich der Rezidivrate und der Lungenembolie, darunter insbesondere die jüngste und methodisch sorgfältigste mit den meisten randomisierten Patienten (Righini et al. 2016). Die Bewertung dieses Ergebnisses muss berücksichtigen, dass hier sog. Niedrigrisikopatienten eingeschlossen wurden, d. h. Patienten ohne maligne Tumorerkrankung oder frühere Episode von VTE. Die extrem lange Rekrutierungsdauer von fast sieben Jahren deutet zusätzlich darauf hin, dass die beteiligten Untersucher offenbar außerhalb des Protokolls zusätzliche Gründe hatten, Patienten nicht in diese Studie einzuschließen. Man kann daher davon ausgehen, dass es am niedrigen Ende einer Risikoskala eine nicht unbeträchtliche Zahl von Patienten mit US-TVT gibt, die keine Antikoagulation benötigen. Darüber hinaus ist interessant, dass die sechswöchige Gabe von niedermolekularem Heparin bei diesen Patienten weder die anfänglichen Schmerzen noch die Rate von PTS im Langzeitverlauf reduzieren konnte (Righini et al. 2019; Galanaud et al. 2019).
Anders verhält es sich am oberen Ende der Risikoskala, d. h. bei Patienten mit aktiver Krebserkrankung. Ohne dass für diese Patienten eine randomisierte Studie vorliegt, geben die ungleich höheren Rezidivraten aus retrospektiven wie prospektiven Kohortenstudien den klaren Hinweis, dass eine Antikoagulation notwendig ist. Auch die Dauer wurde für diese Konstellation nicht prospektiv untersucht. In Analogie zur proximalen TVT bzw. Lungenembolie bei aktiver Krebserkrankung ist aber plausibel, die Antikoagulation so lange fortzuführen, wie die Erkrankung andauert. Voraussetzung ist hier, dass nicht ein deutlich erhöhtes oder durch das Fortschreiten der Erkrankung zunehmendes Blutungsrisiko dagegenspricht. Dass die Inzidenz von Blutungen unter Antikoagulation bei Tumorpatienten höher ist, ist lange bekannt, konnte spezifisch für die US-TVT aber ebenfalls nachgewiesen werden (Brown et al. 2023).
Für das breite Feld der Risikoskala zwischen diesen Polen ist man auf die Interpretation der zahlreichen Kohortenstudien angewiesen, die zum Teil retrospektiv verschiedene Modalitäten von Antikoagulation untereinander oder Patienten ohne Antikoagulation miteinander verglichen, zum anderen Teil prospektiv Rezidiv- und Blutungsraten rein deskriptiv berichtet haben. In der Metaanalyse von Franco (Franco et al. 2017) wird zusammengefasst, dass jede Art von Antikoagulation dem Verzicht auf Antikoagulation bezüglich der Rezidivrate, ja sogar der Inzidenz von Lungenembolien überlegen ist. Naturgemäß bleiben für diese Zusammenfassung sämtliche Formen von Bias, vor allem bei der Zusammenstellung der Kohorten, und alle Differenzen der Nachbeobachtungsdauern oder diagnostischen Methoden unberücksichtigt. Sie werden auch nur unbefriedigend durch die Berücksichtigung einer vergleichsweise großen Zahl von Studien und Patienten ausgeglichen. Das Ergebnis steht jedoch in Einklang mit der Tatsache, dass in großen, teils multinationalen Registern mehr al 95 % aller Patienten mit US-TVT im Versorgungsalltag antikoaguliert werden (Schellong et al. 2019a, b; Bikdeli et al. 2022).
Gänzlich ohne Datengrundlage bleibt die Frage, ob für ein limitiertes Geschehen wie die US-TVT möglicherweise eine geringere als die therapeutische Dosis von Antikoagulanzien ausreichend ist. Die wenigen, methodisch fragwürdigen Vergleiche aus Kohortenstudien geben hier weder hinsichtlich der Effektivität noch der Blutungshäufigkeit eine klare Auskunft. Die Frage hat aber an Bedeutung verloren, seit bis auf wenige Ausnahmen alle Formen von VTE mit DOACs behandelt werden. Für die US-TVT ist zwar diesbezüglich keine randomisierte Studie durchgeführt worden. Es gibt aber keinen Grund, im Analogieschluss zur proximalen TVT und zur Lungenembolie deren Wirksamkeit und Sicherheit anzuzweifeln. Ihre generell niedrige Blutungsrate wiederum gibt keinen Anlass, mit einer anderen als der therapeutischen Dosis zu behandeln.
Die Frage der Dauer der Antikoagulation dagegen ist in randomisierten Studien untersucht worden. Denn auch hier gibt es wegen der limitierten Natur der US-TVT den Ansatz, die Mindestdauer von drei Monaten zu unterschreiten. Die gemeinsame Betrachtung von drei Studien in der Metaanalyse von Franco wie auch die jüngste Studie von Ageno, die sechs Wochen Rivaroxaban mit drei Monaten verglichen hat (Ageno et al. 2022), zeigen eindeutig, dass die Dauer von drei Monaten zu bevorzugen ist, ohne dass das Blutungsrisiko ansteigt. Generell steigt die Blutungshäufigkeit den Kohortenstudien mit längerer Beobachtungsdauer zufolge erst nach Ende des dritten Monats klinisch bedeutsam an.
Die isolierte distale Muskelvenenthrombose ist in vergleichenden Kohortenstudien bezüglich Aszensionsrate und Rezidivrate zu wenig unterschiedlich (Galanaud et al. 2014), um für sie gesondert abweichende Empfehlungen zu geben.
Zwei anerkannte internationale Leitlinien (Stevens et al. 2021; Kakkos et al. 2021) gehen ausführlich auf eine alternative Behandlungsstrategie ein. Es ist dies der Verzicht auf Antikoagulation mit aktiver Ultraschall-Surveillance bei Patienten mit eher niedrigem Rezidivrisiko. Die ACCP Guideline führt als Entscheidungshilfe u. a. folgende Kriterien auf:
Kriterien für primären surveillance-Ansatz
keine idiopathische Episode
keine Tumorerkrankung
keine frühere VTE
limitierte Thrombusmasse
kein auffällig erhöhtes D-Dimer.
Als Kontrollintervall gelten 7–10 Tage. Bei Aszension nach proximal muss dann natürlich mit der Antikoagulation begonnen werden.
Auf jeden Fall zu erwägen ist diese Strategie bei Patienten, die ein erhöhtes Blutungsrisiko haben oder Bedenken gegen eine Antikoagulation.
Angesichts der leichten Verfügbarkeit der Kompressionssonografie in den deutschsprachigen Ländern könnte dieses Vorgehen aus Sicht des Autors für einen beträchtlichen Anteil von Patienten in der unteren Hälfte der Risikoskala in Betracht kommen, da es der pathophysiologischen Besonderheit der US-TVT durchaus Rechnung trägt. Die deutsche S2-Leitlinie rückt diese Strategie allerdings stark in den Hintergrund (Linnemann et al. 2023)
Sicher keine Antikoagulation benötigt die Muskelvenenthrombose par effort, da sie immer einen selbstlimitierenden Verlauf nimmt.
Gibt es auch in der Wahl einer Behandlungsstrategie durchaus einen breiteren Korridor als im Versorgungsalltag genutzt wird, sollte klar sein, dass eine Antikoagulationsdauer der US-TVT von über drei Monaten außer bei Tumorpatienten keine Berechtigung hat. Umso bedenklicher stimmen daher die Daten aus den großen Registern, dass auch nach sechs Monaten noch 90 % und nach einem Jahr noch 75 % der Patienten antikoaguliert sind (Schellong et al. 2019a, b; Bikdeli et al. 2022).
Eine US-TVT soll nicht länger als drei Monate antikoaguliert werden, außer bei Tumorpatienten.
Zur Kompressionstherapie bei US-TVT liegen keine Daten vor. Im deutschsprachigen Raum wird traditionell die Kompression stark empfohlen, in den meisten anderen Ländern gilt sie als wirkungslos, zumindest zur Verhinderung eines PTS. Der pragmatische Ansatz besteht darin, sie beschwerdeadaptiert zu empfehlen, in jedem Fall als wadenlange, nur am Tage zu tragende Bestrumpfung der Kompressionsklasse II.
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