Einleitung
Der Begriff „funktionelle Herzbeschwerden“ deckt ein breites Spektrum von vegetativen Stress- bzw. Angstsymptomen, wie Herzklopfen oder -stolpern, Schmerzen wie Stechen, Brennen oder Ziehen in der Herzregion, bis hin zum Vollbild der „somatoformen autonomen Funktionsstörung des kardiovaskulären Systems“ (F45.30) nach ICD-10 ab. Wird ärztliche Diagnostik aufgesucht, findet sich auch nach gründlicher organbezogener Diagnostik keine hinreichende organische Ursache. Ein Teil der Betroffenen gibt sich mit der Information des Arztes, dass keine organische Erkrankung vorliegt, zufrieden, der andere – und nur das sind die Patienten mit einer „somatoformen Störung“ nach ICD-10 – bringt hartnäckig die Überzeugung vor, es müsse eine Herzerkrankung vorliegen, und fordert weitere organbezogene Diagnostik bzw. Therapie. Gelingt es nicht, dass sich Arzt und Patient auf eine Diagnose einigen, wechseln die Patienten oft mehrfach den Arzt („doctor hopping“), was auf beiden Seiten zu Unzufriedenheit führt. Grundkenntnisse hinsichtlich der Störung sowie angemessene Behandlungsstrategien können dem Arzt dabei helfen, diese Patientengruppe besser zu betreuen und seine Arbeitszufriedenheit zu erhöhen.
Epidemiologie und klinische Bedeutung
Nach älteren Untersuchungen geben etwa 10–25 % aller Erwachsenen an, gelegentlich Herzklopfen oder Schmerzen in der Herzgegend zu empfinden (Albus und Herrmann-Lingen
2009). Beim Hausarzt geben nach einer neueren Studie etwa 2 % aller Patienten als Konsultationsanlass „Brustschmerz“ an, wobei unter diesen nur in 8,4 % der Fälle eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung (z. B. ein
akutes Koronarsyndrom) diagnostiziert wurde (Hoorweg et al.
2017). Als häufigste Ursachen wurden muskuloskelettale Gründe gefunden, eine psychische Erkrankung wurde in 18,3 % diagnostiziert (Hoorweg et al.
2017).
In der kardiologischen Versorgung weisen jedoch schon ca. 30–40 % der Patienten „medically unexplained symptoms“ (hier analog zu funktionellen Herzbeschwerden) auf (Rogers et al.
2021). Damit kommt der Versorgung „funktioneller Beschwerden“ eine große Bedeutung zu. Wichtig ist zudem, dass funktionelle Herzbeschwerden auch komorbid zu organischen Herzerkrankungen auftreten können, was zu erheblichen Herausforderungen in der Diagnostik und Therapie führt.
Prognostisch ist relevant, dass das eingangs erwähnte „doctor hopping“ mit extensiver und redundanter Diagnostik assoziiert ist (Albus et al.
2018; Albus
2020).
Da häufig auch die Therapie der funktionellen Herzbeschwerden ineffizient ist, resultieren ein hohes Chronifizierungsrisiko
sowie erhebliche Kosten für das Gesundheitssystem (Albus et al.
2018; Albus
2020).
Eine erhöhte kardiale Sterblichkeit scheint jedoch nicht zu bestehen, einige Studien haben sogar eine inverse Beziehung zwischen (Herz-)Angst und dem Risiko, z. B. an einem Herzinfarkt zu versterben, gezeigt (Albus
2020). Dies kontrastiert deutlich zu den Befunden für eine Depression, Angststörung oder
posttraumatische Belastungsstörung mit und ohne gleichzeitige KHK oder
Herzrhythmusstörungen; hier ist ein negativer Einfluss sowohl auf die
Lebensqualität als auch auf die Morbidität und Mortalität empirisch gut abgesichert (Albus et al.
2018).
Differenzialdiagnosen
Kardiovaskuläre Differenzialdiagnosen werden an dieser Stelle aus Platzgründen nicht aufgeführt. Auch ein „non cardiac chest pain“ verlangt aufgrund multipler möglicher somatischer Ursachen (u. a. muskuloskelettal, gastrointestinal, pulmonal) nach einer gründlichen Differenzialdiagnostik (Frieling
2018), die hier ebenfalls nicht dargestellt wird.
An
psychischen Störungen müssen in erster Linie die folgenden Störungen abgegrenzt werden (s. Übersicht, Kernsymptome in Klammern):
Das klinische Bild funktioneller Herzbeschwerden ist jedoch sehr vielfältig und es können auch Überschneidungen mit den o. g. Syndromen bestehen, sodass die Differenzialdiagnostik hinsichtlich
psychischer Störungen schwierig sein kann.
Häufiger liegt auch eine gleichzeitige depressive Störung (mit den Hauptsymptomen gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit und Antriebsstörung) vor, auf deren Boden die Wahrnehmung und Bewertung körperlicher Symptome – psychogener oder somatischer Ursache – noch negativer gefärbt ist.
Bei diagnostischer Unsicherheit sollte der Internist/Kardiologe einen Facharzt für
Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie oder erfahrenen psychologischen Psychotherapeuten zu Rate ziehen.
Doch allein schon die Zuweisung zur Diagnostik muss sehr gut vorbereitet werden, sonst fühlen sich die Patienten abgeschoben (s. Abschn.
7).
Diagnostik
Eine Diagnostik funktioneller Herzbeschwerden stützt sich neben einer angemessenen somatischen Untersuchung in besonderer Weise auf die Anamnese (DKPM et al.
2018; Albus
2020). Zwar müssen relevante organische Erkrankungen ausgeschlossen bzw. kritisch gewichtet werden, aber nur eine biopsychosoziale Anamnese kann Hinweise auf den Auslöser und die o. g. psychologischen Faktoren erbringen.
Eine biopsychosoziale Anamnese ist neben einer angemessenen Organdiagnostik und Befundmitteilung auch von entscheidender Bedeutung, um eine zutreffende Diagnose und einen geeigneten Therapieansatz zu konsentieren („shared decision making“).
Die Diagnostikphase gliedert sich in drei Schritte (modifiziert nach Albus
2020):
1.
Biopsychosoziale Anamnese: Empathische Exploration körperlicher und psychischer Symptome, der subjektiven Krankheitstheorie sowie möglicher Auslöser, zunächst mittels offener Fragen, ggf. ergänzt um zielführende Eingrenzungen.
2.
Organdiagnostik: Symptomorientierte, gestufte somatische Diagnostik entsprechend aktueller Empfehlungen zum kritischen Einsatz invasiver Verfahren; alle Vorbefunde beibringen lassen; Vermeidung nichtindizierter Mehrfachdiagnostik.
3.
Befundmitteilung: Verständliche, eindeutige Erläuterung der Befunde; angemessene Bewertung von etwaigen somatischen Befunden; explizite Betonung, dass die Symptome einer belastenden Funktionsstörung, nicht jedoch einem bedrohlichen Organschaden entsprechen.
Die biopsychosoziale Anamnese schließt neben der Erhebung körperlicher Symptome auch etwaige psychische Beschwerden, die soziale Situation sowie die subjektive Krankheitstheorie des Patienten ein. Dabei ist auch die Exploration etwaiger Symptome, die auf eine Depression, Angststörung,
posttraumatische Belastungsstörung oder sonstige somatoforme Störung hinweisen, sinnvoll.
Die nachfolgende Übersicht listet Beispielformulierungen für die biopsychosoziale Anamnese auf.
Während der Anamnese muss aufmerksam alles erfasst und ggf. kommentiert werden, was der Patient verbal und nonverbal mitteilt. Bei der Schilderung herzbezogener Symptome sollte z. B. auf den begleitenden Affekt (z. B. übermäßige Angst, auffällig suggestive Schilderung etc.) geachtet werden. Bei der Exploration psychosozialer Auslöser kann vorsichtig eine mögliche Belastung markiert werden („Sie haben aber eine schwere Zeit hinter sich“).
Cave
Es sollte auf keinen Fall die Konfrontation mit der Verdachtsdiagnose „funktionelle Störung“ erfolgen, bevor nicht ein alternatives Krankheitsmodell (z. B. allgemeines Stressmodell, Neurobiologie des Schmerzes) erläutert wurde.
Bei der Aufklärung über notwendige somatische Untersuchungen kann jedoch schon mitgeteilt werden, dass bei den geschilderten Beschwerden im Prinzip sowohl organische, als auch funktionelle Störungen in Frage kommen.
Eine besondere Herausforderung in der Diagnostik ist die Möglichkeit einer Komorbidität
funktioneller Herzbeschwerden mit somatischen Krankheiten, z. B. einer KHK oder bedeutsamen
Herzrhythmusstörungen.
Hier erfordert die kritische Abwägung möglicher Interaktionen viel Erfahrung. Im Zweifel gilt, dass jedes neu aufgetretene Symptom Anlass zu einmaliger Diagnostik sein sollte. Auch bei z. B. komorbider KHK sollte jedoch zunächst die geduldige Zuwendung und eine körperliche Untersuchung ggf. unter Zuhilfenahme nichtinvasiver Diagnostik im Vordergrund stehen (BÄK et al.
2019).
Cave
Keinesfalls sollte dem Drängen der Patienten nach nicht streng indizierter Mehrfachdiagnostik nachgegeben werden, da hiermit neben erhöhten Risiken und Kosten auch einer Chronifizierung Vorschub geleistet wird.
Therapie
Die Therapie funktioneller Herzbeschwerden basiert auf drei Säulen, von denen im kardiologischen Kontext besonders die erste von besonderer Bedeutung ist (s. Übersicht) (Albus
2020; DKPM et al.
2018):
Die psychosomatische Grundversorgung integriert eine dieser Störung angemessene Diagnostik und Therapie und ist die Basis sowie der wichtigste Baustein in der Therapie funktioneller Herzbeschwerden.
Die Prinzipien der psychosomatischen Grundversorgung bei funktionellen Herzbeschwerden werden in der nachfolgenden Übersicht (modifiziert nach Albus
2020) ausformuliert:
Bei der psychosomatischen Grundversorgung geht es im Kern darum, zunächst durch empathische Zuwendung und Akzeptanz der Beschwerden und der Krankheitstheorie eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung herzustellen, bevor eine Erörterung eines alternativen Krankheitsmodells – Herzbeschwerden als psychosomatisches Symptom – begonnen wird.
Diese notwendige Reihenfolge einzuhalten, schützt auch den Arzt vor eigenem Ärger angesichts der ansonsten sehr „schwierigen“ Patienten.
Fasst ein Patient Vertrauen und kann sich von der Überzeugung einer organischen Herzerkrankung lösen, kann damit begonnen werden, angemessene Therapieansätze zu diskutieren. Die Therapie kann in Abhängigkeit von der Symptomschwere entweder in einer Fortführung der psychosomatischen Grundversorgung und/oder als Fachpsychotherapie erfolgen. Medikamentöse Ansätze sind nachrangig (s. u.).
Tipp
Der Patient darf sich aber durch die Anregung zu einer
Psychotherapie nicht zurückgewiesen fühlen, was z. B. bei einer Formulierung wie „Sie haben nichts Ernstes, Sie müssen zu einem Psychiater/Psychotherapeut“ passieren würde. Stattdessen ist hilfreich, von Psychotherapie als „Bewältigungshilfe“ für die belastenden Herzbeschwerden und den bislang nicht bewältigten Auslöser zu sprechen.
Weiterhin ist hilfreich, bei der Zuweisung von einem „therapeutischen Dreieck“ zu sprechen, indem der Arzt auch weiterhin mit niederfrequenten Kontakten den Patienten begleitet. Da besonders in Anfangsphasen einer
Psychotherapie körperliche Beschwerden immer wieder auftauchen können, kann der Arzt Zweifel und Bedenken mit dem Patienten diskutieren und ihn in der Sinnhaftigkeit der Psychotherapie bestärken, damit es nicht zu einem Therapieabbruch kommt.
In dem Kontext ist auch wertvoll, wenn sich Arzt und Psychotherapeut austauschen, um sicherzustellen, dass sie „an einem Strang ziehen“.
Kann ein Patient zu einer
Psychotherapie motiviert werden, ist eine ambulante Behandlung indiziert, sofern die Symptomatik nicht zu schwer ist. Bei sehr ausgeprägten Symptomen (z. B. weitgehender Unfähigkeit, allein das Haus zu verlassen), sehr häufiger Inanspruchnahme kardiologischer Notfallambulanzen oder psychischer Komorbidität (z. B. einer Depression) ist jedoch primär eine stationäre Therapie in einer psychosomatischen Fachklinik, gefolgt von einer ambulanten Psychotherapie, indiziert (DKPM et al.
2018; Albus
2020).
Zur
Psychotherapie liegen gute Belege für eine kurz- und mittelfristige Besserung der Symptomatik vor (DKPM et al.
2018; Albus
2020).
Nach klinischer Erfahrung ist für das Behandlungsergebnis wichtig, dass der Psychotherapeut kardiologische Grundkenntnisse aufweist, um sich auf die „schwierigen“ Patienten besser einstellen zu können.
Bei chronifizierten Störungen klingen die Symptome leider trotz Therapie oftmals nicht vollständig ab. Therapieziel ist dann eine Stabilisierung des Befindens auf dem besten erreichbaren Niveau, z. B. dass sich der Patient nicht mehr in Notfallambulanzen vorstellt (DKPM et al.
2018; Albus
2020).
Die empirische Evidenz für die Wirksamkeit spezifischer medikamentöser Ansätze ist sehr begrenzt (DKPM et al.
2018; Albus
2020).
Lediglich bei „atypischem Brustschmerz“ (funktionelle Herzbeschwerden ohne wesentliche vegetative Symptome) scheinen SSRI
(selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer), SNRI
(Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer) und tri- oder tetrazyklische
Antidepressiva (z. B. Amitriptylin) eine moderate Effektivität zu haben (DKPM et al.
2018). Antidepressiva
sind v. a. dann indiziert, wenn eine komorbide depressive Störung oder Angststörung vorliegen (DKPM et al.
2018; Albus
2020).
Cave
Bei jedem Einsatz von
Antidepressiva muss sehr sorgfältig auf mögliche UAW (u. a. auf eine Verlängerung der QT-Zeit) geachtet werden. Und bei einer kardialen Grunderkrankung sollten tri- und tetrazyklische Antidepressiva wegen ihres größeren Nebenwirkungspotenzials besser vermieden bzw. nur mit besonderer Vorsicht eingesetzt werden.
Für eine Behandlung mit
Betablockern liegt ungeachtet der weiten Verbreitung keine wissenschaftliche Evidenz vor.
Eine Behandlung ist zusätzlich problematisch, weil sie einer Fixierung auf eine organische Herzerkrankung Vorschub leisten kann.
Tipp
Sofern sich der Arzt für eine Behandlung mit
Betablockern entschließt, muss sorgfältig darauf geachtet werden, dass der Patienten versteht, dass nicht das Herz als krankes Organ behandelt, sondern psychosomatische Stressreaktionen abgeschwächt werden (Albus
2020).
Cave
Ungeeignet sind
Neuroleptika und (längerfristig)
Benzodiazepine, da bei beiden Substanzgruppen ohne evidenzbasierte Indikation ein ausgeprägtes Missverhältnis zwischen Nutzen und möglichen UAW (v. a. Dyskinesien bzw. Sucht) besteht.
Die Substanzen sollten deshalb nur unter fachärztlicher Kontrolle und bei bestimmten komorbiden psychischen Erkrankungen (v. a. psychotische Syndrome, schwere
Angststörungen) eingesetzt werden (DKPM et al.
2018; Albus
2020).
Abschließend wird darauf hingewiesen, dass die Implementierung der psychosomatischen Grundversorgung leider durch die derzeitigen Strukturen und Prozesse in der kardiologischen Versorgung erschwert wird. Dies betrifft sowohl die strukturellen Rahmenbedingungen als auch die Qualifizierung des ärztlichen Personals, sodass auf beiden Ebenen ein klarer Verbesserungsbedarf besteht. Positiv hervorzuheben ist, dass es seit längerem sehr gut evaluierte Qualifizierungsangebote in der ärztlichen Fortbildung gibt (z. B. Kurs „Psychokardiologische Grundversorgung
“ der Akademie für ärztliche Fortbildung der DGK; Herrmann-Lingen
2020), durch die zumindest die persönliche Qualifikation sehr gefördert wird. Die aktuelle Weiterbildungsordnung zum Facharzt für Innere Medizin/Kardiologie enthält neuerdings mehrere Inhalte zum Thema „Psychokardiologie“
, sodass ein diesbezüglicher Kompetenzerwerb schon für angehende Fachärzte gefordert wird.