Im folgenden Abschnitt werden die ersten zwei Fragestellungen diskutiert. Zu den Fragen 3 und 4 sei auf das Kap. „Hereditäre Thrombophilie“ verwiesen.
Kann mein Patient bluten?
Oft wird für diese Fragestellung, z. B. vor invasiven Eingriffen, die sogenannte globale
Gerinnungsdiagnostik ohne ein einziges klinisches Korrelat angefordert, womit die Thrombozytenzahl
, der Quick-Wert
und die aPTT
gemeint sind:
Generell ist eine Analyse der einzelnen Gerinnungsproteine nur dann gerechtfertigt, wenn der Quick-Wert oder die aPTT pathologisch ausfallen.
Allerdings schließen infolge des dafür erforderlichen erheblichen Abfalls der Gerinnungsproteine ein normaler Quick-Wert oder eine normale aPTT eine milde Blutungsdiathese nicht aus, die in einer Stresssituation (z. B. Trauma oder operativer Eingriff) doch relevant sein kann.
Ausnahmen zu der Regel, bezogen auf die Bestimmung der einzelnen Gerinnungsproteine, stellen das
Von-Willebrand-Syndrom und der Faktor-XIII-Mangel
dar. Das Von-Willebrand-Syndrom führt bei milder Form nicht unbedingt zu einer aPTT-Verlängerung, bzw. kann die aPTT-Verlängerung kaum auffallen. Deshalb kann die Von-Willebrand-Diagnostik bei entsprechender klinischer Konstellation in Betracht gezogen werden.
Für den
Gerinnungsfaktor XIII gibt es keinen validierten Funktionstest. Deshalb muss bei einer berechtigten Indikation die Konzentration bestimmt werden. Ein angeborener Faktor-XIII-Mangel ist allerdings sehr selten (1:2.000.000 Bevölkerung). Die allermeisten in der Literatur beschriebenen Faktor-XIII-Mangelzustände sind die Folge einer Grunderkrankung, z. B. Blutung, Trauma, chirurgischer Eingriff,
Leberzirrhose, oder chronische entzündliche Darmerkrankung. Auch während einer Schwangerschaft kann es zu einem milden Faktor-XIII-Mangel kommen. Daher mag ein Faktor-XIII-Mangel mit einer Blutung korrelieren, dies bedeutet keineswegs eine Ursache-Wirkung-Beziehung.
Selbst bei Patienten mit Gerinnungsstörungen infolge einer Grunderkrankung, wie z. B. einer
Leberzirrhose oder einer
Thrombozytopenie infolge einer malignen Erkrankung oder Chemotherapie, lässt sich anhand eines Gerinnungstests eine Blutung nicht vorhersagen. Bei solchen Patienten mit bekannten Koagulopathien können die globalen Gerinnungstests allerdings vor einem invasiven Eingriff mit relevantem Blutungsrisiko zwecks Therapiesteuerung sinnvoll sein.
Zusammengefasst existieren keine Testmethoden, um ein Blutungsrisiko vorhersagen zu können.
Warum blutet mein Patient?
Eine gute Grundlage zur Einordnung der
Gerinnungsdiagnostik stellt der bereits erwähnte Blutungsfragebogen
dar.
Bei einer angeborenen Blutungsdiathese besitzen Betroffene in Deutschland in der Regel einen Nothilfeausweis mit Angabe der Gerinnungsstörung, des Störungsgrads, der Behandlungsempfehlung im Notfall und des behandelnden Zentrums, sodass wiederholte Tests vermieden werden können und Maßnahmen bei einer Blutung bereits festgelegt sind.
Bei einer positiven Eigenanamnese
und familiär bereits bekannter Gerinnungsstörung kann die
Gerinnungsdiagnostik vorerst auf die bekannte Gerinnungsstörung beschränkt werden.
Bei einer positiven Eigenanamnese, und möglicherweise auch familiärer Blutungsdiathese, jedoch noch nicht diagnostizierter Gerinnungsstörung, kann ein pathologischer Quick-Wert oder eine aPTT-Verlängerung hilfreich sein, um die Suche besser zu spezifizieren:
Falls die globalen Gerinnungstests unauffällig ausfallen, dann erfolgt die Diagnostik nach epidemiologischen Gesichtspunkten („Häufig ist häufig, selten ist selten“). Folglich erfolgt zuerst die Suche nach einer Von-Willebrand-Erkrankung. Da bei dieser Diagnostik der Faktor VIII mitbestimmt wird, kann die nächsthäufige angeborene Blutungsdiathese, nämlich der Faktor-VIII-Mangel, mit ausgeschlossen werden. Falls dies negativ ausfallen sollte, erfolgt die weitere Suche nach den sehr seltenen plasmatischen Gerinnungsstörungen. In solchen Fällen ist die Vorstellung bei einem Hämostaseologen sinnvoll.
Hereditäre
Thrombozytopathien sind selten. Allerdings liegt hier auch das Problem in dem Mangel an Gerinnungstests, die sensitiv und spezifisch genug sind.
Oft müssen die Plättchenfunktionstests unter standardisierten Bedingungen mehrfach wiederholt werden, bevor man einen pathologischen Befund als sicher annimmt und mögliche Konsequenzen ableitet. Darüber hinaus ist in einigen Zentren die
Durchflusszytometrie oder Untersuchung der Thrombozytengranula oder deren Oberfläche möglich, wobei die Korrelation zwischen solchen Laborergebnissen und dem klinischen Syndrom nicht einfach ist.
Bei erworbenen Blutungsdiathesen richtet sich die
Gerinnungsdiagnostik meist nach der zugrunde liegenden Erkrankung oder der medikamentösen Therapie.
Die
Leberzirrhose gilt als eine der häufigsten Erkrankungen mit einer Koagulopathie. Bis auf Hämatome an Druckstellen kommen relevante spontane Blutungen bei diesen Patienten sonst selten vor. Die häufigste Blutung in dieser Population ist die obere Gastrointestinalblutung, die jedoch Folge der portalen
Hypertonie ist. Die ohnehin eingeschränkte Gerinnung wird dann durch die Blutung in ein Ungleichgewicht gebracht, wodurch eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt wird. Dies bedeutet, dass die
Gerinnungsdiagnostik nicht dazu dient, die Frage nach der Blutungsursache zu definieren, sondern eher die Blutungstherapie zu steuern. Hier kann mit gewisser logischer Vorgehensweise die erforderliche Gerinnungsdiagnostik zusammengefasst werden, wobei deren Limitationen stets in Erinnerung bleiben sollten:
-
Fibrinogen als das Endsubstrat der Gerinnselbildung wird in der Leber synthetisiert; daher soll man den Fibrinogen-Spiegel ermitteln, zumal der Fibrinogen-Spiegel sowohl den Quick-Wert
als auch die aPTT
direkt beeinflusst.
-
Der Quick-Wert und die aPTT können, unter Berücksichtigung des Fibrinogen-Spiegels, zur Therapiesteuerung herangezogen werden.
-
Die Thrombozytenzahl ist relevant, wobei die Thrombozytenfunktion infolge der Leberzirrhose herabgesetzt sein kann. Außerdem ist die Thrombozytenaggregation von Fibrinogen abhängig.
Bei Patienten mit sekundärer
Thrombozytopenie, infolge einer Knochenmarkerkrankung (z. B. Leukämie) oder Chemotherapie, kommt eine spontane Blutung meist bei einer Thrombozytenzahl unter 5–10×10
9/l vor (Slichter
2004,
2007).
Patienten mit einer schweren
Thrombozytopenie können einem Blutungsrisiko ausgesetzt sein, wenn der Verbrauch an
Thrombozyten stark gesteigert ist, z. B. durch eine systemische Inflammation.
Die Suche nach den seltenen erworbenen Blutungsdiathesen sollte stets aus der klinischen Konstellation abgeleitet werden. Das erworbene
Von-Willebrand-Syndrom sollte bei entsprechender Grunderkrankung oder medizinischen Maßnahmen in Betracht gezogen werden und die Von-Willebrand-Diagnostik angefordert werden. Die erworbene Hemmkörper-Hämophilie kann bei einer normalen aPTT schnell ausgeschlossen werden.
Blutungsereignisse infolge einer Antikoagulation können direkte Folgen des Medikamentes (Überdosierung bei falscher Einnahme oder infolge eingeschränkter Abbauwege) oder aber auch Potenzierung einer bereits vorliegenden Störung bei regelrechter Dosierung sein. Eine Blutung kann auch unter therapeutischer Dosierung vorkommen, wobei die Ursache für den Beginn einer Blutung nicht unbedingt die Antikoagulation sein muss, sondern diese lediglich die weitere Blutung propagiert.
Orale Antikoagulantien
Eine Blutung unter oraler Antikoagulation ist nicht immer die Folge einer fehlerhaften Einnahme, sondern kann auch durch Leber- oder Nierenfunktionseinschränkung oder Medikamenteninteraktion eintreten.
Vitamin-K-Antagonisten: Die Quick/INR-Bestimmung reicht bei einem Blutungsereignis aus, sowohl als Diagnostik als auch zwecks Therapiesteuerung.
Direkte orale Antikoagulantien (DOAC): Bei einer vermuteten Blutung unter diesen Medikamenten kann ein strukturiertes diagnostisches Vorgehen je nach methodischer Verfügbarkeit hilfreich sein. Obwohl deren Zuverlässigkeit begrenzt ist, können der Quick-Wert
und die aPTT
erste Hinweise auf eine mögliche Überdosierung
liefern. Ein pathologischer Quick-Wert könnte auf eine Dabigatran-Überdosierung hinweisen, während eine aPTT-Verlängerung auf eine Überdosierung der direkten Faktor-Xa-Hemmer hindeuten könnte (Burnett et al.
2016). Eine Überdosierung der DOAC lässt sich mit der Bestimmung des Medikamentenspiegels bestätigen.
Thrombozytenfunktionshemmer
Gastrointestinale Blutungen sind die häufigsten mit dieser Medikamentengruppe assoziierten Blutungen. Es gibt auf dem Markt mehrere Plättchenfunktionstests. Diese erlauben allerdings keine Graduierung der Plättchenhemmung, sondern weisen lediglich die Medikamenteneinnahme nach. Daher hat eine Labordiagnostik der Thrombozytenfunktion im Falle einer Blutung keinen Sinn.
Parenterale Antikoagulantien
Das unfraktionierte Heparin
in therapeutischer Dosierung wird in aller Regel im stationären Bereich kontinuierlich intravenös eingesetzt. Eine Blutung infolge dieser Therapie kommt meist durch eine übersteuerte aPTT zustande. Bei einer aPTT-Verlängerung aus anderen Gründen, z. B. einem
Antiphospholipid-Syndrom oder einem hereditären Faktor-XII-Mangel
, sollte die Anti-Faktor-Xa-Aktivität
anstelle der aPTT zur Therapiesteuerung herangezogen werden.
Der Einsatz der direkten parenteralen Antikoagulantien kommt in aller Regel im Rahmen der Therapie einer Heparin-induzierten
Thrombozytopenie (Argartroban) bzw. in der Kardiologie (Bivalirudin) vor. Diese Medikamente zeichnen sich zwar durch ihre kurze
Halbwertszeit aus, es kann allerdings durch Leberdysfunktion (
Argatroban) bzw. Nierendysfunktion (Bivalirudin) zur
Kumulation und folglich zu erhöhtem Blutungsrisiko kommen. Obwohl die aPTT häufig zur Therapieüberwachung bei beiden Medikamenten angewandt wird, kann bei Blutungen oder einem erhöhten Blutungsrisiko die Kontrolle mit besseren Labormethoden, z. B.
dilute thrombin time oder
ecarin clotting time, erforderlich werden.