Skip to main content
Klinische Kardiologie
Info
Publiziert am: 01.12.2021

Funktionelle Herzbeschwerden

Verfasst von: Christian Albus
„Funktionelle Herzbeschwerden“ umfassen ein breites Spektrum von Symptomen über Herzklopfen oder -stolpern, Stechen, Brennen oder Ziehen in der Herzregion bis hin zum Vollbild der „somatoformen autonomen Funktionsstörung des kardiovaskulären Systems“. Es findet sich typischerweise keine hinreichende organische Ursache, sodass der Störung eine komplexe psychosomatische Ursache zugrunde liegt. Ohne spezifische Kenntnisse ist die Therapie meist frustran. Eine effektive Behandlung stützt sich auf Techniken der psychosomatischen Grundversorgung, Psychotherapie sowie in ausgesuchten Fällen auch auf psychotrope Medikation.

Einleitung

Der Begriff „funktionelle Herzbeschwerden“ deckt ein breites Spektrum von vegetativen Stress- bzw. Angstsymptomen, wie Herzklopfen oder -stolpern, Schmerzen wie Stechen, Brennen oder Ziehen in der Herzregion, bis hin zum Vollbild der „somatoformen autonomen Funktionsstörung des kardiovaskulären Systems“ (F45.30) nach ICD-10 ab. Wird ärztliche Diagnostik aufgesucht, findet sich auch nach gründlicher organbezogener Diagnostik keine hinreichende organische Ursache. Ein Teil der Betroffenen gibt sich mit der Information des Arztes, dass keine organische Erkrankung vorliegt, zufrieden, der andere – und nur das sind die Patienten mit einer „somatoformen Störung“ nach ICD-10 – bringt hartnäckig die Überzeugung vor, es müsse eine Herzerkrankung vorliegen, und fordert weitere organbezogene Diagnostik bzw. Therapie. Gelingt es nicht, dass sich Arzt und Patient auf eine Diagnose einigen, wechseln die Patienten oft mehrfach den Arzt („doctor hopping“), was auf beiden Seiten zu Unzufriedenheit führt. Grundkenntnisse hinsichtlich der Störung sowie angemessene Behandlungsstrategien können dem Arzt dabei helfen, diese Patientengruppe besser zu betreuen und seine Arbeitszufriedenheit zu erhöhen.

Epidemiologie und klinische Bedeutung

Nach älteren Untersuchungen geben etwa 10–25 % aller Erwachsenen an, gelegentlich Herzklopfen oder Schmerzen in der Herzgegend zu empfinden (Albus und Herrmann-Lingen 2009). Beim Hausarzt geben nach einer neueren Studie etwa 2 % aller Patienten als Konsultationsanlass „Brustschmerz“ an, wobei unter diesen nur in 8,4 % der Fälle eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung (z. B. ein akutes Koronarsyndrom) diagnostiziert wurde (Hoorweg et al. 2017). Als häufigste Ursachen wurden muskuloskelettale Gründe gefunden, eine psychische Erkrankung wurde in 18,3 % diagnostiziert (Hoorweg et al. 2017).
In der kardiologischen Versorgung weisen jedoch schon ca. 30–40 % der Patienten „medically unexplained symptoms“ (hier analog zu funktionellen Herzbeschwerden) auf (Rogers et al. 2021). Damit kommt der Versorgung „funktioneller Beschwerden“ eine große Bedeutung zu. Wichtig ist zudem, dass funktionelle Herzbeschwerden auch komorbid zu organischen Herzerkrankungen auftreten können, was zu erheblichen Herausforderungen in der Diagnostik und Therapie führt.
Prognostisch ist relevant, dass das eingangs erwähnte „doctor hopping“ mit extensiver und redundanter Diagnostik assoziiert ist (Albus et al. 2018; Albus 2020).
Da häufig auch die Therapie der funktionellen Herzbeschwerden ineffizient ist, resultieren ein hohes Chronifizierungsrisiko sowie erhebliche Kosten für das Gesundheitssystem (Albus et al. 2018; Albus 2020).
Eine erhöhte kardiale Sterblichkeit scheint jedoch nicht zu bestehen, einige Studien haben sogar eine inverse Beziehung zwischen (Herz-)Angst und dem Risiko, z. B. an einem Herzinfarkt zu versterben, gezeigt (Albus 2020). Dies kontrastiert deutlich zu den Befunden für eine Depression, Angststörung oder posttraumatische Belastungsstörung mit und ohne gleichzeitige KHK oder Herzrhythmusstörungen; hier ist ein negativer Einfluss sowohl auf die Lebensqualität als auch auf die Morbidität und Mortalität empirisch gut abgesichert (Albus et al. 2018).

Klassifikation nach ICD-10

Funktionelle Herzbeschwerden können sowohl im Rahmen von Stress bzw. psychovegetativer Aktivierung mit und ohne zugrundeliegender psychischer Störung (z. B. Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörung) auftreten, als auch bei der „somatoformen autonomen Funktionsstörung des kardiovaskulären Systems“ nach ICD-10 (WHO 1991) bestehen.
Zur Diagnose dieser Störung müssen folgende Kriterien erfüllt sein (s. Übersicht):
ICD-10 Kriterien der somatoformen autonomen Funktionsstörung des kardiovaskulären Systems (nachWHO1991)
  • Hartnäckige und störende Symptome der vegetativen Stimulation, v. a. beschleunigter Herzschlag („Herzklopfen/-rasen“), ggf. auch (benigne) Herzrhythmusstörungen („Herzstolpern“)
  • Zusätzliche herzbezogene Symptome, z. B. „Stechen“, „Brennen“, „Ziehen“ im (linken) Thorax, ggf. auch intermittierende Atemnot
  • Intensive und quälende Beschäftigung mit der Möglichkeit einer organischen Herzerkrankung, die trotz wiederholter Erklärungen und Versicherungen der Ärzte nicht aufgegeben wird
  • Kein Anhalt für eine eindeutige Störung der Struktur oder Funktion des Herz-Kreislauf-Systems, durch die sowohl die Art als auch das Ausmaß der Beschwerden vollständig erklärt wird

Besonderheiten des klinischen Bildes bei somatoformer Störung

Der erste Kontakt mit den Patienten erfolgt oft notfallmäßig. Die Patienten wirken klinisch nicht schwerkrank, aber sehr besorgt. Nach somatischer Ausschlussdiagnostik scheinen die Patienten von der Versicherung des Arztes, dass keine schwere Herzerkrankung vorliegt, zunächst deutlich entlastet. Allerdings stellen sie sich oft schon nach wenigen Tagen erneut notfallmäßig vor; wieder besteht große Angst, an einer Herzerkrankung zu leiden. Zwar führt die erneute somatische Untersuchung wieder zu einer gewissen „Entängstigung“, erfolgt aber die Mitteilung, dass eine psychosomatische Störung vorliegt, wird dies vom Patienten nicht anerkannt. Typischerweise wird schon die Frage nach möglichen Stressoren verneint; die Patienten formulieren z. B. „Wenn ich die Herzbeschwerden nicht hätte, ginge es mir gut.“
Beginnt der Arzt beim nächsten Notfallkontakt weitere somatische Untersuchungen zu verweigern bzw. beharrt auf einer psychosomatischen Störung, reagieren die Patienten enttäuscht und teilweise ärgerlich. Meist bricht danach der Kontakt ab und der Patient wendet sich an eine andere Praxis/Klinik („doctor hopping“).

Differenzialdiagnosen

Kardiovaskuläre Differenzialdiagnosen werden an dieser Stelle aus Platzgründen nicht aufgeführt. Auch ein „non cardiac chest pain“ verlangt aufgrund multipler möglicher somatischer Ursachen (u. a. muskuloskelettal, gastrointestinal, pulmonal) nach einer gründlichen Differenzialdiagnostik (Frieling 2018), die hier ebenfalls nicht dargestellt wird.
An psychischen Störungen müssen in erster Linie die folgenden Störungen abgegrenzt werden (s. Übersicht, Kernsymptome in Klammern):
Differenzialdiagnostisch relevante, weitere psychische Störungen bei Verdacht auf eine somatoforme, autonome Funktionsstörung des kardiovaskulären Systems
  • Panikstörung (wiederkehrende, ausgeprägte Attacken starker vegetativer Aktivierung, oft begleitet von Todesangst; in der Regel eher Atemnot und Herzrasen, kein Brustschmerz; symptomfreie Intervalle, aber häufig Angst vor nächster Attacke)
  • Generalisierte Angststörung (generalisierte und unkontrollierbare Besorgnis bezüglich alltäglicher Probleme; hohe, fluktuierende vegetative Anspannung, meist ohne typische Panikattacken)
  • Posttraumatische Belastungsstörung (Attacken exzessiver vegetativer Aktivierung in Verbindung mit „flash backs“ oder Alpträumen von einer traumatischen Erfahrung – das kann auch kardiologistische Diagnostik und invasive/intensivmedizinische Therapie sein)
  • Somatoforme Schmerzstörung (andauernder, quälender Schmerz, oft an multiplen oder wechselnden Stellen; vegetative Symptome fehlen oder stehen im Hintergrund)
  • Somatisierungsstörung (neben herzbezogenen vegetativen Symptomen und Schmerzen sind auch weitere Lokalisationen bzw. Organsysteme betroffen)
Das klinische Bild funktioneller Herzbeschwerden ist jedoch sehr vielfältig und es können auch Überschneidungen mit den o. g. Syndromen bestehen, sodass die Differenzialdiagnostik hinsichtlich psychischer Störungen schwierig sein kann.
Häufiger liegt auch eine gleichzeitige depressive Störung (mit den Hauptsymptomen gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit und Antriebsstörung) vor, auf deren Boden die Wahrnehmung und Bewertung körperlicher Symptome – psychogener oder somatischer Ursache – noch negativer gefärbt ist.
Bei diagnostischer Unsicherheit sollte der Internist/Kardiologe einen Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie oder erfahrenen psychologischen Psychotherapeuten zu Rate ziehen.
Doch allein schon die Zuweisung zur Diagnostik muss sehr gut vorbereitet werden, sonst fühlen sich die Patienten abgeschoben (s. Abschn. 7).

Ätiologie und Pathogenese

Soweit bis heute verstanden, entstehen funktionelle Herzbeschwerden auf der Basis komplexer Wechselwirkungen psychischer, biologischer, sozialer und iatrogener Faktoren (Albus und Herrmann-Lingen 2009; Albus et al. 2018; Albus 2020).
Diese komplexen Wechselwirkungen werden zusammenfassend in der nachfolgenden Übersicht skizziert.
Kernfaktoren in der Ätiologie und Pathogenese funktioneller Herzbeschwerden
  • Auslöser: Bei sorgfältiger Anamnese lässt sich in der Regel nachweisen, dass dem Einsetzen funktioneller Herzbeschwerden ein belastendes Lebensereignis vorausging. Dies kann z. B. eine Trennungs- oder Verlustsituation oder eine berufliche Krise gewesen sein. Auch eigene körperliche Erkrankungen inklusive Herz-Kreislauf-Erkrankungen können das Auftreten funktioneller Herzbeschwerden begünstigen.
  • Erhöhte psychische Vulnerabilität: Bei vertiefter Exploration lassen sich in der Regel gravierende biografische Belastungsfaktoren wie emotionale Vernachlässigung und/oder körperliche Misshandlungen nachweisen, die eine Ausreifung psychischer Resilienz beeinträchtigen.
  • Einschränkungen der Affektregulierung: Im Unterschied zu nach den o. g. Auslösern auch möglichen depressiven oder ängstlichen Symptomen, ist für funktionelle Herzbeschwerden typisch, dass der Zusammenhang mit dem Auslöser und der Symptomatik von den Patienten nicht wahrgenommen bzw. oft sogar verleugnet wird. Dies kann auf eine Störung der Affektwahrnehmung (Alexithymie, i. e. die Unfähigkeit, eigene Gefühle als solche wahrzunehmen und benennen zu können) zurückgeführt werden, sodass die durch den Auslöser mobilisierten Emotionen (z. B. Angst, Wut, Trauer etc.) nicht oder kaum als solche wahrgenommen werden. Der Patient kann lediglich die begleitende körperliche Veränderung beschreiben (z. B. Beschleunigung der Herzfrequenz, Herzstolpern, thorakales Schmerzerleben).
  • Kognitive Fehlbewertung: Typischerweise besteht eine kognitive Fehlbewertung körperlicher Symptome, sodass es bei physiologischen Stressreaktionen zu einer ausgeprägten Ängstigung kommt. Diese Fehlbewertung ist in der Regel maßgeblich durch soziale Erfahrungen (z. B. Herzkrankheit der Eltern, des Partners), eigene körperliche Erkrankungen (z. B. KHK, Herzrhythmusstörungen) oder depressiv-ängstliche Begleitsymptome mitbestimmt.
  • Somatosensorische Amplifizierung: Oft besteht auch eine verstärkte Wahrnehmung normal-physiologischer Phänomene (z. B. Herzklopfen bei Stress), die in einen Teufelskreis aus erhöhter Selbstaufmerksamkeit, negativer Bewertung, Zunahme der Angst und Zunahme der Symptome einmünden kann („Teufelskreis der Angst“).
  • Neurobiologische Aktivierung des Schmerzerlebens: Schmerzwahrnehmung ist immer subjektiv und in komplexe emotionale und kognitive Prozesse eingebunden. Eine Aktivierung der „Schmerzmatrix“ des ZNS kann auch durch soziale Ausgrenzung bzw. Trennungserfahrungen erfolgen („Scheiden tut weh“), bzw. sonst unterschwellige somatosensorische Reize können durch „unbewusste“ negative Emotionen zu einem Schmerzgefühl augmentiert werden.
  • Dekonditionierung: Oft kommt es zu einem körperlichen Schonverhalten, um etwaige Auslöser der ängstigenden Symptome zu vermeiden. Dies begünstigt jedoch das Auftreten der Symptome schon bei leichten körperlichen Belastungen, sodass hier ein weiterer Teufelskreis vorliegt.
  • Iatrogene Faktoren: Unkritische Mehrfachdiagnostik und kardiologische Verlegenheitsmedikation bestärken den Patienten darin, dass seinen Symptomen eine organische Ursache zugrunde liegt. Zudem ermöglichen eine vorschnelle Krankschreibung oder eine Empfehlung zur Berentung einen „sekundären Krankheitsgewinn“, da dadurch eine Entlastung von Stressoren stattfindet. Aber auch eine vorschnelle oder ungeeignete Konfrontation mit der funktionellen Genese der Erkrankung (z. B. mit „Sie haben nichts“) zerstört die für den therapeutischen Erfolg notwendige gute Arzt-Patient-Beziehung und führt begünstigt zu „doctor hopping“. Iatrogene Faktoren können damit maßgeblich zur Chronifizierung funktioneller Herzbeschwerden beitragen.
Die Kenntnis der vorgenannten Faktoren ist eine zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche störungsspezifische Diagnostik und Therapie.

Vorbemerkungen zu Diagnostik und Therapie

Ein Ausweg aus dem geschilderten Dilemma kann nur von ärztlicher Seite initiiert werden, da auf Patientenseite aufgrund der spezifischen Störungsmerkmale keine primäre Einsicht in die Psychogenese und die Sinnhaftigkeit einer entsprechenden Therapie (z. B. Psychotherapie) erwartet werden kann.
Es kann jedoch schon mit Techniken der psychosomatischen Grundversorgung gelingen, die Patienten zu stabilisieren bzw. eine Besserung auf Symptomebene zu erwirken (DKPM et al. 2018; Albus 2020). Patienten mit schwereren Symptomen können sich im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung besser zu einer Psychotherapie entschließen, was ohne diesen Zwischenschritt in der Regel nicht gelingt.

Diagnostik

Eine Diagnostik funktioneller Herzbeschwerden stützt sich neben einer angemessenen somatischen Untersuchung in besonderer Weise auf die Anamnese (DKPM et al. 2018; Albus 2020). Zwar müssen relevante organische Erkrankungen ausgeschlossen bzw. kritisch gewichtet werden, aber nur eine biopsychosoziale Anamnese kann Hinweise auf den Auslöser und die o. g. psychologischen Faktoren erbringen.
Eine biopsychosoziale Anamnese ist neben einer angemessenen Organdiagnostik und Befundmitteilung auch von entscheidender Bedeutung, um eine zutreffende Diagnose und einen geeigneten Therapieansatz zu konsentieren („shared decision making“).
Die Diagnostikphase gliedert sich in drei Schritte (modifiziert nach Albus 2020):
1.
Biopsychosoziale Anamnese: Empathische Exploration körperlicher und psychischer Symptome, der subjektiven Krankheitstheorie sowie möglicher Auslöser, zunächst mittels offener Fragen, ggf. ergänzt um zielführende Eingrenzungen.
 
2.
Organdiagnostik: Symptomorientierte, gestufte somatische Diagnostik entsprechend aktueller Empfehlungen zum kritischen Einsatz invasiver Verfahren; alle Vorbefunde beibringen lassen; Vermeidung nichtindizierter Mehrfachdiagnostik.
 
3.
Befundmitteilung: Verständliche, eindeutige Erläuterung der Befunde; angemessene Bewertung von etwaigen somatischen Befunden; explizite Betonung, dass die Symptome einer belastenden Funktionsstörung, nicht jedoch einem bedrohlichen Organschaden entsprechen.
 
Die biopsychosoziale Anamnese schließt neben der Erhebung körperlicher Symptome auch etwaige psychische Beschwerden, die soziale Situation sowie die subjektive Krankheitstheorie des Patienten ein. Dabei ist auch die Exploration etwaiger Symptome, die auf eine Depression, Angststörung, posttraumatische Belastungsstörung oder sonstige somatoforme Störung hinweisen, sinnvoll.
Die nachfolgende Übersicht listet Beispielformulierungen für die biopsychosoziale Anamnese auf.
Beispielformulierungen für sinnvolle Ergänzungsfragen in einer biopsychosozialen Anamnese
  • Psychisches Befinden: „Ich möchte mich jetzt neben Ihrem körperlichem auch Ihrem psychischen Befinden zuwenden. Wie geht es Ihnen gefühlsmäßig?“ Falls nicht klar als positiv beschrieben, offen nachfragen: „Können Sie Ihr Befinden näher beschreiben?“ Falls hier nur vage Beschwerden genannt werden, gezielt nachfragen: „Haben Sie im letzten Monat oft unter Gefühlen von Niedergeschlagenheit oder Hoffnungslosigkeit gelitten? Haben Sie oft unter geringem Interesse oder Freudlosigkeit gelitten?“ (im positiven Fall Hinweis für Depression). „Haben Sie sich öfter angespannt und unruhig gefühlt?“ (ggf. Hinweis für Panik- oder generalisierte Angststörung). „Gehen Ihnen manchmal sehr beunruhigende Dinge durch den Kopf, die Sie erlebt haben?“ (ggf. Hinweis auf posttraumatische Belastungsstörung). „Leiden Sie zusätzlich unter weiteren körperlichen Beschwerden, z. B. Durchfällen oder Schmerzen, ohne eindeutige Ursache?“ (ggf. Hinweis auf Somatisierungsstörung).
  • Psychosozialer Auslöser: „Jetzt würde ich mich gerne über Ihre Lebenssituation informieren. Ist in dem Zeitraum, bevor die Symptome erstmals aufgetreten sind, in Ihrem Leben irgendetwas Bedeutsames passiert?“ Falls spontan nichts genannt wird, gezielt nachfragen: „Gab es z. B. irgendwelche besonderen familiären oder beruflichen Veränderungen? Wie sind Sie damit umgegangen? Wie ist Ihre derzeitige Lebenssituation (Beziehungen, Beruf)?“
  • Subjektive Krankheitstheorie: „Viele Patienten haben sich schon eigene Gedanken gemacht, was die Ursache ihrer Beschwerden sein könnte. Haben Sie eine Idee, was Ihre Herzbeschwerden verursacht?“ Falls eine somatische Ursachentheorie genannt wird, gezielt nachfragen, aber nicht direkt verneinen: „Wie kommen Sie darauf?“ Falls keine Ursachentheorie genannt wird, gezielt nachfragen: „Wissen Sie grundsätzlich, was z. B. Herzrasen, -stolpern oder Brustschmerz auslösen kann?“ (physiologische Vorkenntnisse des Patienten erfahren, um ggf. später daran anzuschließen).
  • Familienanamnese/Herzkrankheiten im Umfeld: „Und jetzt möchte ich mich noch kurz über Erkrankungen in Ihrer Familie oder Ihrem Umfeld informieren: Leidet jemand aus Ihrem Familien- oder Freundeskreis an einer Herzerkrankung?“
Während der Anamnese muss aufmerksam alles erfasst und ggf. kommentiert werden, was der Patient verbal und nonverbal mitteilt. Bei der Schilderung herzbezogener Symptome sollte z. B. auf den begleitenden Affekt (z. B. übermäßige Angst, auffällig suggestive Schilderung etc.) geachtet werden. Bei der Exploration psychosozialer Auslöser kann vorsichtig eine mögliche Belastung markiert werden („Sie haben aber eine schwere Zeit hinter sich“).
Cave
Es sollte auf keinen Fall die Konfrontation mit der Verdachtsdiagnose „funktionelle Störung“ erfolgen, bevor nicht ein alternatives Krankheitsmodell (z. B. allgemeines Stressmodell, Neurobiologie des Schmerzes) erläutert wurde.
Bei der Aufklärung über notwendige somatische Untersuchungen kann jedoch schon mitgeteilt werden, dass bei den geschilderten Beschwerden im Prinzip sowohl organische, als auch funktionelle Störungen in Frage kommen.
Eine besondere Herausforderung in der Diagnostik ist die Möglichkeit einer Komorbidität funktioneller Herzbeschwerden mit somatischen Krankheiten, z. B. einer KHK oder bedeutsamen Herzrhythmusstörungen.
Hier erfordert die kritische Abwägung möglicher Interaktionen viel Erfahrung. Im Zweifel gilt, dass jedes neu aufgetretene Symptom Anlass zu einmaliger Diagnostik sein sollte. Auch bei z. B. komorbider KHK sollte jedoch zunächst die geduldige Zuwendung und eine körperliche Untersuchung ggf. unter Zuhilfenahme nichtinvasiver Diagnostik im Vordergrund stehen (BÄK et al. 2019).
Cave
Keinesfalls sollte dem Drängen der Patienten nach nicht streng indizierter Mehrfachdiagnostik nachgegeben werden, da hiermit neben erhöhten Risiken und Kosten auch einer Chronifizierung Vorschub geleistet wird.

Therapie

Die Therapie funktioneller Herzbeschwerden basiert auf drei Säulen, von denen im kardiologischen Kontext besonders die erste von besonderer Bedeutung ist (s. Übersicht) (Albus 2020; DKPM et al. 2018):
Die drei Therapiesäulen funktioneller Herzbeschwerden (Albus 2020; DKPM et al. 2018)
1.
Psychosomatische Grundversorgung
 
2.
Psychotherapie, adaptiert an die spezifischen Anforderungen bei diesen Patienten
 
3.
Medikation
 
Die psychosomatische Grundversorgung integriert eine dieser Störung angemessene Diagnostik und Therapie und ist die Basis sowie der wichtigste Baustein in der Therapie funktioneller Herzbeschwerden.
Die Prinzipien der psychosomatischen Grundversorgung bei funktionellen Herzbeschwerden werden in der nachfolgenden Übersicht (modifiziert nach Albus 2020) ausformuliert:
Prinzipien psychosomatischer Grundversorgung bei funktionellen Herzbeschwerden (mod. nachAlbus2020)
  • Ernstnehmen der körperlichen Beschwerden als Ausdruck seelischer Not
  • Beschwerden ohne vorschnelle Unterbrechungen entgegennehmen, Leidensdruck aufgrund der Symptome und ggf. Enttäuschung über vergebliche Vorbehandlungen explizit anerkennen
  • Einfühlsamer Übergang von somatischer in psychosoziale Anamnese
  • Entgegennahme der subjektiven Krankheitstheorie, keine vorschnelle Konfrontation mit möglicher psychogener Ursache
  • Ausführliche Aufklärung über den Sinn diagnostischer Untersuchungen, Konsens v. a. für die Vermeidung redundanter Diagnostik anstreben
  • Klare Rückmeldung aller Befunde; „Minibefunde“ bzw. somatische Komorbidität ausführlich diskutieren, bis der tatsächliche Stellenwert für Patienten verstehbar ist
  • Erläuterung eines alternativen Krankheitsmodells (z. B. allgemeines Stressmodell, Teufelskreis der Angst, Neurobiologie der Schmerzwahrnehmung)
  • Unmissverständlich von einer „funktionellen Störung“ sprechen, nie von „Sie haben nichts“
  • Vorsichtige Verknüpfung von Symptomen und bislang nicht bewussten Stressoren in der Lebenssituation
  • Ermutigung zum Abbau von Schon- und Vermeidungsverhalten
  • Regelmäßige, symptomunabhängige Wiedervorstellungen (z. B. initial 14-tgl.), um einen stützenden Rahmen herzustellen und Notfallterminen vorzubeugen
  • Im Verlauf nichtindizierte Mehrfachdiagnostik vermeiden. Wiederholte körperliche Untersuchungen mit Erklärung des Befundes können dennoch sinnvoll sein, weil sie das Gefühl, ernst genommen zu werden, verstärken, ohne dem Patienten zu schaden
  • Motivation zur Fachpsychotherapie, falls ausgeprägte Beschwerden (z. B. mit mehrwöchigen AU-Phasen) oder eine psychische Komorbidität (z. B. Depression, Angststörung) vorliegen, oder sich leichtere/mittlere Beschwerden nach 3 Monaten psychosomatischer Grundversorgung nicht deutlich bessern
Bei der psychosomatischen Grundversorgung geht es im Kern darum, zunächst durch empathische Zuwendung und Akzeptanz der Beschwerden und der Krankheitstheorie eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung herzustellen, bevor eine Erörterung eines alternativen Krankheitsmodells – Herzbeschwerden als psychosomatisches Symptom – begonnen wird.
Diese notwendige Reihenfolge einzuhalten, schützt auch den Arzt vor eigenem Ärger angesichts der ansonsten sehr „schwierigen“ Patienten.
Fasst ein Patient Vertrauen und kann sich von der Überzeugung einer organischen Herzerkrankung lösen, kann damit begonnen werden, angemessene Therapieansätze zu diskutieren. Die Therapie kann in Abhängigkeit von der Symptomschwere entweder in einer Fortführung der psychosomatischen Grundversorgung und/oder als Fachpsychotherapie erfolgen. Medikamentöse Ansätze sind nachrangig (s. u.).
Tipp
Der Patient darf sich aber durch die Anregung zu einer Psychotherapie nicht zurückgewiesen fühlen, was z. B. bei einer Formulierung wie „Sie haben nichts Ernstes, Sie müssen zu einem Psychiater/Psychotherapeut“ passieren würde. Stattdessen ist hilfreich, von Psychotherapie als „Bewältigungshilfe“ für die belastenden Herzbeschwerden und den bislang nicht bewältigten Auslöser zu sprechen.
Weiterhin ist hilfreich, bei der Zuweisung von einem „therapeutischen Dreieck“ zu sprechen, indem der Arzt auch weiterhin mit niederfrequenten Kontakten den Patienten begleitet. Da besonders in Anfangsphasen einer Psychotherapie körperliche Beschwerden immer wieder auftauchen können, kann der Arzt Zweifel und Bedenken mit dem Patienten diskutieren und ihn in der Sinnhaftigkeit der Psychotherapie bestärken, damit es nicht zu einem Therapieabbruch kommt.
In dem Kontext ist auch wertvoll, wenn sich Arzt und Psychotherapeut austauschen, um sicherzustellen, dass sie „an einem Strang ziehen“.
Kann ein Patient zu einer Psychotherapie motiviert werden, ist eine ambulante Behandlung indiziert, sofern die Symptomatik nicht zu schwer ist. Bei sehr ausgeprägten Symptomen (z. B. weitgehender Unfähigkeit, allein das Haus zu verlassen), sehr häufiger Inanspruchnahme kardiologischer Notfallambulanzen oder psychischer Komorbidität (z. B. einer Depression) ist jedoch primär eine stationäre Therapie in einer psychosomatischen Fachklinik, gefolgt von einer ambulanten Psychotherapie, indiziert (DKPM et al. 2018; Albus 2020).
Zur Psychotherapie liegen gute Belege für eine kurz- und mittelfristige Besserung der Symptomatik vor (DKPM et al. 2018; Albus 2020).
Nach klinischer Erfahrung ist für das Behandlungsergebnis wichtig, dass der Psychotherapeut kardiologische Grundkenntnisse aufweist, um sich auf die „schwierigen“ Patienten besser einstellen zu können.
Bei chronifizierten Störungen klingen die Symptome leider trotz Therapie oftmals nicht vollständig ab. Therapieziel ist dann eine Stabilisierung des Befindens auf dem besten erreichbaren Niveau, z. B. dass sich der Patient nicht mehr in Notfallambulanzen vorstellt (DKPM et al. 2018; Albus 2020).
Die empirische Evidenz für die Wirksamkeit spezifischer medikamentöser Ansätze ist sehr begrenzt (DKPM et al. 2018; Albus 2020).
Lediglich bei „atypischem Brustschmerz“ (funktionelle Herzbeschwerden ohne wesentliche vegetative Symptome) scheinen SSRI (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer), SNRI (Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer) und tri- oder tetrazyklische Antidepressiva (z. B. Amitriptylin) eine moderate Effektivität zu haben (DKPM et al. 2018). Antidepressiva sind v. a. dann indiziert, wenn eine komorbide depressive Störung oder Angststörung vorliegen (DKPM et al. 2018; Albus 2020).
Cave
Bei jedem Einsatz von Antidepressiva muss sehr sorgfältig auf mögliche UAW (u. a. auf eine Verlängerung der QT-Zeit) geachtet werden. Und bei einer kardialen Grunderkrankung sollten tri- und tetrazyklische Antidepressiva wegen ihres größeren Nebenwirkungspotenzials besser vermieden bzw. nur mit besonderer Vorsicht eingesetzt werden.
Für eine Behandlung mit Betablockern liegt ungeachtet der weiten Verbreitung keine wissenschaftliche Evidenz vor.
Eine Behandlung ist zusätzlich problematisch, weil sie einer Fixierung auf eine organische Herzerkrankung Vorschub leisten kann.
Tipp
Sofern sich der Arzt für eine Behandlung mit Betablockern entschließt, muss sorgfältig darauf geachtet werden, dass der Patienten versteht, dass nicht das Herz als krankes Organ behandelt, sondern psychosomatische Stressreaktionen abgeschwächt werden (Albus 2020).
Cave
Ungeeignet sind Neuroleptika und (längerfristig) Benzodiazepine, da bei beiden Substanzgruppen ohne evidenzbasierte Indikation ein ausgeprägtes Missverhältnis zwischen Nutzen und möglichen UAW (v. a. Dyskinesien bzw. Sucht) besteht.
Die Substanzen sollten deshalb nur unter fachärztlicher Kontrolle und bei bestimmten komorbiden psychischen Erkrankungen (v. a. psychotische Syndrome, schwere Angststörungen) eingesetzt werden (DKPM et al. 2018; Albus 2020).
Abschließend wird darauf hingewiesen, dass die Implementierung der psychosomatischen Grundversorgung leider durch die derzeitigen Strukturen und Prozesse in der kardiologischen Versorgung erschwert wird. Dies betrifft sowohl die strukturellen Rahmenbedingungen als auch die Qualifizierung des ärztlichen Personals, sodass auf beiden Ebenen ein klarer Verbesserungsbedarf besteht. Positiv hervorzuheben ist, dass es seit längerem sehr gut evaluierte Qualifizierungsangebote in der ärztlichen Fortbildung gibt (z. B. Kurs „Psychokardiologische Grundversorgung“ der Akademie für ärztliche Fortbildung der DGK; Herrmann-Lingen 2020), durch die zumindest die persönliche Qualifikation sehr gefördert wird. Die aktuelle Weiterbildungsordnung zum Facharzt für Innere Medizin/Kardiologie enthält neuerdings mehrere Inhalte zum Thema „Psychokardiologie“, sodass ein diesbezüglicher Kompetenzerwerb schon für angehende Fachärzte gefordert wird.
Literatur
Albus C (2020) Funktionelle Herzbeschwerden. In: Herrmann-Lingen C, Albus C, Titscher G (Hrsg) Psychokardiologie. Ein Praxisleitfaden für Ärzte und Psychologen, 3., erw. u. akt. Aufl. Springer, Berlin/Heidelberg, S 121–131
Albus C, Herrmann-Lingen C (2009) Funktionelle Störungen in der Kardiologie. Herzmedizin 26:58–62
Albus C, Waller C, Fritzsche K, Gunold H, Haass M, Hamann B, Kindermann I, Köllner V, Leithäuser B, Marx N, Meesmann M, Michal M, Ronel J, Scherer M, Schrader V, Schwaab B, Weber CS, Herrmann-Lingen C (2018) Bedeutung von psychosozialen Faktoren in der Kardiologie – update 2018. Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie. Kardiologe 12:312–331CrossRef
Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (2019) Nationale VersorgungsLeitlinie Chronische KHK – Langfassung, 5. Aufl. Zugegriffen am 03.06.2021
DKPM, DGPM, DEGAM et al (2018) S3 Leitlinie Funktionelle Körperbeschwerden. AWMF-Reg.-Nr. 051-001. Zugegriffen am 02.06.2021
Frieling T (2018) Non-cardiac chest pain. Visc Med 34:92–96CrossRef
Herrmann-Lingen C (2020) Fortbildungskurse Psychokardiologische Grundversorgung in Deutschland. In: Herrmann-Lingen C, Albus C, Titscher G (Hrsg) Psychokardiologie. Ein Praxisleitfaden für Ärzte und Psychologen, 3., erw. u. akt. Aufl. Springer, Berlin/Heidelberg, S 309–310
Hoorweg BBN, Willemsen RTA, Cleef LE, Boogaerts T, Buntinx F, Glatz JFC, Dinant GJ (2017) Frequency of chest pain in primary care, diagnostic tests performed and final diagnoses. Heart 103:1727–1732CrossRef
Rogers J, Collins G, Husain M, Docherty M (2021) Identifying and managing functional cardiac symptoms. Clin Med 21:37–43CrossRef
World Health Organisation (1991) Tenth revision of the international classification of diseases, chapter F: Mental and behavioral disorders. World Health Organisation, Bern/Göttingen/Toronto