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Klinische Angiologie
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Publiziert am: 30.11.2022

Thromboembolierisiko und Risikostratifizierung

Verfasst von: Sylvia Haas und Birgit Linnemann
Venöse Thromboembolien zählen zu den meist gefürchteten Komplikationen in der operativen und nicht operativen Medizin. Deshalb hat die Prävention dieser Bürde einen hohen klinischen Stellenwert. Es handelt sich um ein stochastisches Gruppenrisiko verschiedener Patientenpopulationen, dessen Wahrscheinlichkeit nur durch klinische Parameter grob abgeschätzt werden kann. Hierzu hat sich die Einteilung des venösen Thromboembolierisikos in expositionelle und dispositionelle Risikofaktoren bewährt, wofür evidenzbasierte Leitlinienempfehlungen zur Verfügung stehen. Das expositionelle Risiko ist zeitlich begrenzt und durch Art und Umfang eines operativen Eingriffs bzw. Traumas oder einer zugrundeliegen internistischen Erkrankung definiert. Das dispositionelle Risiko beruht auf in der Regel zeitlich unbegrenzten patientenseitigen Risikofaktoren. Die Entscheidung für oder gegen thromboprophylaktische Maßnahmen basiert auf der Zusammenschau beider Risikokategorien.

VTE-Inzidenz in der operativen und konservativen Medizin

In der Allgemeinbevölkerung liegt die Inzidenz für das Auftreten venöser Thromboembolien bei etwa 0,1 % pro Jahr und variiert in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit und dem Vorhandensein diverser VTE-Risikofaktoren. Demgegenüber ist das VTE-Risiko von Krankenhauspatienten deutlich höher und variiert in Abhängigkeit von Mobilitätseinschränkung und Komorbiditäten (S3 AWMF).
Venöse Thromboembolien (VTE) sind in der operativen und nicht-operativen Medizin eine gefürchtete Komplikation. Dies wurde bereits vor mehreren Jahrzehnten, d. h. zur Zeit vor der Einführung routinemäßiger Prophylaxeverfahren durch systematisches Screening verschiedener Patientenpopulationen untersucht. Hierbei ist zu erwähnen, dass es sich bei diesen Untersuchungen um den Nachweis bzw. Ausschluss tiefer Bein- und Beckenvenenthrombosen handelt. Hierzu wurden alle Patienten in den Studien sytematisch gescreent und somit auch klinisch asymptomatische Ereignisse in die Auswertungen einbezogen. Tab. 1 gibt einen Überblick über die Prävalenz symptomatischer und asymptomatischer tiefer Beinvenenthrombosen für verschiedene Patientenguppen in der operativen und konservativen Medizin. Die teilweise sehr große Schwankungsbreite der Häufigkeiten resultiert u. a. aus der Verwendung unterschiedlicher Nachweismethoden in verschiedenen Studien, wie z. B. Radio-Fibrinogen-Uptake Test, Phlebographie, Ultraschall oder anderer Methoden.
Tab. 1
Häufigkeiten symptomatischer und asymptomatischer tiefer Beinvenenthrombosen in der operativen und konservativen Medizin ohne Prophylaxe (S3 AWMF)
Patientengruppe
Prävalenz tiefer Venenthrombosen
Innere Medizin
10 bis 20 %
Allgemeinchirurgie
15 bis 40 %
Große gynäkologische Eingriffe
15 bis 40 %
Große urologische Eingriffe
15 bis 40 %
Neurochirurgie
15 bis 40 %
20 bis 50 %
Hüft- oder Kniegelenkersatz
40 bis 60 %
Hüftfrakturen
40 bis 60 %
Multiples Trauma
40 bis 80 %
Rückenmarkverletzung
60 bis 80 %
10 bis 80 %
Da auch asymptomatische Thrombosen bei unkontrolliertem Wachstum und wegen der Gefahr einer Embolisierung in die Lungenstrombahn einen hohen Krankheitswert haben können, sind diese Zahlen bei der Einteilung der Patienten in Risikokategorien immer noch von Bedeutung, auch wenn sie nur mit Einschränkung auf die heutige Patientenversorgung übertragbar sind. Bei allen genannten Indikationen kommt derzeit in der Regel eine etablierte Methode der Thromboembolieprophylaxe zum Einsatz, so dass die aktuellen VTE Prävalenzen heutzutage deutlich niedriger sind als in Tab. 1 angegeben.
Es gibt aber noch weitere Gründe, weshalb die Ergebnisse der historischen Studien nicht uneingeschränkt auf die heutige Patientenversorgung übertragbar sind, insbesondere in der operativen Medizin. Modernere Anästhesieverfahren, gefäß- und gewebeschonendere Operationstechniken, kürzere Immobilisationsdauer und weitere Faktoren haben ebenfalls zur Reduktion des peri- und postoperativen Thromboembolierisikos beigetragen. Damit sind natürlich auch die Anforderungen an die moderne klinische Thromboseforschung gestiegen. Placebokontrollierte Studien sind aus ethischen Gründen nicht mehr möglich, so dass in Vergleichsstudien von neuen und konventionellen Antithrombotika das Ausmaß eines Nutzens kaum noch bestimmt werden kann. Außerdem erfordert die statistische Fallzahlberechnung für randomisierte kontrollierte Studien unverhältnismäßig höhere Probandenzahlen als früher.
Da eine risikoadaptierte primäre Prophylaxe die Entstehung venöser Thromboembolien signifikant reduzieren kann, ist die Implementierung angemessener Strategien zur Risikoerfassung und Prophylaxe auf der Grundlage hochwertiger Leitlinien ein wichtiger Bestandteil der Patientenversorgung in der operativen und konservativen Medizin. In Deutschland erschien erstmals 2009 eine nach den Vorgaben des Regelwerks der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) erarbeitete S3-Leitlinie, die zuletzt 2015 aktualisiert wurde (S3 AWMF).

VTE-Risikoabschätzung

Eine adäquate Risikoabschätzung des individuellen Thromboembolierisikos ist für die Entscheidung für oder gegen prophylaktische Maßnahmen von essenzieller Bedeutung. Hierzu wird immer noch auf die bereits im Jahr 1856 beschriebene Virchow-Trias Bezug genommen (Virchow 1856). Die drei Komponenten der Trias sind
  • Veränderungen der Blutzusammensetzung (Hyperkoagulabilität)
  • Endothelverletzung
  • Blutstromverlangsamung
Entsprechende Beispiele sind in Abb. 1 dargestellt.
Das VTE-Risiko kann als stochastisches Gruppenrisiko verschiedener Patientenpopulationen bezeichnet werden, dessen Wahrscheinlichkeit nur durch klinische Parameter grob abgeschätzt werden kann. Hierzu hat sich die Unterscheidung in expositionelle und dispositionelle Risikofaktoren bewährt, wofür evidenzbasierte Leitlinienempfehlungen zur Verfügung stehen. Das expositionelle Risiko ist zeitlich begrenzt und durch Art und Umfang eines operativen Eingriffs bzw. Traumas oder einer zugrundeliegen internistischen Erkrankung definiert. Das dispositionelle Risiko beruht auf in der Regel zeitlich unbegrenzten patientenseitigen Risikofaktoren. Das individuelle Gesamtrisiko ergibt sich aus der Kombination von Risikofaktoren dieser beiden Kategorien. In der S3-Leitlinie wird explizit auf das expositionelle und dispositionelle Risiko hingewiesen und gefordert, dass beide Aspekte bei der Einschätzung des individuellen VTE-Risikos berücksichtigt werden sollen (S3 AWMF).
Wichtig
Das individuelle Risiko setzt sich aus expositionellen und dispositionellen Risikofaktoren zusammen.
Das expositionelle Risiko ist durch Art und Umfang eines operativen Eingriffs oder Traumas bzw. einer akuten Erkrankung mit Immobilisation charakterisiert. Das dispositionelle Risiko umfasst angeborene und erworbene personenbezogene Faktoren.
Beide Aspekte sollen bei der Einschätzung des individuellen VTE-Risikos berücksichtigt werden.
Diese Empfehlungen sind seit langer Zeit Bestandteil der Leitlinie und wurden in der letzten Auflage unverändert beibehalten, weil in der Vergangenheit diesbezüglich keine neue Evidenz hinzu gekommen ist. Diese Risikokategorisierung hat sich auch in der medizinischen Aus- und Weiterbildung bewährt. Die Kenntnis ist mittlerweile so weit verbreitet, dass eine Abschätzung des VTE Risikos nicht nur auf Art und Umfang eines operativen Eingriffs oder den Schweregrad einer nicht-chirurgischen Erkrankung begrenzt werden darf, sondern auch patientenbezogene Risikofaktoren (dispositionelles Risiko) berücksichtigt werden sollen.
In der Leitlinie wurden die dispositionellen Risikofaktoren nach relativer Bedeutung gewichtet, was sich wiederum in der klinischen Praxis und auch im Rahmen der gutachterlichen Tätigkeit bewährt hat. Bei medikolegalen Auseinandersetzungen kommt es oft zum patientenseitigen Vorwurf, dass bei einem kleinen operativen Eingriff, wie zum Beispiel Leistenhernienoperation, minimal invasiven arthroskopischen Eingriffen oder anderen Interventionen mit niedrigem expositionellem VTE Risiko, dem dispositionellen Risiko des Patienten nicht Rechnung getragen wurde, wie z. B. im Falle einer schon früher stattgehabten venösen Thromboembolie oder einer bekannten Thrombophilie.
Die gewichteten dispositionellen Risikofaktoren sind in Tab. 2 aufgelistet.
Tab. 2
Dispositionelle Risikofaktoren, geordnet nach relativer Bedeutung (S3 AWMF)
VTE Risikofaktor
Relative Bedeutung
Frühere TVT/LE
hoch
Thrombophile Hämostasedefekte**
artspezifisch gering bis hoch
Maligne Erkrankung***
mittel bis hoch*
Höheres Lebensalter (über 60 Jahre, Risikozunahme mit dem Alter)
mittel*
VTE bei Verwandten 1. Grades
mittel
Chronische Herzinsuffizienz, Z. n. Herzinfarkt***
mittel*
Übergewicht (BMI > 30 kg/m2)
mittel*
Akute Infektionen/entzündliche Erkrankungen mit Immobilisation***
mittel*
Therapie mit oder Blockade von Sexualhormonen (zur Kontrazeption, in der Postmenopause, zur Tumorbehandlung)
substanzspezifisch gering bis hoch
Schwangerschaft und Postpartalperiode
gering
gering
Stark ausgeprägte Varikosis
gering
Für die mit * gekennzeichneten Assoziationen ließen sich stetigeRisikowirkungsbeziehungen ermitteln
** z. B. Antiphospholipidsyndrom, Antithrombin-, Protein-C- oder -S Mangel, Faktor-V-Leiden-Mutation, Prothrombin-G20210A-Mutation
*** Diese dispositionellen Risikofaktoren können auch als expositionelle Risikofaktoren auftreten bzw. angesehen werden
Im Einzelfall kann eine klare Abgrenzung von expositionellem und dispositionellem Risiko schwierig sein, insbesondere bei Patienten mit malignen oder chronisch entzündlichen Erkrankungen. Im akuten Stadium kommt diesen Situationen der Stellenwert eines akuten Triggermechanismus für die VTE Entwicklung zu, im chronischen Verlauf entsprechen diese Erkrankungen jedoch eher dem Kriterium eines dispositionellen Risikofaktors (Abb. 2).

VTE-Risikokategorien

Tab. 3 gibt eine Hilfestellung, wie in der operativen Medizin eine individuelle Risikoeingruppierung in die drei Kategorien niedrig, mittel, hoch unter Berücksichtigung des expositionellen und dispositionellen Risikos erfolgen kann.
Tab. 3
VTE Risikokategorisierung in der operativen Medizin mit Beispielen
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Beispiele für die Risikostratifizierung in der nicht-operativen Medizin sind in Tab. 4 zusammengefasst.
Tab. 4
VTE Risikokategorisierung in der nicht-operativen Medizin mit Beispielen
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Literatur
Geerts WH et al (2004) Prevention of venous thromboembolism: the Seventh ACCP Conference on Antithrombotic and Thrombolytic Therapy. Chest 126:338–400S
S3 AWMF Leitlinie Prophylaxe der venösen Thromboembolie. https://​www.​awmf.​org/​leitlinien/​detail/​ll/​003-001.​html. Zugegriffen am 12.11.2022
Virchow R (Hrsg) (1856) Gesammelte Abhandlungun zur Wissenschaftichen Medicin. Von Meidinger Sohn, Frankfurt