Einleitung
Chronische Venenkrankheiten sind langfristig bestehende morphologische oder funktionelle Abnormitäten des Venensystems mit Symptomen oder Veränderungen, die eine weitere Abklärung oder Therapie erforderlich macht (Eklöf et al.
2009) (s. Kap. „Klinisches Bild und diagnostisches Vorgehen bei
chronisch venöser Insuffizienz)“. International hat sich die Klassifikation der chronischen Venenkrankheiten mit der CEAP-Klassifikation, die sowohl klinische (C), ätiologische (E), anatomische (A) als auch pathophysiologische (P) Kriterien berücksichtigt, durchgesetzt (Lurie et al.
2020) (Tab.
1). In den meisten Studien wird vorwiegend die klinische Klassifikation (C) verwendet. In jeder Klasse können subjektive Symptome wie Schweregefühl, Schmerzen oder Spannungsgefühl bestehen. Dies wird mit einem „s“ für symptomatische Venenkrankheit gekennzeichnet.
Tab. 1
Klinische Klassen der CEAP-Klassifikation (Aktualisierung 2020)
C0 | Keine sichtbaren oder tastbaren Zeichen einer venösen Insuffizienz |
C1 | Besenreiser und/oder retikuläre Varizen |
C2 | Varikose |
C2r | Rezidivvarikose |
C3 | Ödem |
C4 | Hautveränderungen |
C4a | Pigmentierung, Ekzem |
C4b | Atrophie blanche, Dermatoliposklerose |
C4c | Corona phlebectatica paraplantaris |
C5 | Abgeheiltes Ulcus cruris venosum |
C6 | |
C6r | Rezidivierendes Ulcus cruris venosum |
Die CEAP-Klassifikation hat rein beschreibende Funktion. Die Beurteilung des Schweregrades einer chronischen Venenkrankheit erfolgt beispielsweise mit dem „revised Venous Clinical Severity Score“ (rVCSS) (Vasquez et al.
2010).
Unter einer
chronischen venösen Insuffizienz (CVI)
wird eine chronische Venenkrankheit verstanden, die zu objektiven Veränderungen an der Haut oder am Unterhautfettgewebe geführt hat (Eklöf et al.
2009).
Objektivierbare Veränderungen sind das venöse Ödem, Pigmentierungen, Ekzem, Dermatoliposklerose, Atrophie blanche, Corona phlebectatica paraplantaris und Ulcus cruris. In der CEAP-Klassifikation entspricht dies den Klassen C3–C6 (Eklöf et al.
2009). Ursächliche Krankheitsbilder der CVI sind beispielsweise die Varikose
, postthrombotische Venenveränderungen
oder
venöse Malformationen (Eklöf et al.
2009) (s. Kap. „Klinisches Bild und diagnostisches Vorgehen bei chronisch venöser Insuffizienz“ und Kap. „Klinisches Bild und diagnostisches Vorgehen bei vaskulären Malformationen“). Aber auch Krankheitsbilder, die nicht mit morphologischen Venenveränderungen einhergehen, wie die
Adipositas oder das arthrogene Stauungssyndrom mit Einsteifung im oberen Sprunggelenk, können aufgrund ihres negativen Einflusses auf die venöse Hämodynamik zu Veränderungen im Sinne einer CVI bis hin zum Ulcus cruris führen (Padberg et al.
2003).
Behandlungsziele
Die Kompressionstherapie
ist wesentlicher Teil des Therapiekonzepts der CVI (Pannier et al.
2019; Rabe et al.
2019). In der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie zur Kompressionstherapie heißt es: „Die medizinische Kompressionstherapie soll integraler Bestandteil der Therapie phlebologischer Krankheitsbilder sein. Sie kann mit MKS, PKV oder MAK erfolgen. Voraussetzung sind spezielle Kenntnisse und Erfahrungen sowohl hinsichtlich Diagnose, Differentialdiagnose, Risiken und Kontraindikationen als auch in der Verordnung zeitgemäßer Kompressionsmaterialien und der Technik des Anlegens.“ (Rabe et al.
2019).
Die Kompressionstherapie ist eine symptomorientierte Behandlung. Ziel der Kompressionsbehandlung ist die Besserung der subjektiven Beschwerden, einschließlich der
Lebensqualität, und der objektiven Veränderungen einschließlich der Ulkusheilung und der Ulkusrezidivprophylaxe (Rabe et al.
2019).
Durchführung
Die Kompressionstherapie kann mit medizinischen Kompressionsstrümpfen (MKS), phlebologischen Kompressionsverbänden (PKV), medizinischen adaptiven Kompressionsmitteln (MAK) oder der apparativen intermittierenden Kompression (AIK) durchgeführt werden.
Hauptindikation des PKV ist die initiale Behandlung des Ödem
s und des Ulcus cruris. Nachteil des PKV ist der Druckverlust innerhalb weniger Stunden nach dem Anlegen. Nach initialer Entstauung kann meist die Dauerbehandlung mit MKS durchgeführt werden. Dabei haben sich in der Ulkustherapie bei geeigneten Ulzera spezielle 2-lagige Ulkuskompressionsstrümpfe bewährt. Vorteil ist das Selbstmanagement durch die Patienten und die Aufrechterhaltung eines gleichbleibenden Andrucks. Bei zirkulären oder stark nässenden Ulzera kann die PKV-Behandlung verlängert werden. MAK bestehen aus wenig elastischen Kompressionsmitteln, die mit definiertem Druck am Bein angelegt werden und mittels Klettverschlüsse fixiert werden. MAK können als Alternative zum Kompressionsverband sowohl bei der initialen Ödem- wie auch bei der Ulkustherapie eingesetzt werden. Vorteil ist die Möglichkeit der standardisierten Selbstanlage durch den Patienten und der Nachjustierung des Anlagedrucks (Mosti und Partsch
2017).
Gemäß der Leitlinie zur Kompressionstherapie ist bei allen Kompressionsmitteln zu beachten, dass wegen der umgekehrten Proportionalität des Andrucks zum Radius in kritischen Fällen (z. B. Kachexie), bei kleinen Radien (z. B. Knöchelregion) sowie bei außergewöhnlichen Änderungen der Beinumfänge (z. B. Bisgaard-Kulissen, Achillessehne) eine Auf- und Abpolsterung von Umfangdifferenzen unter der Kompressionsversorgung erfolgen soll, um einerseits die Wirksamkeit zu steigern und andererseits einer Druckschädigung vorzubeugen (Rabe et al.
2019)
Bei der Auswahl und der Verordnung der Kompressionsmaterialien sollte neben dem erforderlichen Druck auch die an den besten geeigneten Materialien berücksichtigt werden.
Die Wirkung der Kompressionsversorgung hängt sowohl vom Druck als auch von den Materialeigenschaften ab (Rabe et al.
2019).
Am häufigsten werden medizinische Kompressionsstrümpfe (MKS) verwendet. Sie stehen in 4 Längen als Unterschenkel-, Halbschenkel-, Oberschenkelstrumpf und als Strumpfhose in den Kompressionsklassen (KKL) 1–4 zur Verfügung (Tab.
2 und Tab.
3). Die Strumpfart und die Stärke des erforderlichen Andrucks, d. h. die KKL, sind abhängig von der Diagnose, der Lokalisation der Abflussstörung, dem klinischen Befund und der Schwere der Beschwerden und Veränderungen (z. B. Schwere des Ödems). Eine starre Zuordnung einer KKL zu einer Diagnose ist nicht sinnvoll. Ziel der Kompressionstherapie ist die Besserung des klinischen Befundes. Es soll immer die niedrigste wirksame KKL bevorzugt werden. Dies unterstützt die Adhärenz mit der Kompressionstherapie (Rabe et al.
2019).
Tab. 2
Strumpflängen für MKS
Wadenstrumpf | A-D |
Halbschenkelstrumpf | A-F |
Schenkelstrumpf | A-G |
Strumpfhose | A-T |
Tab. 3
Andrücke im Fesselbereich nach RAL GZG 3872.2.6. Verordnung der Strumpfart und Kompressionsklasse (KKL)
I | Leicht | 18–21 | 2,4–2,8 |
II | Mittel | 23–32 | 3,1–4,3 |
III | Kräftig | 34–46 | 4,5–6,1 |
IV | Sehr kräftig | 49 | 6,5 und größer |
Bei geringer Ödemneigung reicht oft die Kompressionsklasse 1 aus, bei schwerer CVI mit Dermatoliposklerose oder Atrophie blanche wird meist eine Kompressionsklasse 2 oder 3 benötigt.
Ein Maß für die Kompressionseigenschaften des Gestricks ist die Stiffness. Der Static Stiffness Index (SSI)
bezeichnet den Druckanstieg unter dem Kompressionsmittel beim Wechsel von liegender zu stehender Körperposition (Partsch
2005). Je höher der SSI ist, umso größer ist der Einfluss der Kompression auf die venöse Hämodynamik. Bei geringer abendlicher Ödemneigung reicht oft ein niedriger SSI aus, bei schwerer CVI mit Dermatoliposklerose
, Atrophie blanche oder Ulcus cruris kann ein höherer SSI vorteilhaft sein.
Wir unterscheiden rundgestrickte und flachgestrickte MKS. Der rundgestrickte Strumpf hat eine feste Maschenzahl und ist meist etwas dehnbarer als der flachgestrickte. Patienten mit chronischen Venenkrankheiten werden meist mit rundgestrickten MKS versorgt. Den rundgestrickten MKS sind bei der Formgebung aber Grenzen gesetzt und Extremitäten mit sehr kleinen Umfängen und extremen Umfangsänderungen sowie mit vertieften Gewebefalten können mit rundgestrickten Strümpfen nicht versorgt werden. Dies ist oft bei adipösen Patienten und beim ausgeprägten
Lymphödem der Fall. Der flachgestrickte Strumpf besteht aus einem doppelseitigen Gestrick mit höherer Biegesteifigkeit und größerer Stiffness und ist daher in der Lage bei Bewegung einen höheren Druckanstieg aufzubauen. Tab.
4 zeigt die Indikationen und Tab.
5 die Kontraindikationen und Risiken für die Kompressionstherapie gemäß aktueller Leitlinie.
Tab. 5
Kontraindikationen und Risiken für die Kompressionstherapie
. (Rabe et al.
2019)
Kontraindikationen | • Fortgeschrittene periphere arterielle Verschlusskrankheit (wenn einer dieser Parameter zutrifft ABI ( Ankle-Brachial-Index, Knöchel-Arm-Blutdruck-Index) < 0,5, Knöchelarteriendruck < 60 mmHg, Zehendruck < 30 mmHg oder TcPO 2 (transkutan gemessener Sauerstoffpartialdruck) < 20 mmHg Fußrücken). (Bei Verwendung unelastischer Materialien und entsprechender Indikation kann eine Kompressionsversorgung noch bei einem Knöchelarteriendruck zwischen 50 und 60 mmHg unter engmaschiger klinischer Kontrolle versucht werden.) |
• Dekompensierte Herzinsuffizienz (NYHA III + IV) (eine Kompressionstherapie mit unelastischen Materialien kann in Einzelfällen bei NYHA III mit strenger Indikationsstellung und klinischem und hämodynamischem Monitoring versucht werden (Rabe et al. 2020)) |
• Septische Phlebitis |
|
Risiken | • Ausgeprägte nässende Dermatosen |
• Unverträglichkeit auf Kompressionsmaterial |
• Schwere Sensibilitätsstörungen der Extremität |
• Fortgeschrittene periphere Neuropathie (z. B. bei Diabetes mellitus) |
• Primar chronische Polyarthritis |
In diesen Fällen sollte die Therapieentscheidung unter Abwägen von Nutzen und Risiko sowie der Auswahl des am besten geeigneten Kompressionsmittels getroffen werden |
Tab. 4
Indikationen für die Kompressionstherapie
. (Rabe et al.
2019)
Chronische Venenkrankheiten | • Verbesserung venöser Symptome |
|
• Prävention und Therapie venöser Ödeme |
• Prävention und Therapie venöser Hautveränderungen |
• Ekzem und Pigmentierung |
• Dermatoliposklerose und Atrophie blanche |
|
• Therapie des gemischten (arteriell und venös bedingten) Ulcus cruris (unter Berücksichtigung der Kontraindikationen) |
• Prävention des Ulcus cruris venosum Rezidivs |
• Schmerzreduktion beim Ulcus cruris venosum |
• Varikose |
• Initiale Phase nach Varikosetherapie |
• Funktionelle venöse Insuffizienz (bei Adipositas, Sitz-, Stehberufe) |
|
Thromboembolische Venenkrankheiten | |
|
|
• Zustand nach Thrombose |
|
• Thromboseprophylaxe bei mobilen Patienten |
Ödeme | • Lymphödeme |
• Ödeme in der Schwangerschaft |
• Posttraumatische Ödeme |
• Postoperative Ödeme |
• Postoperative Reperfusionsödeme |
• Zyklisch idiopathische Ödeme |
|
• Stauungszustände infolge von Immobilität (arthrogenes Stauungssyndrom, Paresen und Teilparesen der Extremität) |
• Berufsbedingte Ödeme (Steh-, Sitzberufe) |
• Medikamentös bedingte Ödeme, wenn keine Umstellung möglich ist |
Andere Indikationen | • Adipositas mit funktioneller venöser Insuffizienz |
• Entzündliche Dermatosen der Beine |
|
• Stauungsbeschwerden in der Schwangerschaft |
• Zustand nach Verbrennungen |
• Narbenbehandlung |
Die apparative intermittierende Kompression (AIK) kann als ergänzende Kompressionsmaßnahme eingesetzt werden, wenn die Beweglichkeit im oberen Sprunggelenk und damit die Muskelpumpe eingeschränkt ist, sowie wenn die anderen Kompressionsmaßnahmen nicht zur Kompensation der CVI ausreichen (Rabe et al.
2020).