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Klinische Neurologie
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Publiziert am: 14.11.2017

Häufige Psychiatrische Syndrome und Erkrankungen in der Neurologie

Verfasst von: Michael Grözinger und Joachim Röschke
In unserem Kulturkreis ist die Psychiatrie ein Teilgebiet der Medizin, und psychische Störungen werden als Dysfunktionen des Zentralnervensystems (ZNS) verstanden. Mit dem Wissen über die Funktionsweise des Gehirns teilt die Psychiatrie insofern mit der Neurologie die medizinisch-naturwissenschaftliche Basis ihres Fachgebietes. Daneben gibt es aber ein breites Spektrum an spezifischen Fragestellungen, Methoden und Traditionen, die sich sehr von denen der Neurologie unterscheiden. Dieses Kapitel innerhalb eines neurologischen Lehrbuches kann keinen umfassenden Überblick psychiatrischen Fachwissens vermitteln. Absicht der hier getroffenen Stoffauswahl ist es vielmehr, einen für die neurologische Tätigkeit praxisrelevanten Ausschnitt vorzustellen und auf die psychiatrischen Krankheitsbilder einzugehen, mit denen der Neurologe am ehesten konfrontiert wird. Auch bei der medikamentösen Therapie mussten Abstriche vorgenommen werden. Aus Platzgründen werden nur die Kontraindikationen, Neben- und Wechselwirkungen aufgeführt, die im Zusammenhang mit der Behandlung psychiatrischer Krankheitsbilder besonders wichtig erscheinen. Die hier nicht genannten unerwünschten Arzneimittelwirkungen gelten selbstverständlich dennoch ohne Einschränkung. Die angegebenen Dosierungen sind in der Regel auf stationär überwachte Patienten ausgelegt. Dies trifft speziell auf das Kapitel über psychiatrische Akutsituationen zu. Die hier verwandte Einteilung der Krankheitsbilder erfolgt in Anlehnung an die International Classification of Diseases (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation. Diese stellt eine Weiterentwicklung der mit dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders – Third Edition (DSM-III) begonnenen funktionalen Klassifikation dar, deren Ziel es ist, psychiatrische Erkrankungen durch möglichst objektive und international vergleichbare Kriterien zu charakterisieren. Auf die neue amerikanische Systematik nach DSM-V und die Unterschiede zu ICD-10 kann leider nicht eingegangen werden.
In unserem Kulturkreis ist die Psychiatrie ein Teilgebiet der Medizin, und psychische Störungen werden als Dysfunktionen des Zentralnervensystems (ZNS) verstanden. Mit dem Wissen über die Funktionsweise des Gehirns teilt die Psychiatrie insofern mit der Neurologie die medizinisch-naturwissenschaftliche Basis ihres Fachgebietes. Daneben gibt es aber ein breites Spektrum an spezifischen Fragestellungen, Methoden und Traditionen, die sich sehr von denen der Neurologie unterscheiden. Dieses Kapitel innerhalb eines neurologischen Lehrbuches kann keinen umfassenden Überblick psychiatrischen Fachwissens vermitteln. Absicht der hier getroffenen Stoffauswahl ist es vielmehr, einen für die neurologische Tätigkeit praxisrelevanten Ausschnitt vorzustellen und auf die psychiatrischen Krankheitsbilder einzugehen, mit denen der Neurologe am ehesten konfrontiert wird. Auch bei der medikamentösen Therapie mussten Abstriche vorgenommen werden. Aus Platzgründen werden nur die Kontraindikationen, Neben- und Wechselwirkungen aufgeführt, die im Zusammenhang mit der Behandlung psychiatrischer Krankheitsbilder besonders wichtig erscheinen. Die hier nicht genannten unerwünschten Arzneimittelwirkungen gelten selbstverständlich dennoch ohne Einschränkung. Die angegebenen Dosierungen sind in der Regel auf stationär überwachte Patienten ausgelegt. Dies trifft speziell auf das Kapitel über psychiatrische Akutsituationen zu. Die hier verwandte Einteilung der Krankheitsbilder erfolgt in Anlehnung an die International Classification of Diseases (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation (Dilling et al. 2015). Diese stellt eine Weiterentwicklung der mit dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders – Third Edition (DSM-III) begonnenen funktionalen Klassifikation dar, deren Ziel es ist, psychiatrische Erkrankungen durch möglichst objektive und international vergleichbare Kriterien zu charakterisieren. Auf die neue amerikanische Systematik nach DSM-V und die Unterschiede zu ICD-10 kann leider nicht eingegangen werden.

Allgemeiner Teil

Psychiatrischer Befund

Die Erhebung psychiatrisch relevanter Informationen stützt sich überwiegend auf teilstrukturierte ärztliche Untersuchungen wie den psychopathologischen Befund, die Eigen- und die Fremdanamnese. Eine in der Psychiatrie oft angewandte weitere Art der Datengewinnung benutzt Fragebögen mit Selbst- und Fremdratingskalen sowie testpsychologische Verfahren. Daneben nimmt die Bedeutung messbarer biologischer Parameter ständig zu. Als Beispiel hierfür sei die Bestimmung der Medikamentenspiegel genannt, die entscheidende Zusatzinformationen geben kann. Auch aus den bildgebenden Verfahren lassen sich immer mehr praxisrelevante Parameter ableiten.
Der Gesamtbefund eines psychiatrischen Patienten besteht aus Einzelmodulen, die getrennt dokumentiert werden sollten. Dabei kann folgende Gliederung angewandt werden:
  • Begleitumstände der Kontaktaufnahme
  • Anamnese des Patienten
  • Somatischer Befund
  • Familien- und Fremdanamnese
  • Zusatzdiagnostik und testpsychologische Verfahren

Begleitumstände der Kontaktaufnahme

Begleitumstände eines Erstkontaktes sind Datum, Uhrzeit, Zuweisungsmodus und Begleitpersonen. Nicht immer sind alle psychiatrisch wichtigen Informationen im Erstgespräch erhebbar, weil z. B. unvermittelt gestellte schambesetzte Fragen länger dauernde Irritationen sowie Trotz, Aggression, Rückzug oder sogar Therapieabbruch zur Folge haben können. Solche Konfliktsituationen sollten nach Abwägung von Vor- und Nachteilen individuell gelöst werden.

Anamnese

Je nach Art des Erstkontaktes ist der Ablauf und die Länge der Exploration sehr variabel. Der Arzt sollte abwechselnd sowohl eine eher passiv zuhörende Haltung als auch eine aktiv gestaltende Rolle einnehmen. Die daraus resultierenden Gesprächssituationen enthalten komplementäre Informationen über den Patienten und fügen sich zu einem Gesamtbild.
Ziele einer eher passiven Haltung des Untersuchers sind:
  • dem Patienten zu vermitteln, dass er wahr- und ernstgenommen wird,
  • die Beobachtung der spontanen Denkvorgänge (formal und inhaltlich), des Antriebs und der Dynamik der Emotionen.
Eine eher aktive Haltung erlaubt:
  • die Beobachtung der Reaktionen auf äußere Anforderungen und der kommunikativen Ressourcen (z. B. affektive Schwingungsfähigkeit),
  • die effektive Erhebung der für die Diagnose und die Dokumentation grundlegenden Daten,
  • dem Patienten zu vermitteln, dass seine Behandlung in ein Konzept eingebettet ist (welches Struktur und Schutz gibt).
Die psychiatrische Anamnese sollte:
  • einen klaren Überblick über den unmittelbaren Anlass der Vorstellung und alle aktuellen Beschwerden geben,
  • die gegenwärtige gesundheitliche, soziale und berufliche Situation erfassen und als Grundlage des psychopathologischen Befundes dienen,
  • die psychiatrische und somatische Vorgeschichte ausführlich beschreiben unter besonderer Berücksichtigung von früheren medikamentösen Therapien, Sucht- und Genussmitteln sowie Suizidversuchen in der Vergangenheit,
  • die innere und äußere Lebensgeschichte einschließlich Angaben zur Primärpersönlichkeit umfassen und
  • Angaben bezüglich der Familienanamnese machen.

Psychopathologischer Befund

Orientiert an den Grundbegriffen der Psychopathologie sollte der Untersucher aus der Exploration einen kurzen und prägnant abgefassten Befundbericht über den derzeitigen psychiatrischen Zustand des Patienten extrahieren. Neben der Dokumentationspflicht ist ein wesentliches Ziel dieses Berichtes, einem möglichen späteren Untersucher als Vergleichsgrundlage zu dienen. Dazu sollte ein genaues und lebendiges Bild von dem Zustand des Patienten vermittelt werden. Für die psychiatrische Diagnose sind neben dem aktuellen Befund (Querschnittsbild) zusätzlich Befunde zu anderen Zeitpunkten des Krankheitsverlaufes (Längsschnitt) hilfreich, manchmal sogar unabdingbar.
Bewusstseinszustand und Orientierung
Quantitative Bewusstseinsstörungen werden auf einer eindimensionalen Skala angegeben (wach, somnolent, soporös, komatös). Qualitative Störungen des Bewusstseins lassen sich in 3 Kategorien einordnen. Im Falle der Bewusstseinstrübung hat der Patient die Schwierigkeit, die verschiedenen Aspekte von sich und der Umwelt zu verstehen, zu verbinden und entsprechend sinnvoll zu handeln. Bei der Bewusstseinseinengung sind innerhalb eines begrenzten Bereichs die psychischen Funktionen relativ gut erhalten, die Ansprechbarkeit auf Reize außerhalb dieses Bereichs ist jedoch stark herabgesetzt. Bei der Bewusstseinsverschiebung wird subjektiv eine Intensivierung der Wahrnehmung und Wachheit registriert.
Die Orientierung wird in den Qualitäten zeitlich, örtlich, situativ und bezüglich der eigenen Person geprüft.
Aufmerksamkeit und Gedächtnis
Unter Aufmerksamkeit versteht man die Fähigkeit, das Bewusstsein auf Erfahrungen hin auszurichten. Konzentration meint die Fähigkeit, diese Ausrichtung auf Dauer aufrechtzuerhalten. Klinisch zeigen sich Störungen dieser Funktionen im Gespräch, aber auch im nonverbalen Bereich. Auffassung bezeichnet die Fähigkeit, Erfahrungen in ihrer Bedeutung zu begreifen und sinnvoll verbinden zu können. Man prüft sie z. B. durch das Deutenlassen einfacher Bildgeschichten.
Merkfähigkeit meint die Fähigkeit, sich neue Informationen über einen Zeitraum von etwa 10 Minuten merken zu können. Die Funktion des Gedächtnisses jenseits von 10 Minuten kann stichprobenartig für verschiedene Zeiträume getestet werden. Hierbei kann man überraschend auf Amnesien stoßen, auf Störungen des Zeitgitters oder Konfabulationen (der Patient füllt Gedächtnislücken mit freien Erfindungen, die er selbst für Erinnerungen hält). Wenn man den Patienten nur wenig kennt, werden Konfabulationen leicht übersehen. Im Zweifelsfall empfiehlt es sich, Fragen mehrfach zu stellen, da dann unterschiedliche Antworten auffallen. Prüfungen des Gedächtnisses können auch mit vorgegebenen Begriffen erfolgen. Dabei sollten zunächst Auffassungsstörungen durch Nachsprechenlassen ausgeschlossen werden.
Formales Denken
In dieser Kategorie werden Geschwindigkeit, Kohärenz und Stringenz des Gedankenablaufs beurteilt. Meist ist man dabei auf die Beobachtung der Sprache als Ausdruck von Denkprozessen angewiesen. Störungen können mit Eigenschaften wie gehemmt, verlangsamt, umständlich, eingeengt, perseverierend, inkohärent oder zerfahren beschrieben werden. Typische formale Denkstörungen sind auch Gedankendrängen, Vorbeireden, Gedankenabreißen, Ideenflüchtigkeit sowie die Verwendung von Neologismen.
Befürchtungen und Zwänge
Manchmal werden diese Symptome zusammen mit dem Wahn als inhaltliche Denkstörungen aufgefasst. Befürchtungen können sich in Bezug auf das Verhalten anderer als Misstrauen äußern, in Bezug auf die eigene Gesundheit als Hypochondrie und in Bezug auf bestimmte Objekte oder Situationen als Phobien . Geprüft werden sollte, ob diese Ängste wahnhaften Charakter haben (Unkorrigierbarkeit der Überzeugungen).
Zwänge treten auf in Form von Zwangsgedanken (unwillkürliche Gedanken, die nicht losgelassen werden können), Zwangsimpulsen (innere Antriebe, gefährliche, peinliche oder überflüssige Handlungen auszuführen) und Zwangshandlungen (z. B. wiederholte Kontrolle von Gegenständen, übermäßiges Händewaschen). Das Individuum erlebt diese Vorstellungen und Handlungen als sinnlos, wohl aber als der eigenen Person zugehörig. Bei willentlicher Unterbindung entsteht typischerweise unerträglicher Druck.
Überwertige Ideen sind an der Grenze zum Wahn einzuordnen. Die auftretenden wahnähnlichen Überzeugungen besitzen oft einen realen Kern, ihr Einfluss auf das Leben und Erleben des Patienten wird jedoch in nicht nachvollziehbarer Weise überschätzt.
Wahn
Wahn kann als „Privatwirklichkeit“ verstanden werden, die dem Realitätsverständnis der Umgebung entgegensteht und in hartnäckiger Weise verteidigt wird. Diese Unkorrigierbarkeit einer irrigen Überzeugung ist ein wesentliches Merkmal des Wahns. Die Beurteilung der Schwere orientiert sich am Ausmaß der Beeinträchtigung des Individuums innerhalb seines sozialen Rahmens, gemessen an seinem früheren Funktionsniveau.
Wahn kann mit anderen psychischen Prozessen verknüpft sein und dann als Wahnstimmung (etwas Bedeutungsvolles liegt in der Luft), Wahngedanke (kognitive Beschäftigung mit dem Wahn) sowie Wahnwahrnehmung (fehlinterpretierte reale Sinneswahrnehmung) und Wahneinfall (unvermittelt auftretende wahnhafte Überzeugung) in Erscheinung treten. In der sog. Wahnarbeit werden Wahn und andere Anteile des psychischen Erlebens zu einer zusammenhängenden Struktur (Wahnsystem) umgestaltet. Im Rahmen einer psychotischen Exazerbation kann der Wahn eine relevante affektive Tönung erfahren (Wahndynamik). Ein synthymer Wahn lässt sich aus einer bestehenden affektiven Verfassung heraus verstehen (Größenwahn bei Manie, Versündigungswahn bei Depression), bei einem parathymen Wahn ist dies nicht der Fall. Auch ein bezüglich des Affektes neutraler Wahn wird als parathym bezeichnet.
Bestimmte Wahnthemen sind überzufällig häufig anzutreffen. Nach diesen Themen sollte explizit gefragt werden: Beziehungswahn (Radiosendungen stehen in Beziehung zum Patienten), Beeinträchtigungs- und Verfolgungswahn (Unbekannte verwenden radioaktive Strahlen, um dem Patienten zu schaden, oder Mikrofone, um ihn abzuhören), Eifersuchtswahn, Liebeswahn, Größenwahn sowie hypochondrischer, querulatorischer und nihilistischer Wahn.
Sinneswahrnehmung
Abweichungen von der normalen Sinneswahrnehmung werden unterschieden in Halluzinationen (Wahrnehmungen ohne vorhandene Reizquelle), Pseudohalluzinationen (wie Halluzinationen, jedoch wird kognitiv die Täuschung als solche identifiziert), illusionäre Verkennungen (eine vorhandene Reizquelle wird falsch interpretiert) und Wahrnehmungsanomalien (ein Objekt wird in bestimmten Aspekten, wie z. B. Größe, verändert wahrgenommen). Sinnestäuschungen können insbesondere bei deliranten Patienten oft durch Suggestionen erzeugt oder beeinflusst werden. Ihre Komplexität kann sehr unterschiedliche Ausmaße erreichen und im optischen Bereich von Fotopsien über einfache Bilder bis zu Szenen mit traumähnlichem Charakter gehen. Beispiele für akustische Halluzinationen sind das Hören von Geräuschen (Akoasmen), sprachlichen Lauten (Phonemen), der eigenen Gedanken (bezeichnet als Gedankenlautwerden) sowie kommentierenden, dialogisierend oder imperativen Stimmen. Nach Letzteren ist insbesondere zur Einschätzung des Suizidrisikos zu fragen. Sinnestäuschungen des Hautsinnes werden als taktile Halluzinationen, solche des Körpergefühls als Zoenästhesien bezeichnet. Letztere können sehr bizarre Ausprägungen erreichen und sind nur unscharf von Wahn und Störungen des Ich-Erlebens abzugrenzen. Oft sehr quälend werden von Patienten Geschmacks- und Geruchshalluzinationen erlebt.
Ich-Erleben
Hierzu werden neben der Derealisation und der Depersonalisation (die Umwelt oder die eigene Person wirkt fremdartig und unvertraut) die Störungen der Meinhaftigkeit gerechnet, bei denen eigenes psychisches oder körperliches Erleben in manchmal bizarrer Weise den Charakter des von außen Gemachten annimmt. Beispiele hierfür sind Gedankenausbreitung (andere Menschen haben Anteil an den Gedanken des Patienten), Gedankenentzug und -eingebung (dem Patienten werden von außen Gedanken abgezogen, eingegeben oder verändert), die Beeinflussung des Willens (z. B. durch einen Sender im Kopf) sowie leibliche Beeinflussungserlebnisse (Organe werden durch Bestrahlung von außen geschädigt).
Affektivität
Eine kurz dauernde emotionale Reaktion bezeichnet man als Affekt, einen längerfristigen Gesamtzustand als Stimmung. Affektive Prozesse sind auf das Engste mit der körperlichen Befindlichkeit verbunden. Dies geht nicht selten so weit, dass bei affektiven Störungen das somatische Erleben gegenüber dem psychischen ganz im Vordergrund steht. Man spricht von einer Störung der Vitalgefühle, die sich in der Depression als Schweregefühl, vermehrte Schmerzempfindlichkeit, Kraftlosigkeit oder Druckgefühl äußern kann, in der Manie als Leichtigkeit, Spannkraft und Unempfindlichkeit gegenüber Schmerzen. Umgekehrt wirken körperliche Empfindungen wie z. B. Hunger, Durst oder sexuelle Erregung stark modulierend auf das Gefühlsleben.
Auffälligkeiten der Affektivität können beschrieben werden als deprimiert, subdepressiv, hypoman und euphorisch, apathisch, innerlich getrieben, ratlos, verzweifelt, hoffnungslos, klagsam, ängstlich, gereizt, ambivalent, misstrauisch, zornig, dysphorisch oder läppisch.
Andere Begriffe charakterisieren formale Auffälligkeiten der Affektivität. Affektarmut (Reduktion der spontan gezeigten Affekte und der affektiven Ansprechbarkeit) und Affektstarre (Verharren in bestimmten Affekten, auch entgegen äußeren Einflüssen) bezeichnen zusammengenommen eine affektive Verflachung (eingeschränkte Schwingungsfähigkeit) des Patienten. Weiter lassen sich unterscheiden: Affektlabilität (spontane oder induziert auftretende schnelle Stimmungswechsel), Affektinkontinenz (spontane oder induzierte überschießende und nur ungenügend beherrschbare Emotionen) und Parathymie (Inkongruenz des Erlebnisinhaltes und des dabei auftretenden Affektes). Das letzte Phänomen wird auch als inadäquater oder paradoxer Affekt beschrieben. Mehr im Subjektiven bleibt das Gefühl der Gefühllosigkeit (quälend erlebtes Fehlen von Emotionen) und die Anhedonie (Reize verlieren ihre Anziehungskraft).
Antrieb und Psychomotorik
Körperliche und psychische Prozesse werden durch den Antrieb moduliert. Dieser kann gesteigert, gemindert oder gehemmt sein und sich dementsprechend z. B. in körperlicher Unruhe oder Stupor, Logorrhö oder Mutismus äußern. Psychomotorische Auffälligkeiten können als Manierismen (alltägliche Bewegungen oder sprachliche Äußerungen, die durch ihre Betonung, Geziertheit oder Verkrampftheit auffallen), Parakinesien (qualitativ abnorme sprachliche Äußerungen oder Bewegungen) oder theatralisches Verhalten beschrieben werden.
Eigen- und Fremdgefährdung
Der psychiatrische Befund sollte eine Stellungnahme zur Eigen- und, falls vorhanden, auch zur Fremdgefährdung beinhalten. Psychische Erkrankungen bilden einen entscheidenden Risikofaktor für Suizidversuche. Diese gehören zu den schwerwiegendsten Komplikationen psychiatrischer Störungen. Mit mehr als 10.000 Selbsttötungen pro Jahr in Deutschland übersteigt die Zahl der Suizidopfer deutlich die der Verkehrstoten. Berücksichtigt man, dass die Zahl parasuizidaler Handlungen wahrscheinlich mehr als 10-mal so hoch liegt, wird die Bedeutung dieses Teils der psychiatrischen Untersuchung klar. Ungefähr drei Viertel aller Suizidversuche werden vorher angekündigt. Die ungenügende Reaktion der Umwelt auf diesbezügliche Äußerungen stellt ein wesentliches Element der suizidalen Entwicklung dar. Nicht selten muss der Untersucher eigene Scheu überwinden, um die verschiedenen Schattierungen potenzieller Suizidalität konkret zu erfragen. Diese reichen von dem gelegentlichen Wunsch, nicht mehr leben zu wollen, über anhaltenden Lebensüberdruss, passive Todeswünsche bis hin zu gedanklichen und tätigen Vorbereitungen. Der Untersucher sollte sich nicht mit zweideutigen Antworten des Patienten abfinden. Der Begriff der „latenten Suizidalität“ sollte unbedingt vermieden werden. Das Argument, dass Suizidabsichten ohnehin verschwiegen würden und diesbezügliche Fragen sinnlos seien, wird durch die tägliche Praxis widerlegt. Neben den konkreten Suizidäußerungen können eine zunehmende Einengung des psychischen Erlebens, Selbstvorwürfe und Schuldgefühle, innere Leere, Änderungen im Kontakt zum Untersucher und die „Ruhe vor dem Sturm“ Zeichen einer vermehrten Eigengefährdung sein. Hinweise auf ein erhöhtes Risiko für Eigen- und Fremdgefährdung sind folgende gemeinsame Merkmale:
  • direkte oder indirekte Ankündigung oder Vorbereitungen
  • ähnliche Handlungen in der eigenen oder familiären Vorgeschichte
  • ähnliche Handlungen in der Umgebung des Betroffenen
  • psychiatrische Erkrankungen (Depression/Manie, Schizophrenie, Suchterkrankung, Persönlichkeitsstörung)
  • psychopathologische Faktoren (imperative Stimmen, Wahn, Enthemmung durch Intoxikation)
  • soziale Faktoren (fehlender sozialer Kontakt oder Konfliktsituationen)
  • auffällige Dissimulation
Als zusätzliches Indiz für Fremdgefährdung sollte auf einschlägige Straftaten in der Vorgeschichte geachtet werden.
Intelligenz
Um sich bei angeborenen und erworbenen Störungen der intellektuellen Leistungsfähigkeit ein Bild vom Ausmaß der Defizite machen zu können, reichen für klinische Zwecke wenige Tests aus. Hierzu bedient man sich einfacher Rechenaufgaben, lässt Oberbegriffe bilden, fragt nach Unterschieden verwandter Begriffe, prüft Urteilskraft und Abstraktionsvermögen oder lässt Sprichwörter interpretieren. Allerdings sollte die Diagnose einer Minderbegabung nicht ohne testpsychologische Untersuchung gestellt werden.
Vegetativum
Bei Schlafstörungen werden Insomnien (Einschlaf-, Durchschlafstörungen und morgendliches Früherwachen) sowie Hypersomnien unterschieden. Tagesmüdigkeit, Störungen des Appetits und Tagesgang von Symptomen (insbesondere ein morgendliches Stimmungstief) sollten erfasst werden. Bei fehlendem organischem Korrelat werden Schmerzen, Missempfindungen und unspezifische Beschwerden wie Kloßgefühl, Schwindel, Verdauungsbeschwerden und übermäßiges Schwitzen ebenfalls zu den vegetativen Funktionsstörungen gerechnet.
Sonstige Befunde
Notizen über die äußere Erscheinung, das Auftreten des Patienten, vorhandene oder fehlende Krankheitseinsicht sowie die Qualität des Kontaktes helfen einem späteren Untersucher, sich ein Bild von der vorangegangenen Exploration zu machen. Nach Störungen der Impulskontrolle (Selbstverletzungen, aggressive Durchbrüche, pathologisches Spielen, Neigung zum Stehlen, im Essverhalten) sollte gefragt werden.

Somatischer Befund

Jeder psychiatrische Patient muss internistisch und neurologisch untersucht werden. Bei Patientinnen ist die Gegenwart einer weiblichen Person dabei dringend zu empfehlen, um späteren Anschuldigungen über sexuelle Belästigungen entgegentreten zu können. Aus psychiatrischer Sicht verdienen folgende Befundkonstellationen besondere Beachtung:
  • Hinweise auf eine somatische Genese der akuten psychiatrischen Symptome (Tremor, Schwitzen, Störungen der Extrapyramidalmotorik, Pupillenweite, Nystagmus etc.)
  • Hinweise auf Folgen von Selbst- oder Fremdaggressionen (verheilte Schnittwunden, ältere Prellmarken, aufgekratzte Akne, Narben), Einstichstellen als Zeichen für chronischen Substanzabusus, Schädelknochendefekte
  • Befunde, die für eine zukünftige medikamentöse Therapie wichtig sein können (kardiale und pulmonale Unregelmäßigkeiten, Lebervergrößerung, Glaukom, Blasenentleerungsstörungen, andere chronische Krankheiten)

Fremdanamnese und Vorbefunde

Die Fremdanamnese liefert in vielen Fällen die entscheidenden Hinweise für die psychiatrische Einschätzung. Insbesondere dann, wenn allein aus der Querschnittssymptomatik noch keine valide Diagnosestellung möglich ist und deswegen der Längsschnittbefund berücksichtigt werden muss. Ist z. B. ein Patient aktuell depressiv, können manische oder hypomane Vorepisoden zur Diagnose einer bipolaren affektiven Störung führen. Für die therapeutischen Optionen ist diese Differenzierung essenziell. Angehörige und Freunde nehmen Veränderungen an einem Patienten oft sehr sensibel, aber auch mit einem hilfreichen Abstand wahr.
Fallbeispiel
Ein 35-jähriger Physiker stellt sich wegen einer Depression vor. Er werde bei der Arbeit von seinen Kollegen schlecht behandelt und erhalte von seinem Chef nur sinnlose Aufträge. In der Exploration wirken Antrieb und Stimmung wenig beeinträchtigt. Er erzählt, dass er eine Psychotherapie aufgegeben habe, weil sich die Psychotherapeutin in ihn verliebt habe. Beim nächsten Termin bringt er seine Ehefrau mit. Aus ihren Aussagen und seinen Reaktionen wird klar, dass er unter Beziehungsideen und paranoidem Erleben leidet, welches er aber noch gut kontrollieren kann.
So wichtig Fremdanamnese und Vorbefunde für die psychiatrische Diagnostik sind, so schwierig ist es oft, bei ihrer Erhebung allen Beteiligten Rechnung zu tragen. Zum Schutz des Patienten sollten Peinlichkeiten auch dann sorgfältig bedacht werden, wenn er diese zu dem Zeitpunkt krankheitsbedingt nicht wahrnimmt. Der Einhaltung des Datenschutzes ist besondere Beachtung zu schenken, stets sollte eine größtmögliche Diskretion eingehalten werden. Die Weitergabe psychiatrischer Arztbriefe setzt das schriftliche Einverständnis des Patienten voraus. Textstellen, die die Rechte Dritter verletzen können, sind vor Herausgabe zu schwärzen.

Zusatzdiagnostik

Die Zusatzdiagnostik reicht von einfachen pflegerischen Maßnahmen (Überwachung von Temperatur, Blutdruck, Puls) über Laboruntersuchungen (übliche Routinewerte, Schilddrüsenparameter, Kontrollen der Medikamentenspiegel, Drogenscreening) bis zu komplexerer Diagnostik (EEG, EKG, bildgebende Verfahren).
Manche Untersuchungen müssen u. U. mehrfach durchgeführt werden und haben folgende Ziele:
  • mögliche somatische Ursachen der psychiatrischen Beschwerden aufzudecken (z. B. Hypo- oder Hyperthyreose),
  • die Therapie zu überwachen,
  • nebenbefundlich andere Erkrankungen helfen aufzudecken.
Bedingt durch den Wunsch nach objektiver und quantitativer Erfassung psychiatrischer Befunde in Forschung und Klinik sowie durch die zunehmende Bedeutung der Qualitätskontrolle wurden in den letzten Jahrzehnten verschiedene Verfahren wie standardisierte Selbst- und Fremdratingskalen entwickelt: AMDP-System (Erfassung der Anamnese und des Befundes im Rahmen eines semistrukturierten Interviews), CIDI (Composite International Diagnostic Interview), SKID (Strukturiertes klinisches Interview), MMSE (Mini Mental State Examination) zur Beurteilung des Schweregrades einer Demenz sowie Intelligenztests, Vigilanz- und Reaktionstests.

Spezieller Teil

Organische psychische Störungen (F0)

Gemeinsam ist dieser Gruppe von Störungen, dass eine körperlich definierte Erkrankung bekannt ist, die in einem nachvollziehbaren ursächlichen Zusammenhang mit den psychischen Beschwerden steht. Diese Klasse psychiatrischer Erkrankungen erweitert sich definitionsgemäß in Abhängigkeit von dem fortschreitenden Erkenntnisstand. Eine Unterteilung kann nach vielfältigen Gesichtspunkten erfolgen. So wurden in der Vergangenheit Art, Ort und Schweregrad der somatischen Schädigung oder der Verlauf der psychischen Symptomatik als separierendes Merkmal in den Vordergrund gestellt. Die Klassifikation nach ICD-10 orientiert sich in erster Linie am psychopathologischen Befund und in zweiter Linie an der Ätiologie (Dilling et al. 2015).
Prinzipiell können somatische Erkrankungen nahezu jedes psychiatrische Symptom verursachen. Allerdings gibt es Syndrome, die unmittelbar eine organische Genese vermuten lassen. Diese beinhalten als auffallendste Merkmale Defizite der kognitiven Funktionen (Gedächtnis, Lernen, Intellekt) oder des Sensoriums (Bewusstsein, Aufmerksamkeit) sowie schnell wechselnden Affekt. Man unterscheidet mit dem demenziellen, dem amnestischen und dem deliranten Bild drei Unterformen F00 bis F05.
Daneben gibt es organisch bedingte Störungen mit einer eher uncharakteristischen Auswirkung auf den psychopathologischen Befund. Wegen der Gefahr, verkannt zu werden, machen sie eine Reihe von routinemäßigen Zusatzuntersuchungen erforderlich. Diese untypischen Formen werden in Abgrenzung zu den drei charakteristischen Bildern als andere organische psychische Störungen F06 zusammengefasst. Nicht seltene Beispiele sind depressive oder psychotische Zustandsbilder bei einer Hypothyreose, die aufgrund der Psychopathologie allein nicht als organische psychische Störungen identifiziert werden können.

Demenz

Klinik
In der Vergangenheit stand der chronische irreversible Verlauf im Zentrum des Demenzbegriffs. Bei den modernen Klassifikationssystemen rücken die Defizite der kognitiven Funktionen (Merkfähigkeit, Gedächtnis, Denkvermögen, Ideenfluss, Lernen, Auffassung, Sprache, Urteilsvermögen) einhergehend mit den Beeinträchtigungen im Alltagsleben (Waschen, Ankleiden, Essen, persönliche Hygiene) mehr in den Mittelpunkt der Definition. Das Bewusstsein darf bei der Demenz quantitativ nicht beeinträchtigt sein, qualitative Bewusstseinsstörungen sollten hinter den kognitiven Störungen eher zurückstehen. Die Reduktion der intellektuellen Leistungsfähigkeit muss erworben und nicht angeboren sein wie bei der Oligophrenie. Zur Sicherung der Diagnose müssen die Symptome mindestens 6 Monate bestehen. Testpsychologische Verfahren sind geeignet, die Defizite aktuell und im Verlauf zu objektivieren.
Die oft langsam zunehmenden amnestischen Probleme werden von den Patienten eher heruntergespielt und mithilfe von Kompensationsmechanismen auch vor nahen Angehörigen anfangs verheimlicht. Typischerweise sind kurz zurückliegende Eindrücke vom Abbau stärker betroffen als ältere. Die Patienten neigen zum Perseverieren und haben Schwierigkeiten, flexibel zwischen mehreren Gedankengängen umzuschalten. Der kognitiven Symptomatik vorausgehend oder sie begleitend kann es zu einer Verschlechterung der emotionalen Kontrolle (Affektlabilität, Affektinkontinenz), des Sozialverhaltens und der Motivation (Abneigung gegen Neues, Desinteresse) kommen. Im späteren Verlauf treten Persönlichkeitsveränderungen oder -akzentuierungen sowie Störungen höherer kortikaler Funktionen (Aphasie, Agnosie, Apraxie) und des Tag-Nacht-Rhythmus auf.
Differenzialdiagnose
Ungefähr 5 % der über 65-jährigen und 20 % der über 80-jährigen Menschen weisen eine schwere Demenz auf. Da bei einem Teil der Erkrankungen gute Therapiemöglichkeiten bestehen, sollte jeder Einzelfall intensiv abgeklärt werden. Auf die Abgrenzung zu depressiv bedingten kognitiven Einschränkungen wird in Abschn. 2.3 über affektive Störungen eingegangen. Bei leichten kognitiven Defiziten älterer Patienten fällt die Unterscheidung zum Normalen oft schwer und kann manchmal erst im Verlauf erfolgen. Auch die Bradyphrenie und Akinese von Parkinson-Patienten kann differenzialdiagnostische Probleme bereiten. Das Delir zeichnet sich gegenüber der Demenz durch einen eher akuten Verlauf aus, durch frühzeitige Störung der Orientierung sowie durch auffällige Veränderungen der Psychomotorik und Vigilanz. Eine psychogene Amnesie kann durch intensive Beobachtung im Stationsalltag unschwer erkannt werden.
Ätiologie
Der Begriff Demenz bezeichnet keine Diagnose im strengen Sinn einer Krankheitsentität, sondern ein Syndrom, da viele verschiedene Erkrankungen ursächlich verantwortlich sind (Kap. „Alzheimer-Demenz und andere degenerative Demenzen“; Kap. „Vaskulär bedingte Demenz“).
Therapie
Die Therapie richtet sich nach den im Rahmen der Grundkrankheit gegebenen Möglichkeiten. Unabhängig von der ätiologischen Einordung können begleitende psychiatrische Störungen (depressiv, ängstlich, psychotisch) symptomatisch behandelt werden.
Cave
Möglichst keine anticholinergen Substanzen verordnen, alle Pharmaka langsam aufdosieren und eine niedrige Zieldosis wählen.
In den letzten Jahren haben sich Hinweise ergeben, dass insbesondere unter atypischen Antipsychotika, die bei dementen Patienten bei aggressiven Störungen und psychotischen Symptomen verordnet werden, gehäuft zerebrovaskuläre Ereignisse auftreten. Bei der Therapie sollten diese deshalb zurückhaltend eingesetzt werden, der Behandlung mit Antidementiva sollte der Vorrang eingeräumt werden.
Memantin wirkt als Glutamatmodulator am NMDA-Rezeptor und ist zur Behandlung der mittelschweren bis schweren Alzheimer-Krankheit zugelassen. Weiter lässt sich das durch den Untergang von Neuronen bedingte cholinerge Defizit medikamentös durch Hemmstoffe der Acetylcholinesterase (ACHE) abmildern. Derzeit befinden sich hauptsächlich die Substanzen Donepezil, Galantamin und Rivastigmin im Gebrauch. Letzteres bietet den Vorteil geringer Interaktionen, da es nicht über das Zytochrom-P450-Isoenzym-System metabolisiert wird.

Organisches amnestisches Syndrom

Klinik
Bei Patienten mit organischem amnestischem Syndrom ist das Kurzzeitgedächtnis gestört, während Vigilanz, Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit weitgehend intakt bleiben. Eine unmittelbare Wiedergabe von Erlebtem ist deshalb möglich, jedoch besteht eine zeitliche Desorientiertheit sowie antero- und retrograde Amnesie. Akzessorisch können Konfabulationen, Mangel an Einsichtsfähigkeit und Apathie auftreten. Die allgemeinen intellektuellen Fähigkeiten sind in der Regel wenig beeinträchtigt. Für die Diagnose wird ein anamnestischer oder objektiver Hinweis auf eine Hirnschädigung gefordert. Ein Zeitkriterium wie bei der Demenz fehlt beim organischen amnestischen Syndrom, da sich solche Zustände rasch zurückbilden können.
Ätiologie
Als Ursache kommen Schädigungen des Thalamus, der Corpora Mammillaria und des limbischen Systems in Betracht, bedingt beispielsweise durch Thiaminmangel beim chronischen Alkoholismus (Korsakow-Syndrom), epileptische Anfälle oder Durchblutungsstörungen (transitorisch globale Amnesie). Das Korsakow-Syndrom kann als Teil einer Wernicke-Enzephalopathie auftreten, die durch Störungen der Blickmotorik, Ataxie und Verwirrtheit gekennzeichnet ist und ein lebensbedrohliches Krankheitsbild darstellt.
Therapie
Die Therapie des organischen amnestischen Syndroms richtet sich nach der Grunderkrankung, ggf. ergänzt durch sedierende Maßnahmen.

Delir

Ursprünglich wurde der Begriff Delir nur für akute Verwirrtheitszustände mit typischer vegetativer Symptomatik, insbesondere bei Alkoholentzug, verwendet. Bei der Einführung der modernen Klassifikationssysteme haben sich ähnlich wie beim demenziellen Syndrom die Kriterien der Definition vom Verlauf der Erkrankung auf die aktuelle Psychopathologie verschoben.
Klinik
Kennzeichnend für das Delir ist ein abruptes Auftreten von Störungen der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung und der kognitiven Leistungsfähigkeit. In jeweils unterschiedlicher Ausprägung sind folgende Einzelbefunde für das Krankheitsbild typisch:
  • quantitative und qualitative Bewusstseinsstörungen
  • reduzierte Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu steuern
  • Beeinträchtigungen des Denkens, der Auffassung und des Gedächtnisses (v. a. des Kurzzeitgedächtnisses)
  • Wahrnehmungsstörungen (illusionäre Verkennungen, visuelle und akustische Halluzinationen) führen zu Fehlinterpretationen der Umgebung
  • flüchtige Wahnideen (meist aus Fehlinterpretationen der Umgebung des Patienten entstehend)
  • formale Denkstörungen (eine sinnvolle Verständigung ist aufgrund von Inkohärenz meist nicht möglich)
  • Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus (Rhythmusumkehr, nächtliche Verschlechterung der Symptomatik)
  • gesteigerte oder verminderte psychomotorische Aktivität (verlängerte Reaktionszeit, verstärkte Schreckreaktionen)
  • gestörte Affektivität
In der Regel entwickelt sich die Symptomatik über Stunden oder Tage, kann in der Intensität deutlich fluktuieren und klingt oft im Verlauf von bis zu 4 Wochen wieder ab. Allerdings ist auch eine Dauer von höchstens 6 Monaten noch mit der Diagnose vereinbar. Meistens hinterlässt die Krankheitsepisode eine Amnesie.
Beim typischen Entzugsdelir (Alkohol-, Benzodiazepin- und Barbituratentzug) führt der gesteigerte adrenerge Tonus zu starkem Schwitzen, Tremor, Beschleunigung des Pulses und Blutdruckanstieg. Charakteristisch, aber nicht obligat sind nestelnde Bewegungen, optische Halluzinationen und erhöhte Suggestibilität.
Prinzipiell kann sich ein Delir in jedem Lebensalter entwickeln, jedoch ist die Erkrankungshäufigkeit bei Kindern und älteren Menschen erhöht. Oft leiden die Patienten an schweren Allgemeinerkrankungen, an postoperativen Komplikationen oder substanzinduzierten Störungen. Die Sterblichkeit bei Alkoholentzugsdelir konnte durch eine adäquate Behandlung von 15–20 % auf 5 % gesenkt werden.
Ein delirantes Bild kann eine Demenz überlagern oder sich zu einer Demenz weiterentwickeln. Selbst wenn ein Delir häufig durch Alkoholentzug verursacht wird, sollten immer auch andere ätiologische Möglichkeiten in Betracht gezogen werden. Auf somatische Erkrankungszeichen muss unbedingt geachtet werden (Prellmarke oder anamnestische Hinweise bei subduralem Hämatom, Fieber bei Infekt), und Zusatzuntersuchungen dürfen nicht unterlassen werden. Patienten mit akut psychotischen Krankheitsbildern können verwirrt erscheinen, wenn ausgeprägte formale Denkstörungen, starkes desorganisiertes Verhalten, schnell wechselnder Affekt, psychomotorische Unruhe, Störungen der Aufmerksamkeit oder fehlende Kooperationsbereitschaft vorherrschen. Hieraus ergeben sich in manchen Fällen differenzialdiagnostische Schwierigkeiten zum Delir. Hauptsächlich die Vorgeschichte, aber auch psychopathologische Unterschiede sind in solchen Situationen hilfreich.
Diagnose und Differenzialdiagnose
Das Delir stellt ebenso wie die Demenz keine Diagnose im strengen Sinn einer Krankheitsentität dar, sondern ein ätiologisch unspezifisches Syndrom. Die folgende Auflistung gibt eine differenzialdiagnostische Übersicht, aus der sich auch die zur Abklärung eines Delirs notwendigen Untersuchungen ergeben.
Substanzinduziertes Delir
Prinzipiell kann ein Delir durch Substanzintoxikation, Substanzentzug, Nebenwirkung eines Medikaments oder Einwirkung eines Toxins verursacht werden. Naturgemäß rufen alle Drogen und als solche missbrauchten Medikamente (Amphetamine, Ecstasy, Kokain, Opiate, Cannabis, Halluzinogene, Alkohol, Hypnotika) unter entsprechenden Bedingungen delirante Zustände hervor. Auch bei bestimmten anderen Pharmaka besteht eine erhöhte Gefahr für die Entstehung eines Delirs, besonders wenn eine Disposition des Patienten, eine schnelle Dosissteigerung, ein hoher Wirkspiegel oder ein Entzug vorliegt. Solche sind beispielsweise: Anticholinergika, trizyklische Antidepressiva und Antipsychotika, Benzodiazepine, Antiparkinson-Medikamente, Antikonvulsiva, Kortikoide, Gyrasehemmer, β-Rezeptorenblocker, Cimetidin. Im Rahmen von Suizidversuchen können Gifteinwirkungen (z. B. CO) delirante Zustände entstehen lassen.
Neurologische Grunderkrankungen
Bei neurodegenerativen Erkrankungen (insbesondere im Rahmen demenzieller Prozesse), Schädel-Hirn-Traumata, postiktalen Zuständen, Raumforderungen, Meningitis, Enzephalitis und zerebrovaskulären Erkrankungen kann ein Delir auftreten.
Metabolische und andere internistische Störungen
Bei Nieren- und Lebererkrankungen (urämische und hepatische Enzephalopathie), akuter Pankreatitis, Porphyrie, Störungen des Wasser- und Elektrolythaushaltes (cave: Exsikkose bei älteren Menschen), Störungen der Osmolarität, Anämie, Hypoxie, Hyperkapnie, Hypoglykämie und kardiovaskulären Störungen kann ein Delir vorkommen.
Bei allen systemischen Infektionen mit hohem Fieber (Malaria, Pneumonie) und als postoperative Komplikation muss mit deliranten Zuständen gerechnet werden.
Mangelzustände
Mangel an Vitamin B1, B6, B12 und Folsäure können ein Delir auslösen. Vor einer Substitution sollte Blut abgenommen werden, um die Diagnose zu sichern.
Therapie
Die Therapie eines Delirs muss unter stationären Bedingungen erfolgen und stützt sich entscheidend auf die Beseitigung der Ursachen, soweit diese eruierbar sind. Zusätzlich müssen allgemeinmedizinische Maßnahmen ergriffen werden:
  • Überwachung der vitalen Funktionen und Behandlung von auftretenden Komplikationen (Rhythmusstörungen, Herzinsuffizienz, Blutdruckprobleme)
  • ausreichende Flüssigkeitszufuhr, Kontrolle der Elektrolyte und des Blutzuckers
  • ggf. Magenschutz und Thromboseprophylaxe
In Abhängigkeit von der Grunderkrankung können außerdem spezifische Behandlungen angewendet werden. Wird in antipsychotischer oder sedierender Indikation Haloperidol verordnet, sollte die Dosis in der Regel unter 5 mg, bei Alkoholentzug unter 10 mg täglich betragen.
Alkoholentzugsdelir
Hier sollte die Zufuhr von Alkohol sofort unterbrochen und eine Substitution mit Clomethiazol begonnen werden.
Therapieempfehlungen
  • Die Behandlung wird mit 2 Kapseln Clomethiazol im Abstand von je 2 h eingeleitet und danach individuell dem Ausmaß der Entzugssymptomatik und Sedierung angepasst.
  • Von Ausnahmen abgesehen sollte eine Anzahl von etwa 24 Kapseln täglich nicht überschritten werden.
  • Unmittelbar nach Erreichen einer gleichbleibenden Dosierung (meistens nach 2–4 Tagen) wird mit der Reduktion des Clomethiazols um 2 Kapseln pro Tag angefangen.
  • Treten trotz dieser Behandlung halluzinatorische Zustandsbilder auf, kann zusätzlich Haloperidol verordnet werden.
  • Zur Regulation von Blutdruckkrisen eignet sich Clonidin, soweit keine anderen Entzugssymptome hinzutreten (andernfalls Clomethiazol-Dosis erhöhen).
  • Bei einer Kontraindikation gegen Clomethiazol ist ein Ausweichen auf Diazepam und/oder Haloperidol möglich. Grundsätzlich sollte Vitamin B1 substituiert werden.
Medikamentenentzug
Bei Entzug von Barbituraten, Benzodiazepinen und anderen Hypnotika muss eine sehr langsame Reduktion dieser Substanzen über Wochen erfolgen. Im Fall von Clomethiazol bei Alkoholentzug sollte ein Zeitraum von 10 Tagen ausreichen.
Bei Entzug von sonstigen Medikamenten und Drogen (Opiate) sowie leichten Entzugssyndromen durch Alkohol und Hypnotika kann Doxepin mit gutem Erfolg verordnet werden. Da durch diese Medikation kein antikonvulsiver Schutz gewährleistet ist, kann man ergänzend Carbamazepin einsetzen.
Beim Substanzentzug ist die frühzeitige Behandlung prädeliranter vegetativer Symptome empfehlenswert, um der Entwicklung eines Delirs vorzubeugen.
Durch Rauschmittel oder Medikamente induziertes Delir
Bei deliranten Zuständen nach Rauschmitteln ist ein sofortiges Absetzen notwendig. Clomethiazol und Haloperidol können unterstützend gegeben werden.
Wird die Symptomatik durch die therapeutische Anwendung eines Medikaments (z. B. zu schnelle oder zu hohe Aufdosierung einer anticholinergen Substanz) verursacht, sollte es abgesetzt und später langsamer aufdosiert oder durch ein anderes ersetzt werden. Nur in gut begründeten Ausnahmefällen ist ein anderes Vorgehen gerechtfertigt.
Allgemeinerkrankungen
Bei schweren Allgemeinerkrankungen mit deliranter Symptomatik kann neben der Behandlung der Grunderkrankung, soweit notwendig, Haloperidol oder Clomethiazol verordnet werden.
Cave
Clomethiazol sollte außer mit Haloperidol nicht mit zentral dämpfenden Pharmaka kombiniert werden. Die Substanz eignet sich nicht zur ambulanten Therapie und darf parenteral nur unter intensivmedizinischen Bedingungen angewandt werden. Bei obstruktiven Lungenerkrankungen sollte Clomethiazol sehr zurückhaltend eingesetzt werden.

Andere organische psychische Störungen

Dieser Gruppe von Krankheitsbildern ist gemeinsam, dass ihr psychopathologisches Erscheinungsbild nicht charakteristisch genug ist, um eine organische psychische Störung zu diagnostizieren. Im Gegensatz zur Demenz und zum Delir gibt es nämlich für die hier klassifizierten Erkrankungen keine typischen psychopathologischen Zeichen, die sie beispielsweise von den affektiven und schizophrenen Störungen abgrenzen könnten. Um trotzdem zwischen einem pathologischen organischen Befund und einer vorliegenden psychischen Störung einen ätiologischen Zusammenhang herstellen zu können, sollten bei der Diagnose folgende Kriterien erfüllt sein:
  • Nachweis einer somatischen Erkrankung (zerebral oder systemisch), von der bekannt ist, dass sie mit dem jeweiligen psychopathologischen Syndrom einhergehen kann
  • zeitliche Korrelation zwischen dem Auftreten beider Krankheitsphänomene
  • Rückbildung der psychischen Beschwerden nach Besserung der vermuteten somatischen Ursache
  • kein überzeugender Beleg für eine anderweitige Verursachung des psychischen Syndroms
Die Erkrankungen dieser Gruppe werden entsprechend dem vorherrschenden psychopathologischen Symptom klassifiziert. Neben den zwei dargestellten Beispielen können auftreten: die organische katatone Störung, die organische wahnhafte (schizophreniforme) Störung, die organische Angststörung und die organische Persönlichkeitsstörung.
Organische Halluzinose
Psychopathologisch ist die Erkrankung gekennzeichnet durch ständige oder immer wiederkehrende Halluzinationen auf mindestens einem Sinnesgebiet bei gleichzeitigem Fehlen von Bewusstseinstrübung, schwerem kognitivem Abbau, Wahnideen und affektiven Störungen. Häufig finden sich beispielsweise akustische Halluzinationen ohne nennenswerte delirante Symptomatik bei chronischem Alkoholismus und taktile Halluzinationen in Form von krabbelnden, sich bewegenden Sensationen auf der Haut bei Kokainabhängigkeit (Kokskäfer). Außerdem kommen organische Halluzinosen vor bei Temporallappenepilepsie, Enzephalitis, Hirntumoren, Missbrauch von Psychostimulanzien und nach Schädel-Hirn-Trauma. Neben der Therapie der Grunderkrankung können Antipsychotika verordnet werden.
Fallbeispiel
Ein 28-jähriger praktizierender Zahnarzt klagt, dass sein linker Unterschenkel von Würmern zerfressen werde. Er fühlt und sieht diese Tiere, zeigt sie auch dem Untersucher, der aber nur unbedeutende Veränderungen der Haut erkennen kann. Der Patient lässt sich aber nicht von seiner Überzeugung abbringen. In seinem Urin wird Kokain nachgewiesen, nach einer Entzugsbehandlung kann er sich von seinen falschen Wahrnehmungen distanzieren.
Organische Halluzinosen und organische wahnhafte Störungen treten nicht selten bei Parkinson-Patienten unter dopaminerger Medikation auf und äußern sich zunächst in lebhaften Träumen, illusionären Verkennungen, später in optischen, seltener auch akustischen Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Nach Ausschluss anderer Ursachen wie z. B. Exsikkose, Infektion und Hyperthyreose sollten zunächst solche Medikamente abgesetzt werden, die nur schwach gegen die Grundkrankheit wirksam sind, aber ein hohes Risiko für die Entwicklung psychotischer Symptome besitzen (Anticholinergika, Amantadin, Selegilin). Danach kann versucht werden, Dopaminagonisten und L-Dopa auf die minimal wirksame Dosierung herabzusetzen. Trotzdem ist bei vielen Patienten die zusätzliche Gabe eines Antipsychotikums oft unumgänglich. Es sollte dann Quetiapin, Clozapin (cave: kontrollierte Anwendung) oder ein anderes Antipsychotikum mit geringen extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen eingesetzt werden, um die Parkinson-Symptomatik nicht zu verschlechtern.
Organische affektive Störungen
Bei diesen Störungen stehen depressive oder manische Verstimmungen im Vordergrund, die meistens mit einer Veränderung des Aktivitätsniveaus einhergehen. Aufgrund der Psychopathologie allein können diese Krankheitsbilder nicht von den affektiven Störungen unterschieden werden. Melancholische Depressionen sind aber im Rahmen organischer affektiver Störungen eher untypisch. Für eine Diagnose sollte die affektive Symptomatik nach der organischen Störung auftreten. Eine depressive Reaktion bedingt durch das Wissen um eine somatische Erkrankung ist nicht hier einzuordnen. Affektive Syndrome können beispielsweise vorkommen bei multipler Sklerose, Hirninfarkten, raumfordernden Prozessen, rheumatischen Erkrankungen, Infektionskrankheiten, Abusus psychotroper Substanzen (Alkohol) und als Nebenwirkung von Medikamenten.
Ist die Grunderkrankung nicht oder nur langfristig zu behandeln oder persistieren die depressiven Beschwerden trotz der Behandlung der Grunderkrankung, so ist eine symptomatische antidepressive Therapie gerechtfertigt.

Schizophrenie und verwandte Störungen (F2)

Inwieweit alle in der ICD-10 hierunter zusammengefassten Störungen ätiologisch miteinander verwandt sind, konnte bisher nicht geklärt werden. Ihre Zusammenfassung in einer Gruppe beruht auf psychopathologischen Gemeinsamkeiten bzw. im Fall der schizotypen Störung auf der genetischen Assoziation mit der Schizophrenie. Andererseits unterscheiden sich die hier klassifizierten Störungen bezüglich Verlauf, Symptomatik, Prognose und Therapie erheblich.

Schizophrene Störungen (F20)

Die Schizophrenie ist die häufigste und wichtigste Erkrankung der Kategorie F2. Der Begriff wurde 1911 von Bleuler geprägt.
Verschiedene – die Vielfalt der psychopathologischen Phänomene ordnende – Konzepte von
  • Kraepelin 1896 (Zusammenfassung verschiedener Krankheitsbilder zur Dementia praecox, gekennzeichnet durch einen im Vergleich zur manisch-depressiven Störung schlechteren Verlauf),
  • Bleuler 1911 (Begriffsbildung, Grundsymptome und daraus abgeleitete akzessorische Symptome) und
  • Schneider 1967 (Symptome 1. und 2. Ranges als erster Ansatz einer Operationalisierung)
bilden die historische Grundlage des heute in der ICD-10 verwirklichten Verständnisses der Schizophrenie als einer chronischen Krankheit mit verschiedenen Subtypen, die nahezu alle psychischen Funktionen der Persönlichkeit in Mitleidenschaft ziehen kann.
Häufigkeit und Vorkommen
Die Punktprävalenz schizophrener Psychosen liegt auch in Ländern anderer Kulturkreise bei etwa 0,5–1 %. Das Lebenszeitrisiko von Männern und Frauen ist wahrscheinlich gleich und beträgt um 1 %. Dieses Risiko erhöht sich deutlich für leibliche Verwandte von Patienten und erreicht bei eineiigen Zwillingen einen Wert von 50 %. Männer erkranken im Mittel zwischen dem 20. und 25., Frauen erst zwischen dem 25. und 30. Lebensjahr, was zu der Hypothese eines hormonellen Protektionsfaktors Anlass gab. Unterstützung findet dieses Argument durch einen zweiten Häufigkeitsgipfel in der Postmenopause und einen insgesamt günstigeren Verlauf bei Frauen. Da mehr als die Hälfte aller Erkrankungen vor dem 30. Lebensjahr beginnen, bezeichnet man Ersterkrankungen nach dem 40. Lebensjahr als Spätschizophrenien . Statistisch findet sich eine Häufung von Patienten in niedrigen sozialen Schichten und städtischen Lebensbedingungen. Inwieweit psychosoziale Faktoren bei der Ersterkrankung eine Rolle spielen, ist nicht sicher bekannt. Allerdings zeigen Patienten, die in High-expressed-emotions-Familien leben (vermehrter Ausdruck von Emotionen und starker Kritik, Überprotektion) ein erhöhtes Rückfallrisiko. Der Anteil vollendeter Suizide an der Gesamtheit aller schizophrenen Patienten ist mit ungefähr 10 % gegenüber dem entsprechenden Prozentsatz in der Durchschnittsbevölkerung deutlich erhöht.
Pathogenese
Ein ätiologisches Gesamtkonzept für die Schizophrenie zeichnet sich derzeit noch nicht ab, auch wenn eine Reihe von Einzelbefunden vorliegt. Auf der Ebene der synaptischen Transmission gibt es gute Argumente dafür, dass die Positivsymptomatik mit einer dopaminergen Überfunktion korreliert. So lassen sich durch Stimulation dopaminerger präsynaptischer Nervenendigungen mittels Amphetamin psychoseähnliche Zustände induzieren. Andererseits ist die Blockade postsynaptischer Dopaminrezeptoren ein gemeinsames Merkmal antipsychotischer Substanzen, die auch bei den amphetamininduzierten Symptomen wirksam sind. Die mit einer zeitlichen Verzögerung eintretende klinische Wirkung ist aber wahrscheinlich weniger eine direkte Folge der Herabsetzung des dopaminergen Tonus als vielmehr durch sekundäre Adaptationsprozesse bedingt, die über eine Änderung der Genexpression die Rezeptordichte und -empfindlichkeit regulieren. Diese Erkenntnisse führten inzwischen zu abgewandelten Dopaminhypothesen, die auch andere Transmittersysteme einbeziehen. Ergebnisse neuroanatomischer Studien und bildgebender Verfahren lassen zumindest bei einer Untergruppe von Patienten auch strukturelle Defizite vermuten.
Als gemeinsamer Nenner dieser Befunde wird derzeit für die wahrscheinlich ätiologisch heterogene Gruppe der Schizophrenien ein gemeinsames multifaktorielles Entstehungsmodell favorisiert. Darin bedingen genetische Disposition, hirnorganische Läsionen oder Persönlichkeitsfaktoren eine erhöhte Vulnerabilität des ZNS, das unter Belastung dekompensieren kann und dadurch Krankheitssymptome auftreten lässt.
Klinik und Diagnose
Typisch sind Störungen des formalen Denkens, des Affektes, des Ich-Erlebens, der Wahrnehmung sowie der Motorik und des Antriebs. Gleichzeitig bleiben die Klarheit des Bewusstseins und die intellektuellen Fähigkeiten relativ unangetastet. Für die Diagnosestellung erforderlich ist ein eindeutig vorhandenes Symptom (oder mehrere weniger eindeutig vorhandene) der im Folgenden genannten Gruppe (1.–4.) oder mindestens zwei der Gruppe (5.–8.). Als Zeitkriterium wird für jedes Symptom eine Mindestdauer von einem Monat gefordert, währenddessen es fast ständig vorhanden sein muss:
1.
Gedankenlautwerden, -eingebung, -entzug, -ausbreitung
 
2.
Kontroll-, Beeinflussungswahn, Gefühl des Gemachten, Wahnwahrnehmungen
 
3.
Kommentierende oder dialogisierende Stimmen oder Stimmen aus einem Körperteil
 
4.
Anhaltender, bizarrer Wahn
 
5.
Anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität, begleitet von Wahn oder überwertigen Ideen
 
6.
Gedankenabreißen, Zerfahrenheit, Danebenreden, Neologismen
 
7.
Katatone Symptome
 
8.
Negative Symptome wie Apathie, Sprachverarmung, verflachte oder inadäquate Affekte mit Nachlassen der sozialen Leistungsfähigkeit
 
Eine körperliche Ursache der Beschwerden darf nicht vorliegen, und ein Drogenkonsum muss ausgeschlossen sein.
Bei zeitlich parallel vorhandenen affektiven Symptomen muss eine schizoaffektive Psychose differenzialdiagnostisch in Betracht gezogen werden. Kommt es eingebettet in eine ausgeprägte Depression oder Manie für relativ kurze Zeit zu typischen schizophrenen Symptomen, wird im Allgemeinen trotzdem die Diagnose einer affektiven Erkrankung gestellt. Ist bei typischem Beschwerdebild das Zeitkriterium nicht erfüllt, so muss eine schizophreniforme Störung diagnostiziert werden (F23.2). Dies gilt auch bei einer schnellen Remission als Folge der Behandlung.
Die Gesamtheit der Symptomatik lässt sich in eine Produktiv-, Positiv- oder Plussymptomatik (Ich-Störungen, Wahrnehmungsstörungen und Wahn) und eine Negativ- oder Minussymptomatik einteilen. Während die erste gut auf antipsychotische Medikation anspricht, ist die zweite medikamentös bisher weniger erfolgreich zu beeinflussen. Die vielfältigen Beschwerden einer Negativsymptomatik können beispielsweise beinhalten: Affektverflachung, Antriebsmangel, vermehrte Erschöpfbarkeit, Schlafstörungen, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, vermehrte Reizempfindlichkeit, Störungen des Sozialverhaltens und der Kontaktfähigkeit, Entscheidungsschwäche, Stressintoleranz, uncharakteristische Missempfindungen, Zwangssymptome und Ängste unterschiedlichster Art.
Verlauf und Prognose
Vor Ausbruch einer schizophrenen Psychose kann eine Prodromalsymptomatik auftreten, die wegen ihrer vielgestaltigen Ausprägung kaum von anderen psychiatrischen Störungen zu trennen ist. Bedingt durch ein unvermitteltes Nachlassen der geistigen und sozialen Leistungsfähigkeit findet sich in dieser Zeit häufig ein Bruch in einer vorher kontinuierlichen Lebenslinie. Auch spätere Episoden im Krankheitsverlauf können mit unspezifischen Beschwerden beginnen, wobei insbesondere Schlafstörungen ein Warnsignal darstellen. Akute Manifestationen können einmalig oder auch mehrfach auftreten, dauern in der Regel Wochen bis Monate und werden gefolgt von einer vollständigen Restitution oder zunehmenden Residualzuständen. Bei einem kleinen Anteil der Patienten bleibt eine produktive Symptomatik chronisch bestehen. Andererseits gibt es progrediente Verläufe, die kontinuierlich in einen Residualzustand mit vorwiegender Negativsymptomatik übergehen. Langfristig gilt, dass ungefähr bei einem Drittel der Patienten die Krankheit ausheilt, ein Drittel der Patienten Rückfälle erleidet oder ein leichtes Residuum entwickelt und sich bei einem Drittel ein Defektzustand ausbildet. Statistisch sind Krankheitsbilder prognostisch eher günstig bei:
  • Beginn in höherem Lebensalter,
  • weiblichem Geschlecht,
  • nachweisbaren Auslösefaktoren und akut einsetzenden Symptomen,
  • stärkerer Ausprägung affektiver Anteile,
  • guter sozialer Integration und gutem prämorbidem Funktionsniveau,
  • frühzeitiger adäquater Therapie.
Therapie
Die Behandlung schizophrener Psychosen stützt sich auf die medikamentöse Therapie, die Psycho- und Soziotherapie, die Rehabilitation sowie auf die Elektrokonvulsionstherapie (EKT). Die antipsychotische Pharmakotherapie ist in allen Phasen der Erkrankung die entscheidende Stütze für sämtliche anderen Maßnahmen. Soweit eine Monotherapie nicht hinreichend ist, sollte zumindest angestrebt werden, für antipsychotische und sedierende Zielsymptomatik jeweils nur eine Substanz einzusetzen. Akute Episoden mit im Vordergrund stehender Positivsymptomatik lassen sich durch Antipsychotika meistens gut beherrschen. Die angegebenen Dosierungen gelten für stationäre Bedingungen und sind stark abhängig vom Schweregrad der Symptome.
Therapieempfehlungen
  • Bei hochakuten Krankheitsbildern können hochpotente Antipsychotika (z. B. Olanzapin 10–20 mg, Risperidon 4–8 mg, Haloperidol bis 10 mg, in Ausnahmefällen bis 30 mg täglich) mit niederpotenten Substanzen (Pipamperon 40 mg, ggf. mehrfach bis 360 mg) kombiniert werden.
  • Insbesondere bei Ängstlichkeit oder Stupor kann die Gabe von Benzodiazepinen (Lorazepam 1–5 mg täglich, stationär in Ausnahmefällen bis 10 mg) hilfreich sein.
  • Alternativ zu Pipamperon kann Melperon (cave: hemmt CYP2D6), Levomepromazin oder Chlorprothixen verabreicht werden.
Auf die Therapie psychotischer Erregungszustände wird in Abschn. 2.5 eingegangen.
Bei weniger ausgeprägten Störungen kommen in erster Linie atypische Substanzen zum Einsatz (z. B. Risperidon, Amisulprid, Olanzapin, Quetiapin, Ziprasidon, Aripiprazol).
Die Latenz bis zum Eintritt der antipsychotischen Wirkung kann kurz sein, aber auch 2 Wochen oder mehr betragen. Eine Erhöhung der Dosis ist bei fehlenden Nebenwirkungen bereits nach Tagen möglich, ein Wechsel des Präparates aufgrund von Unwirksamkeit sollte aber erst nach mehrwöchiger Behandlungsdauer mit suffizienter Dosierung erfolgen. Eine Messung des Plasmaspiegels kann in solchen Fällen sehr hilfreich sein.
Bei Therapieresistenz unter mindestens zwei Antipsychotika und zur Behandlung einer schweren Negativsymptomatik kann Clozapin mit gutem Erfolg eingesetzt werden (cave: kontrollierte Anwendung). Bei Therapieresistenz oder Unverträglichkeit unter Clozapin sollte EKT erwogen werden.
Nebenwirkungen
Bedingt durch Nebenwirkungen der antipsychotischen Therapie (Frühdyskinesien, Akathisie, Parkinsonoid, Müdigkeit, Einschränkung der Konzentrationsfähigkeit) tritt manchmal nach anfänglicher Besserung eine erneute Verschlechterung des Krankheitsbildes auf, was nicht als psychotische Symptomatik fehlgedeutet werden darf. Vielmehr muss eine Dosisreduktion oder eine Umstellung auf ein atypisches Antipsychotikum erfolgen. Auf unerwünschte Auswirkungen eines erhöhten Prolaktinspiegels (Amisulprid) und metabolische Komplikationen muss geachtet werden.
Fallbeispiel
Ein schizophrener Patient, Mitte 20, setzt seine prophylaktische antipsychotische Medikation immer wieder wegen Nebenwirkungen ab und muss wegen Positivsymptomen mehrmals stationär aufgenommen werden. Nach einer Einstellung auf Clozapin kann er sich stabilisieren und nimmt über einige Jahre seine Medikation regelmäßig ein. Allerdings nimmt sein Gewicht kontinuierlich zu, sodass mit ihm ein erneutes Umsetzen der Medikation besprochen werden musste.
Langzeitmedikation
Durch eine antipsychotische Langzeitmedikation können die Häufigkeit akuter Episoden und das Ausmaß chronisch persistierender Symptome erheblich reduziert werden. Andererseits werden zunehmend Bedenken gegen eine Dauertherapie geäußert und Patienten wünschen häufig eine Dosisreduktion im Verlauf. Deshalb sollte in der Erhaltungstherapie eine individuell minimal effektive Dosis gewählt werden und ggf. allmähliche Dosisreduktionen erfolgen. Die Nebenwirkungen typischer und atypischer Substanzen sollten individuell abgewogen werden.
Therapieempfehlungen
  • Unter Berücksichtigung der individuellen Verträglichkeit sollte eine Substanz in einer minimal effektiven Dosis gewählt werden. Die Dauer sollte individuell festgelegt werden. Je nach der Fähigkeit des Patienten, eine kontinuierliche Einnahme der Medikation zu gewährleisten, kann diese oral oder als Depotinjektion verabreicht werden.
  • Für die intramuskuläre Gabe in 2-wöchigen bis 3-monatigen Abständen stehen Paliperidon, Risperidon, Olanzapin, Aripiprazol, Flupentixol (20–100 mg), Haloperidoldecanoat und andere typische Antipsychotika zur Verfügung.
  • Für Risperidon ist zu beachten, dass mit dem Einsetzen der Wirkung erst nach 3–4 Wochen zu rechnen ist. Flupentixol besitzt eine antriebssteigernde Komponente, die es für eine Langzeitanwendung geeigneter erscheinen lässt als andere typische Substanzen.
  • Die Verträglichkeit einer äquipotenten oralen Dosis ist vorher unbedingt zu prüfen, da nach einer Depotinjektion die potenziellen Nebenwirkungen über Wochen bestehen bleiben.
  • Clozapin wird als Substanz ohne nennenswertes Risiko von Spätdyskinesien, ohne Prolaktinanstieg und mit einer respektablen Wirkung auf Negativsymptome eingesetzt, jedoch belastet mit dem lebensgefährlichen Risiko einer Agranulozytose.
Erst durch die prophylaktisch wirkenden Medikamente können sozio- und psychotherapeutische Therapien ihre Wirkung voll entfalten. Solche Maßnahmen können dann helfen,
  • ein Konzept für die Erkrankung zu vermitteln,
  • psychosoziale Stressfaktoren zu reduzieren,
  • Angehörige einzubeziehen und aufzuklären,
  • die Akzeptanz der Medikamente zu verbessern,
  • soziale Kompetenz zu trainieren,
  • Eigenständigkeit und Selbstvertrauen zu fördern,
  • in frühere Sozialstrukturen wieder einzugliedern,
  • Wohn-, Arbeits- und Therapieplätze zu vermitteln.

Subklassifikation (F20.0–F20.9)

Entsprechend der aktuellen Psychopathologie werden verschiedene Subtypen der Schizophrenie unterschieden, die jedoch eher als zeitlich variable Ausprägungsformen im individuellen Krankheitsverlauf angesehen werden denn als eigene Krankheitsentitäten.
Paranoid-halluzinatorischer Typus
Bei dem häufigen paranoid-halluzinatorischen Typus (F20.0) stehen Wahn, Ich-Störungen und Halluzinationen im Vordergrund. Negativsymptome sind weniger zu finden als bei anderen Unterformen. Das Erkrankungsalter ist eher spät, die Prognose eher günstig.
Hebephrener Typus
Der hebephrene Typus (F20.1) beginnt früh, typischerweise mit Leistungsknick zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr und hat eine schlechte Prognose. Die Symptomatik umfasst einen läppischen, situationsinadäquaten, verflachten Affekt, ein auffällig manieriert-bizarres Verhalten, formale Denkstörungen und ein distanzlos-schnippisches Sozialverhalten.
Katatoner Typus
Beim heute relativ seltenen katatonen Typus (F20.2) bestimmen psychomotorische Symptome das Bild, welches zwischen starken Erregungszuständen (Raptus mit Selbst- oder Fremdaggression), Automatismen (Stereotypien, verbalen Perseverationen) und katatonem Stupor (Katalepsie, Sperrung, Flexibilitas cerea, Mutismus) schwanken kann. Der Kontakt zum Untersucher kann durch Negativismus, Befehlsautomatie, Echopraxie und Echolalie rudimentär aufrechterhalten werden. Der Betroffene erlebt die Situation bewusst, und es besteht keine Amnesie für den Zustand, weshalb im Nachhinein verschiedentlich über das Erleben von Halluzinationen und Wahn berichtet werden kann. Die Prognose ist eher günstig, sieht man von der Sonderform der perniziösen Katatonie ab. Letztere ist neben einer katatonen Symptomatik mit Rigor und Akinese gekennzeichnet durch Rhabdomyolyse mit Kreatinkinase(CK)-Erhöhung, Hyperthermie und andere vegetative Entgleisungen wie Kreislaufstörungen und Exsikkose.
Cave
Die perniziöse Katatonie ist ein lebensbedrohliches Krankheitsbild, welches intensivmedizinisch behandelt und differenzialdiagnostisch vom malignen neuroleptischen Syndrom abgegrenzt werden muss.
Die Therapie erfolgt mit Lorazepam (2 mg oral oder i. v., im stationären Verlauf abhängig vom Ausmaß der Sedierung auch deutlich mehr). Soweit keine rasche Besserung eintritt, sollte frühzeitig eine EKT erfolgen. Ob parallel eine antipsychotische Therapie erfolgen soll, wird in der Literatur diskutiert.
Undifferenzierte Schizophrenie
Lässt sich eine akute schizophrene Psychose keiner der obigen Unterformen eindeutig zuordnen, so wird sie als undifferenzierte Schizophrenie (F20.3) klassifiziert. Differenzialdiagnostisch sollte darauf geachtet werden, dass es sich nicht um ein schizophrenes Residuum oder eine postschizophrene Depression handelt.
Postschizophrene Depression
Treten nicht länger als 12 Monate nach einer weitgehend, aber nicht vollständig remittierten schizophrenen Episode so schwerwiegende depressive Beschwerden auf, dass die Kriterien einer depressiven Episode erfüllt werden, so spricht man von einer postschizophrenen Depression (F20.4). Sind alle schizophrenen Symptome bereits abgeklungen, handelt es sich um eine depressive Episode (F32). Es kann durchaus Schwierigkeiten bereiten, einen solchen Zustand von den Nebenwirkungen einer antipsychotischen Therapie und von einer Negativsymptomatik der Schizophrenie zu unterscheiden. Therapeutisch kann vorsichtig versucht werden, die Dosis der antipsychotischen Medikation zu senken und Antidepressiva einzusetzen. In Phasen postschizophrener Depression besteht ein erhöhtes Suizidrisiko.
Schizophrenes Residuum
Das schizophrene Residuum (F20.5) ist gekennzeichnet durch chronische Minussymptome wie Affektverflachung, Mangel an Initiative, sozialen Rückzug, Vernachlässigung der Körperpflege und soziale Leistungsunfähigkeit. Dieser Zustand muss mindestens seit 12 Monaten angedauert und in dieser Zeit nur eine geringe produktive Symptomatik beinhaltet haben. Diagnostisch entscheidend ist, dass in der Vorgeschichte mindestens eine eindeutig schizophrene Episode gesichert sein muss. Differenzialdiagnostisch müssen anderweitige Ursachen ausgeschlossen sein (chronisches depressives Syndrom, demenzielle Entwicklung, organische psychische Störungen oder Hospitalismus).
Schizophrenia simplex
Bei der Schizophrenia simplex (F20.6) kommt es zu einer sehr allmählich zunehmenden Negativsymptomatik bis zu schwersten Residualzuständen, ohne dass jemals produktive psychotische Symptome auftreten.

Schizotype Störung (F21)

Patienten mit schizotyper Störung zeichnen sich durch einen kalten und unnahbaren Affekt aus, durch exzentrisches Verhalten und ein geringes Maß an sozialen Bezügen. Daneben bestehen Anomalien des Denkens und der Wahrnehmung, die den schizophrenen Symptomen ähnlich sind, diese in Qualität und Quantität jedoch nicht erreichen. Die Kriterien für eine Schizophrenie dürfen in der Vergangenheit niemals erfüllt worden sein.
Schizotype Störungen werden als genetische „forme fruste“ der Schizophrenie angesehen, da sie überzufällig häufig bei Angehörigen schizophrener Patienten gefunden werden. Andererseits deuten der nicht prozesshafte Verlauf und der schlecht fassbare Beginn auf eine Persönlichkeitsstörung hin. Die diagnostische Abgrenzung zur Schizophrenia simplex ist unscharf, Übergänge in schizophrene Erkrankungen kommen vor. Hochpotente antipsychotische Therapie in niedriger Dosierung oder atypische Antipsychotika können die Symptomatik bessern.

Anhaltende wahnhafte Störungen (F22)

Das vorherrschende psychopathologische Merkmal der anhaltenden wahnhaften Störungen ist ein mindestens über 3 Monate bestehender Wahn, der sich eindeutig auf den Patienten bezieht und nicht subkulturell bedingt ist. Eine organische psychische Störung, eine Schizophrenie oder eine affektive Störung müssen ausgeschlossen sein.
Meist handelt es sich um eine isolierte oder mehrere systematisierte Wahnideen, die oft über Jahre oder das ganze Leben anhalten und weniger bizarr sind als bei der Schizophrenie. Der Affekt ist in der Regel dem Wahn angemessen. Olfaktorische, taktile oder flüchtige akustische Halluzinationen können vorhanden sein, dürfen das Krankheitsbild aber nicht bestimmen. Außerhalb dieser umgrenzten Störung bleibt die Persönlichkeit intakt und relativ funktionsfähig. Die sozialen Bezüge können unbeeinflusst erhalten sein, soweit sie nicht durch Verästelungen des Wahnsystems erfasst werden.
Aus historischen Gründen werden noch die Begriffe paranoide Störung oder Paranoia im Sinne eines Pars pro toto verwendet, da oft Verfolgungsideen den Wahn inhaltlich bestimmen. Andere Themenkreise sind Eifersucht, Hypochondrie, Eigengeruch, Dysmorphophobie, Größenideen oder fiktive Liebesbeziehungen.
Die Ätiologie der Störung ist unbekannt und möglicherweise heterogen. Eine genetische Disposition konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Beziehungen zu anderen psychotischen Erkrankungen, insbesondere zur Schizophrenie, bestehen wahrscheinlich nicht. Es wird angenommen, dass bestimmte Persönlichkeitsstrukturen in Kombination mit psychosozialen Faktoren oder Schlüsselerlebnissen zu überwertigen Ideen führen, die allmählich einen chronischen Verlauf nehmen. Nach Erreichen des wahnhaften Stadiums bleibt die Störung aber stabil, und es treten keine spezifisch schizophrenen Symptome hinzu.
In der Regel halten die Patienten den Kontakt zum Untersucher nur so lange aufrecht, wie Hoffnung besteht, ihn in ihr Wahnsystem einbeziehen zu können. Ein therapeutisches Bündnis kommt deshalb oft nur über Hilfskonstruktionen zustande, die jedoch selten ausreichend tragfähig sind. Wenn sich trotzdem eine Behandlungsmöglichkeit ergibt, kann psychotherapeutisch versucht werden, die Auswirkungen der Störung zu begrenzen. Medikamentös sollte wegen der schwierigen Arzt-Patient-Beziehung und wegen der erforderlichen Behandlungsdauer eine niedrig dosierte und nebenwirkungsarme Therapie mit (atypischen) Antipsychotika bzw. bei einer relevanten affektiven Komponente mit Antidepressiva versucht werden.

Vorübergehende akute psychotische Störungen (F23)

Eine Reihe von psychotischen Störungen zeichnet sich durch einen akuten Beginn aus, wobei es innerhalb von höchstens 2 Wochen – bei abruptem Beginn innerhalb von 48 Stunden – zur Entwicklung einer psychotischen Symptomatik kommt. Ist diese schizophrenietypisch und hält weniger als einen Monat an, so wird keine Schizophrenie, sondern eine akute schizophreniforme Störung diagnostiziert.
Bei einer anderen Gruppe von Patienten mit akut einsetzenden Symptomen bildet sich ein polymorph psychotisches Krankheitsbild aus, das durch einen schnellen Wechsel vieler Plussymptome charakterisiert ist, verbunden mit emotionaler Aufgewühltheit (flüchtige Glücksgefühle, Angst, Aggressivität, Reizbarkeit) und hoher Wahndynamik.
Unter antipsychotischer Therapie bessern sich die meisten dieser Störungen innerhalb von Tagen bis zu maximal 3 Monaten. Vorübergehend können Benzodiazepine verordnet werden. Die Episoden hinterlassen in der Regel keine Residuen. Allerdings können speziell in Belastungssituationen Rezidive mit gleichem Verlauf auftreten. Die Notwendigkeit einer Prophylaxe ist umstritten und sollte ggf. mit nebenwirkungsarmen Antipsychotika erfolgen.

Schizoaffektive Störung (F25)

Klinik
Das Krankheitsbild ist nach ICD-10 gekennzeichnet durch ein enges Miteinander von affektiver und schizophrener Symptomatik im Querschnitt und im Längsschnitt, ohne dass formal die Diagnose einer rein affektiven oder schizophrenen Erkrankung gestellt werden kann. Während abgegrenzter Episoden bestehen beide Symptomarten gleichzeitig oder höchstens um wenige Tage versetzt. Sie können auch in schnellem (tageweisem) Wechsel auftreten. Die Zuordnung der Störung als affektive oder schizophrene Erkrankung oder als Übergangsform zwischen beiden ist bisher ungeklärt.
Diagnose und Prognose
Entscheidend für die Klassifikation einer einzelnen Episode als schizoaffektiv ist der parallele Verlauf der affektiven und der schizophrenen Symptomatik, während die eigentliche Diagnose der schizoaffektiven Störung sich am überwiegenden Anteil solcher Episoden im Rahmen der Gesamterkrankung orientiert. Diese Definition kann im Langzeitverlauf zu Änderungen der diagnostischen Einschätzung führen. Die folgenden Beispiele sollen die genannten Kriterien verdeutlichen. Treten während des Höhepunktes einer sonst affektiven Phase Halluzinationen oder dysthymer Wahn auf, wird trotzdem eine affektive Phase diagnostiziert. Die analoge Aussage gilt für eine schizophrene Phase. Auch ein Wechsel von Episoden mit rein affektiver und rein schizophrener Symptomatik rechtfertigt die Diagnose einer schizoaffektiven Störung nach ICD-10 nicht (postpsychotische Depression).
Die Einzelepisoden werden entsprechend der gegenwärtigen affektiven Symptomatik (depressiv, manisch, gemischt) klassifiziert. Außerhalb akuter Krankheitsphasen kommt es bei den meisten Patienten zu einer vollständigen Remission, sie entwickeln in der Regel kein Residuum. Allerdings haben überwiegend schizodepressive Erkrankungen eine schlechtere Prognose als schizomanische.
Therapie
Die Behandlung akuter Krankheitsphasen erfolgt syndromorientiert. Bei einem schizomanischen Bild sollte eine Kombination aus einem atypischen Antipsychotikum (z. B. Aripiprazol) und Lithium bzw. einem Antikonvulsivum (Carbamazepin, Valproinsäure, cave: beide Medikamente ohne Zulassung in dieser Indikation) verordnet werden. Auch eine sedierende Medikation kann wie dort gewählt werden. Schizodepressive Episoden werden in der Regel mit einem atypischen Antipsychotikum ggf. in Kombination mit einem Antidepressivum behandelt. Vorübergehend kann die Verordnung von Benzodiazepinen notwendig sein.
Die Phasenprophylaxe schizoaffektiver Erkrankungen stützt sich auf Lithiumsalze und atypische Antipsychotika. Alternativ oder ergänzend kann Carbamazepin oder Valproinsäure (cave: beides ohne Zulassung in dieser Indikation) verwendet werden. Zu beachten ist, dass das Absetzen von Lithium mit einem erhöhten Rezidivrisiko verbunden ist.

Affektive Störungen (F3)

Ebenso wie bei den schizophrenen Störungen beruht die Zusammenfassung der affektiven Erkrankungen in F3 der ICD-10 nicht auf einer gesicherten gemeinsamen Ätiologie, sondern auf Ähnlichkeiten der Psychopathologie. Affektive Syndrome können auch im Rahmen anderer Erkrankungen auftreten (organische psychische Störungen, schizoaffektive Störungen, Angsterkrankungen, Anpassungsstörungen), haben dort jedoch nicht dieselbe zentrale Bedeutung für die Definition der Störung. Kennzeichnendes Merkmal der in F3 eingeordneten Störungen ist eine krankhafte Veränderung der Stimmung zwischen den Extremen der Depression und der Manie. Meistens ist das allgemeine Aktivitätsniveau entsprechend gemindert oder gesteigert. Als weitere Symptome treten häufig Störungen der Kognition, des Verhaltens und des somatischen Erlebens auf. Eine organische Verursachung muss ausgeschlossen werden (z. B. Hypothyreose).
Klassifikation, Häufigkeit und Vorkommen
Die ursprünglich an ätiologischen Konzepten orientierte Klassifikation affektiver Störungen in psychogene und endogene Erkrankungsformen erwies sich als nicht ausreichend reliabel und wurde auch durch das Ansprechen beider Typen auf Antidepressiva in Frage gestellt. Deshalb trat in den letzten Jahren eine am Verlauf orientierte Unterteilung in den Vordergrund. Als Kern des früheren Begriffs „endogene Depression“ ist dabei der melancholische Subtyp erhalten geblieben. Grundsätzlich unterschieden wird in der ICD-10 zwischen den phasenhaft verlaufenden affektiven Störungen, welche weiter nach Art und Häufigkeit der Episoden differenziert werden, und den anhaltenden affektiven Störungen (Zyklothymia, Dysthymia), die in F34 klassifiziert werden.
Einmalig auftretende manische oder depressive Syndrome werden unter F30 und F32 eingeordnet, bipolare Krankheitsbilder mit mehreren wechselnden oder ausschließlich manischen Episoden unter F31 und rezidivierende unipolare Depressionen unter F33. Der Beginn solcher Episoden kann oft mit belastenden Lebenssituationen in Verbindung gebracht werden.
Das Risiko, im Laufe des Lebens an einem klinisch relevanten depressiven Syndrom zu erkranken, wird mit Werten bis 20 % angegeben (Männer bis 12 %, Frauen bis 25 %). Ein hoher Prozentsatz dieser Patienten sucht entweder nie einen Arzt auf oder wird nicht korrekt diagnostiziert. Bei ungefähr 30 % dieser Patienten tritt nur eine Episode auf, mit jeder folgenden steigt allerdings das Risiko für die nächste. Berücksichtigt man nur schwere rezidivierende Formen, so ergibt sich für alle phasenhaft verlaufenden affektiven Störungen zusammen eine Lebenszeitprävalenz von 1–3 %. Zwei Drittel dieser Erkrankungen verlaufen unipolar depressiv, knapp ein Drittel bipolar und ein sehr geringer Prozentsatz unipolar manisch. Die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens an einer Dysthymia zu leiden, wird mit etwa 5 % für Frauen und 3 % für Männer angegeben, Zyklothymia tritt wesentlich seltener auf.
Genetik
In zahlreichen Familien- und Zwillingsuntersuchungen konnte für die rezidivierenden affektiven Störungen eine genetische Disposition zweifelsfrei nachgewiesen werden. Beispielsweise beträgt die Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen um 65 %, bei zweieiigen Zwillingen aber nur um 20 %. Betrachtet man bipolare und unipolare Verlaufsformen getrennt, so zeigt die erste einen wesentlich stärkeren Einfluss erblicher Faktoren als die zweite. Für die bipolare Störung wird bei eineiigen Zwillingen eine Konkordanzrate von etwa 80 % angegeben.
Pathogenese
Ähnlich wie bei den Schizophrenien gibt es auch für die affektiven Störungen derzeit noch kein ätiologisches Gesamtkonzept, durchaus jedoch eine Reihe von richtungweisenden Einzelbefunden. Nachdem um 1960 mit Reserpin, Imipramin und Iproniazid erste Substanzen zur experimentellen und therapeutischen Beeinflussung affektiver Zustände verfügbar waren, konnte 1965 die Katecholamin- und 1967 die Serotoninhypothese der Depression formuliert werden. Diese gehen davon aus, dass bei depressiven Patienten im Vergleich zu Gesunden die noradrenerge und serotonerge Transmission herabgesetzt ist. Diese Modellvorstellung wurde seither mit zunehmendem Wissen über die Vorgänge an den Synapsen weiterentwickelt, und es wurden die Second-messenger-Systeme sowie die Mechanismen zur Regulation der Rezeptordichte in das Konzept einbezogen. Die meisten der zur Behandlung von Depressionen eingesetzten Substanzen blockieren die Wiederaufnahme von Noradrenalin oder Serotonin aus dem synaptischen Spalt oder hemmen den Abbau dieser Transmitter. Dadurch erhöhen sich ihre Konzentrationen an den Rezeptorstrukturen, und die neuronale Impulsrate steigt an. Wichtig für die Erklärung der mit einer zeitlichen Verzögerung eintretenden klinischen Wirkung sind wahrscheinlich die sekundären Adaptationsprozesse, die über eine Änderung der Genexpression die Rezeptordichte und -empfindlichkeit regulieren. Als komplementäre Ergänzung zu diesen Befunden gibt es Möglichkeiten, die Konzentrationen der Neurotransmitter im synaptischen Spalt pharmakologisch zu vermindern und depressive Symptome hervorzurufen. Ein weiteres Argument für das beschriebene Modell stützt sich auf verminderte Konzentrationen von Noradrenalin- und Serotoninmetaboliten bei depressiven Patienten im Vergleich zu Gesunden sowie auf einen gesteigerten Katecholaminstoffwechsel bei manischen Patienten.
Zwischen Störungen der Stimmung und den biologischen Rhythmen sowie Parametern des Schlafverhaltens bestehen gut dokumentierte Zusammenhänge. Außerdem finden sich bei einer Vielzahl depressiver Patienten pathologische Veränderungen endokrinologischer Stimulationstests, die insbesondere die Regulation des Kortisols, des Wachstumshormons und der Schilddrüsenfunktion betreffen. Umgekehrt ist wahrscheinlich als Folge der hormonellen Umstellung nach der Entbindung das Risiko für das Auftreten einer Depression bis einige Wochen postpartal erhöht.
Auch für die affektiven Erkrankungen wird ein multifaktorielles Entstehungsmodell favorisiert, bei dem durch prädisponierende Faktoren eine individuelle Vulnerabilität geschaffen wird, die die Toleranz gegenüber Stressfaktoren aller Art bestimmt. Kritische Lebensereignisse bilden dann psychologische Risikofaktoren für die Auslösung depressiver Episoden. Treten sie wiederholt und intensiv bei Personen mit hoher Vulnerabilität auf, können sie ihrerseits durch psychologische (Modell der gelernten Hilflosigkeit) und physiologische Prozesse (Modell des Kindling) zu einer verringerten Stresstoleranz führen.

Manische Episode (F30)

In der ICD-10 ist diese Kategorie nur für Erkrankungen mit einer einzelnen manischen Episode reserviert. Treten weitere depressive oder manische Phasen auf, wird eine bipolare Störung diagnostiziert. Leitsymptome sind die gehobene Stimmung und der gesteigerte Antrieb. Entsprechend den Schweregraden werden 3 Subklassen (Hypomanie, Manie mit und ohne psychotische Merkmale) unterschieden.
Klinik
Manie (F30.1)
Bei der Manie ist die Stimmung für mindestens eine Woche inadäquat gehoben und kann zwischen sorgloser Heiterkeit, dysphorischer Gereiztheit bis zu unkontrollierter Erregung variieren. Der Antrieb ist gesteigert und führt zu Überaktivität, Rededrang sowie vermindertem Schlafbedürfnis. Leichtsinnige Geldausgaben, soziale Enthemmung, Größenideen, Anomalien der Wahrnehmung und paranoid gefärbte Gedankengänge können auftreten. Konzentration, Aufmerksamkeit und formales Denken (Ideenflucht, gelockerte Assoziationen) sind in der Regel beeinträchtigt. Körperliche Beschwerden und Bedürfnisse treten in den Hintergrund. Die soziale Funktionsfähigkeit ist erheblich gestört, Krankheitseinsicht besteht fast nie. Die ärztliche Betreuung solcher Patienten ist meistens erheblich erschwert.
Hypomanie (F30.0)
Die Hypomanie ist eine leichte Ausprägung der Manie mit wenigstens für einige Tage anhaltender leicht gehobener Stimmung, gesteigertem Antrieb und einem auffallenden Gefühl von Wohlbefinden und erhöhter Leistungsfähigkeit. Vermehrte Geselligkeit, Geldausgaben, Gesprächigkeit, übermäßige Vertraulichkeit, gesteigerte Libido, Größenideen und vermindertes Schlafbedürfnis sind häufig vorhanden, beeinträchtigen die soziale Funktionsfähigkeit jedoch nicht in starkem Ausmaß, vorübergehend können sie diese sogar fördern. Bei manchen Patienten hat die euphorische Stimmungslage eher eine gereizte Komponente. Halluzinationen oder Wahn treten nicht auf.
Manie mit psychotischen Merkmalen (F30.2)
Sie entspricht einer schweren Form der Manie. Die Steigerung des Antriebs kann bis zur Gewalttätigkeit gehen. Größenideen können sich zum Größenwahn steigern, Misstrauen zum Verfolgungswahn und Wahrnehmungsanomalien zu Halluzinationen. Wahn und Halluzinationen können als synthym oder parathym klassifiziert werden. Die formalen Denkstörungen können dazu führen, dass eine Kommunikation mit dem Patienten sehr erschwert ist.
Differenzialdiagnose und Verlauf
Differenzialdiagnostisch müssen organische psychische Störungen, insbesondere Intoxikationen und Schilddrüsenüberfunktionen, ausgeschlossen werden. Die Abgrenzung zu Schizophrenie und schizoaffektiver Störung ist besonders für die Manie mit psychotischen Merkmalen schwierig.
Manische Episoden können vom späten Kindesalter an in allen Lebensabschnitten auftreten. Sie entwickeln sich schleichend über ein hypomanes Zwischenstadium oder abrupt. Ihre Dauer reicht von wenigen Tagen bis zu vielen Monaten, die Prognose im Hinblick auf eine Vollremission ist gut. Allerdings bleiben bei einem kleinen Teil der Patienten leichte Persönlichkeitsveränderungen als Residualzustand bestehen. Komplikationen können z. B. durch Alkoholmissbrauch, physische Erschöpfung und soziale Konflikte entstehen.
Therapie
Manische Syndrome haben die Tendenz, sich durch Schlafentzug und Hyperaktivität selbst zu verstärken. Meistens ist deshalb eine Sedierung mit Benzodiazepinen (Lorazepam bis 6 mg, in schweren Fällen im stationären Verlauf auch deutlich höher) oder/und niederpotenten Antipsychotika unerlässlich. Dabei sind oft Dosierungen wie bei psychomotorischen Erregungszuständen notwendig. Eine evtl. vorbestehende antidepressive Medikation sollte abgesetzt werden.
Nach wie vor gilt Lithium als antimanische Substanz der ersten Wahl. Serumspiegel von 1,0–1,2 mmol/l sind anzustreben, ein Effekt kann frühestens nach einer Woche erwartet werden, kann aber auch erst mit einer längeren Verzögerungszeit eintreten. Daneben liegt für Valproinsäure und einige atypische Antipsychotika (z. B. Olanzapin, Risperidon, Quetiapin, Aripiprazol, Ziprasidon) eine Zulassung in dieser Indikation vor.

Depressive Episode (F32)

Wie im Falle der manischen Episode ist diese Kategorie für Erkrankungen mit einer einzelnen depressiven Phase reserviert. Gibt es im Krankheitsverlauf zusätzlich manische Phasen, so wird eine bipolare Störung diagnostiziert, bei zusätzlichen depressiven Phasen eine rezidivierende depressive Störung. Leitsymptome sind die gedrückte Stimmung und der reduzierte Antrieb. Auch hier werden entsprechend dem Schweregrad 3 Subklassen (leicht, mittelgradig, schwer) unterschieden.
Klinik
Charakteristika der Störung sind die traurige oder gedrückte Stimmung, die bei manchen Patienten auch als innere Leere oder Gefühl der Gefühllosigkeit imponieren kann, der Interessenverlust und die Freudlosigkeit sowie die Verminderung des Antriebs mit erhöhter Ermüdbarkeit, Aktivitätseinschränkung und Denkhemmung. Um die Diagnose sicher stellen zu können, muss dieses zentrale Beschwerdebild für die Dauer von mindestens 2 Wochen durchgehend und von Lebensereignissen im Wesentlichen unbeeinflusst bestehen. Tagesschwankungen, insbesondere periodisch wiederkehrende, sind durchaus mit der Störung vereinbar. Zu diesem Kern von Symptomen kann eine Vielzahl anderer hinzutreten:
  • verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
  • vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
  • Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit
  • negative und pessimistische Zukunftsperspektiven
  • Selbstverletzungen, Suizidgedanken oder -versuche
  • verminderter Appetit
  • vermindertes sexuelles Interesse
Die Differenzierung in die Schweregrade leicht (F32.0), mittelgradig (F32.1) und schwer (F32.2 und F32.3) soll entsprechend der Anzahl, Art und Schwere dieser Symptome erfolgen sowie entsprechend den noch möglichen Alltagsaktivitäten. Bei schweren depressiven Störungen können zusätzlich psychotische Merkmale (F32.3) in Form von Wahn (Schuld, Versündigung, Verarmung), Halluzinationen (fauliger Geruch, anklagende Stimmen) oder depressivem Stupor vorhanden sein. Wie im Falle der Manie können Wahn und Halluzinationen als synthyme oder dysthyme Phänomene auftreten. Eine fremdanamnestische Erfassung des Schweregrades kann z. B. mit der Depressionsskala nach Hamilton erfolgen.
Bei einer Reihe von Patienten prägen Angst, Unruhe, Grübeln, Jammern, Reizbarkeit, Schmerzen, zwanghaftes oder agitiertes Verhalten zu einem wesentlichen Teil das äußere Erscheinungsbild der Episoden. Um diese speziellen Formen klinisch zu beschreiben, wurden Begriffe geprägt, die heute z. T. nur noch historische Bedeutung haben:
  • agitierte Depression (ängstliche Getriebenheit und Unruhe, unproduktive Hektik)
  • gehemmte Depression (Antriebsstörung steht im Vordergrund)
  • larvierte Depression (diffuse Schmerzsyndrome, vegetative und funktionelle Organbeschwerden)
  • anankastische Depression (zwanghafte Symptome)
  • pseudohysterische Depression (theatralische Darstellung der Beschwerden)
  • atypische Depression (vermehrter Appetit und Schlaf, Empfindlichkeit gegenüber Zurückweisung, körperliches Schweregefühl)
  • „double depression“ (Dysthymia und depressive Episode)
Melancholischer Subtyp
In Anlehnung an den früheren Begriff der endogenen Depression wurden psychopathologische Kriterien erarbeitet, die Krankheitsbilder mit starker biologischer und geringer reaktiver Komponente charakterisieren sollen. Man spricht vom melancholischen oder somatischen Subtyp, wenn folgende Merkmale vorliegen:
  • Interessenverlust oder Verlust der Freude an normalerweise angenehmen Aktivitäten
  • mangelnde Fähigkeit, auf eine freundliche Umgebung oder günstige Ereignisse emotional zu reagieren
  • Früherwachen mindestens 2 h vor der gewohnten Zeit
  • Morgentief
  • objektivierte psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit
  • deutlicher Appetitverlust
  • mindestens 5 % Gewichtsverlust während des letzten Monats
  • deutlicher Libidoverlust
Differenzialdiagnose
Differenzialdiagnostisch besteht bei nichtpathologischen Trauerreaktionen und depressiv geprägten Anpassungsstörungen typischerweise ein enger zeitlicher, inhaltlicher und im Ausmaß adäquater Zusammenhang mit dem auslösenden Ereignis. Wie bereits besprochen, können depressive Symptome außerdem bei einer großen Anzahl von zerebralen und extrazerebralen organischen Störungen auftreten. Dies ist beispielsweise nicht selten während oder nach Gebrauch psychotroper Substanzen (Ecstasy, Alkohol) der Fall, bei Schilddrüsenunterfunktion und beim idiopathischen Parkinson-Syndrom. Schwere depressiv bedingte kognitive Einschränkungen können als Demenz imponieren und wurden deshalb früher als Pseudodemenz bezeichnet. Die Abgrenzung gegenüber einer anders bedingten Demenz mit begleitenden depressiven Symptomen kann schwierig sein. Meist weist jedoch der depressive Patient selbstanklagend auf seine Defizite hin, während der demente sie geschickt zu verbergen sucht. Auch ist die Stimmung bei dementen Patienten oft nicht durchgängig depressiv, sondern eher fluktuierend. Auf affektive Beschwerden im Verlauf schizophrener und schizoaffektiver Erkrankungen wurde bereits hingewiesen. Ängstliche und zwanghafte Syndrome sowie Alkoholabusus sind eng mit depressiven Erkrankungen assoziiert und können ein zusätzliches Symptom darstellen. Sie können aber auch als eigenständige Zweiterkrankungen bestehen oder als Hauptdiagnose mit sekundärem depressivem Syndrom auftreten. Entscheidend hierfür ist der zeitliche Verlauf der Symptome zueinander und deren Intensität.
Verlauf
Im Mittel beträgt das Lebensalter beim Auftreten einer ersten depressiven Phase etwa 40 Jahre, zeigt aber eine große Streubreite. Gelegentlich entsteht eine Episode abrupt innerhalb von wenigen Tagen und ohne erkennbaren Anlass. Typischerweise gehen jedoch über längere Zeiträume Symptome in abgeschwächter Form voraus, die manchmal im Nachhinein auch erst als solche erkannt oder interpretiert werden. Meistens lassen sich belastende Lebenssituationen eruieren, deren kausaler Bezug zur Erkrankung aber immer mit kritischem Abstand gesehen werden sollte. In der Regel kommt es nach Wochen bis Monaten zu einer vollständigen Remission der Symptomatik. Allerdings dauert bei 5–10 % der Patienten das depressive Syndrom länger als 2 Jahre und bei ungefähr 25 % bleiben Restbeschwerden, z. B. in Form geringer Belastbarkeit, bestehen.
Die schwerwiegendste Komplikation depressiver Erkrankungen besteht im Versuch der Selbsttötung. Die Suizidrate bei Patienten mit rezidivierenden Phasen wird mit Werten um 15 % angegeben.
Therapie
Die Behandlung depressiver Syndrome stützt sich auf die medikamentöse Therapie, die Psychotherapie, die Schlafentzugstherapie und die EKT. Wegen der verhältnismäßig guten Erfolgsaussichten, der breiten Anwendbarkeit und den relativ geringen Nebenwirkungen sollte allen Patienten mit mindestens mittelgradiger Symptomatik eine medikamentöse Therapie vorgeschlagen werden. Angesichts der Wechselwirkungen von Medikamenten ist einer Monotherapie stets der Vorrang einzuräumen. Wichtige Kriterien zur Auswahl einer antidepressiven Substanz sind Kontraindikationen, Neben- und Wechselwirkungen.
Daneben gibt es eine Reihe klinischer Richtlinien, die allerdings nur z. T. durch klinische Studien ausreichend belegt sind.
Therapieempfehlungen
  • Eine bereits früher bei einem Patienten erfolgreich eingesetzte Substanz kann wiederverwendet werden, soweit keine neuen Befunde dem entgegenstehen.
  • Eine Medikation für Patienten mit wiederholten Suizidversuchen in der Anamnese sollte wenig toxisch sein (und nur in geringen Mengen verordnet werden).
  • Bei suizidalen Patienten sind Substanzen mit sedierender Komponente oder Kombinationen mit Benzodiazepinen zu empfehlen.
  • Bei geriatrischen Patienten sollten trizyklische Antidepressiva (TZA) nur mit erhöhter Vorsicht angewendet werden. Hier eignen sich z. B. Citalopram, Mirtazapin oder Duloxetin.
  • Gehemmt antriebslose Syndrome sollten eher mit einem den Antrieb steigernden Antidepressivum behandelt werden, ängstlich agitierte Formen eher mit einem sedierenden.
  • Bei therapieresistenten Depressionen sollte der Patient rechtzeitig und adäquat über EKT aufgeklärt werden und/oder Tranylcypromin eingesetzt werden.
  • Bei allen bisher bekannten Antidepressiva ist auch bei ausreichender Dosierung mit einer Wirklatenz von 2–4 Wochen zu rechnen.
  • Das Medikament sollte langsam bis zur maximal erlaubten Tagesdosierung angehoben werden, wenn die Besserung unter niedriger Dosierung unzureichend ist und die Nebenwirkungen vertretbar sind.
  • Je nach Substanz sind engmaschige Kontrolluntersuchungen durchzuführen. Eine Bestimmung der Medikamentenkonzentration im Serum ist hilfreich, da Wechselwirkungen von Substanzen, individuelle pharmakokinetische Besonderheiten und fehlende Compliance eine Unwirksamkeit des Präparates vortäuschen können. Ein Medikamentenwechsel aufgrund von Unwirksamkeit sollte erst nach einer Behandlungsdauer von mehreren Wochen mit suffizienter Dosierung erfolgen.
  • Die Behandlung einer depressiven Episode kann z. B. zunächst mit einem selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI), Venlafaxin oder Duloxetin, erfolgen. Manchmal ist die sedierende Komponente von Mirtazapin oder Agomelatin hilfreich.
  • Bei Depressionen mit psychotischen Merkmalen sollte die antidepressive Therapie mit einer antipsychotischen kombiniert werden.
  • Bei starker Angst, Suizidalität, Schlafstörungen, psychomotorischer Erregung oder subjektiver Gequältheit des Patienten kann eine vorübergehende Kombination der antidepressiven Therapie mit Benzodiazepinen (Lorazepam 4-mal 0,5 mg bis maximal 6 mg täglich) eine große Hilfe darstellen.
Fallbeispiel
Eine 63-jährige Frau leidet seit einer gynäkologischen Operation vor einem Monat unter zunehmend schlechter Stimmung, Ängsten und Antriebslosigkeit. Wegen Schlafstörungen und flüchtigen suizidalen Gedanken wird zusammen mit 20 mg Citalopram vorübergehend 3-mal 0,5 mg Lorazepam verordnet. Sie fühlt sich dadurch innerhalb von Stunden deutlich besser. Erst nach 2 Wochen ist ihr psychisches Befinden so stabil, dass die Dosis von Lorazepam innerhalb von 10 Tagen abgesetzt werden kann.
Sind die genannten Therapieansätze unzureichend wirksam, können folgende Strategien eingeschlagen werden:
Therapieempfehlungen
  • Bestehende Therapie in Dauer und Dosierung überprüfen und ausschöpfen
  • Augmentation mit Schilddrüsenhormon (50 μg Levothyroxin täglich)
  • Wechsel zu oder Kombination mit einem anderen Antidepressivum
  • Kombination mit einem atypischen Antipsychotikum
  • Rechtzeitige und adäquate Aufklärung des Patienten über EKT
Nach Remission der akuten Beschwerden sollte auf eine Erhaltungstherapie von mindestens 6 Monaten in unveränderter Dosierung geachtet werden. Die anschließende Reduktion der Medikamentendosis muss langsam erfolgen.
Psychotherapie in Form supportiver Gespräche sollte die antidepressive Behandlung ständig begleiten, spezifische Methoden dagegen, die die aktive Mitarbeit des Patienten fordern, sind meist erst im Anschluss an die Akutphase sinnvoll.
Bei schweren oder therapieresistenten depressiven Störungen ist EKT die wirksamste Behandlungsoption.

Bipolare affektive Störungen (F31)

Bipolare affektive Störungen sind gekennzeichnet durch einen phasenhaften Krankheitsverlauf bestehend aus depressiven, hypomanen, manischen und gemischten Episoden, von denen mindestens eine abgeschlossene anders klassifiziert sein muss als depressiv. Zwischen den Phasen kommt es typischerweise zu einer Remission, bei langer Krankheitsdauer mit hoher Zyklusfrequenz kennt man aber auch affektive Residualsyndrome. Ursprünglich wurden diese Erkrankungen gemeinsam mit den rezidivierenden depressiven Störungen als eine Krankheitsentität betrachtet. Beide Gruppen zeigen jedoch eine unterschiedliche Genetik und Geschlechtsverteilung, sodass heute verschiedene ätiologische Prozesse angenommen werden.
Klinik
Alle bei F30 und F32 beschriebenen Unterformen manischer und depressiver Phasen können im Verlauf bipolarer Erkrankungen als Einzelepisoden auftreten. Sie sind entweder durch symptomfreie Intervalle getrennt oder schlagen direkt in den entgegengesetzten affektiven Zustand um, wie beispielsweise bei hypomanen Nachschwankungen depressiver Episoden. Manchmal kommt es jedoch auch innerhalb einer Episode zu einer Vermischung von manischen und depressiven Merkmalen, die simultan oder in raschem Wechsel – auch stündlich oder täglich – vorhanden sein können. Stehen beide Arten von Symptomen während des überwiegenden Teils der gegenwärtigen Phase gleichermaßen im Vordergrund und dauert diese mindestens 2 Wochen an, so spricht man von einer gemischten Episode. Beispielsweise kann die Stimmung dabei gedrückt, der Patient aber gleichzeitig überaktiv und logorrhöisch sein. Passagere psychotische Symptome dürfen dabei bestehen.
Verlauf
Bipolare Störungen können in jedem Lebensalter auftreten, beginnen jedoch im Mittel früher als unipolar depressive. Obwohl Untersuchungen zu dieser Erkrankung übereinstimmend die Wichtigkeit neurobiologischer Faktoren betonen, wird für die Auslösung der akuten Episoden eine Begünstigung durch psychisch belastende Ereignisse angenommen. Manische Zustände entwickeln sich in der Regel schneller und dauern kürzer als depressive. Der Verlauf bipolarer Störungen ist individuell sehr variabel, einige Sonderformen werden klinisch durch spezielle Bezeichnungen hervorgehoben.
Bei der Störung vom Typ bipolar II dürfen bis zum Untersuchungszeitpunkt nur hypomane und depressive Episoden eruierbar sein, während der Typ bipolar I auch gemischte und manische beinhaltet.
Rapid Cycling
Wesentliches Merkmal des sog. Rapid Cycling als Hochfrequentes Verlaufsmuster bipolarer Störungen ist das Auftreten von mindestens 4 affektiven Episoden in den vergangenen 12 Monaten. Kombination und Reihenfolge der Phasen sind dabei beliebig, sie müssen jedoch durch eine Remission oder ein Umschlagen in die entgegengesetzte affektive Polarität voneinander getrennt sein. Die Gesamthäufigkeit des Rapid Cycling wird mit 5–15 % der bipolaren Erkrankungen angegeben, der Anteil von Frauen beträgt etwa 75 %. Es wird angenommen, dass organische Begleiterkrankungen (Hypothyreose, neurologische Störungen, geistige Behinderung, Schädel-Hirn-Traumata) und bestimmte pharmakologische Behandlungsstrategien ein Rapid Cycling begünstigen.
Therapie
Die Therapie der Akutphasen erfolgt syndromorientiert. Gemischte affektive Episoden werden wie manische therapiert. Wegen des großen Rezidivrisikos bei bipolaren Erkrankungen sollte frühzeitig eine Phasenprophylaxe eingeleitet werden, um so Anzahl und Häufigkeit der Episoden zu senken. Bei einer Lithiumtherapie ist eine Planung für größere Zeiträume notwendig, da die volle prophylaktische Wirksamkeit sich erst nach mehreren Monaten entwickelt und das Absetzen ein hohes Rezidivrisiko beinhaltet.
Therapieempfehlungen
  • In der prophylaktischen Indikation von Lithium reichen in der Regel Serumspiegel von 0,6–0,8 mmol/l aus, bei unzureichender Besserung kann aber auch ein höherer Spiegel eingestellt werden.
  • Alternativ besitzt Valproinsäure eine Zulassung zur Prophylaxe manischer und depressiver Episoden, während Lamotrigin zur Prophylaxe depressiver Episoden zugelassen ist. Beide Substanzen werden mit gutem Erfolg eingesetzt. Auch Carbamazepin ist prophylaktisch gut wirksam, wird jedoch wegen Nebenwirkungen und Enzyminduktion zunehmend weniger eingesetzt.
  • Weiter spielen atypische Antipsychotika in der Prophylaxe bipolarer Störungen eine wichtige Rolle (z. B. Olanzapin, Quetiapin, Aripiprazol).
Im Rahmen anderer Erkrankungen wird nach depressiven Phasen die Medikation mit Antidepressiva beibehalten, um Rückfällen vorzubeugen. Bei bipolaren Störungen wird einer stimmungsstabilisierenden Behandlung wie oben beschrieben der Vorzug gegeben.

Rezidivierende depressive Störungen (F33)

Die Störung ist charakterisiert durch das wiederholte Auftreten depressiver und das Fehlen manischer, hypomaner und gemischter Episoden im bisherigen Krankheitsverlauf.
Klinik
Alle bei F32 beschriebenen Unterformen depressiver Phasen können im Verlauf der Erkrankung als Einzelepisoden vorkommen. Auch nach langer Krankheitsdauer mit vielen depressiven Episoden kommt es vor, dass aufgrund einer manischen Phase die Diagnose in die einer bipolaren Störung abgeändert werden muss. In der Regel sind die Patienten zwischen den akuten Krankheitszuständen symptomfrei. Wiederholte depressive Phasen mit hypomanen Nachschwankungen sind ebenfalls in F33 einzuordnen, wenn man Grund zu der Annahme hat, dass die hypomanen Phasen sich als Behandlungsfolge entwickelt haben.
Manchmal kann man bei affektiven Störungen saisonale Muster feststellen, im Sinne des Auftretens von depressiven Phasen zu bestimmten Jahreszeiten (meist im Herbst oder Winter). Ergibt sich neben dieser allgemeinen Beobachtung im Langzeitverlauf für die zurückliegenden 2 Jahre eine strenge zeitliche Korrelation und ist die jahreszeitliche Bindung nicht durch saisonal bedingte psychosoziale Belastungsfaktoren erklärbar, so kann man eine saisonale affektive Störung diagnostizieren. Sie wurde noch nicht als integraler Bestandteil in die ICD-10 aufgenommen, hat aber inzwischen allgemein Anerkennung gefunden. Die Symptomatik kann der atypischen Depression ähneln. Therapeutisch wird intensives sichtbares Licht eingesetzt. Das saisonale Muster wird außer auf rezidivierende depressive Störungen auch auf bipolare Krankheitsverläufe angewandt.
Therapie
Die Therapie der Akutphasen erfolgt syndromorientiert. Da das Risiko für einen Rückfall mit jeder Phase zunimmt, ist auch bei rezidivierenden Depressionen eine frühzeitige Rezidivprophylaxe sinnvoll. In der Regel werden hierfür Antidepressiva verwendet.

Anhaltende affektive Störungen (F34)

Klinik
Zyklothymia und Dysthymia sind chronische affektive Störungen leichter Ausprägung und geringer Prozesshaftigkeit. Die Stimmung kann zwar fluktuieren, die Kriterien für eine hypomane oder depressive Episode werden jedoch in der Regel nicht erfüllt, weil die Symptome zu leicht oder untypisch sind. Die Beschwerden halten jahrelang an, manchmal bestehen sie den größten Teil des Erwachsenenlebens. Tage oder Wochen vergleichsweise normalen Befindens können durchaus vorkommen und den Eindruck eines angedeuteten phasischen Verlaufs vermitteln. Der Beginn liegt gewöhnlich im frühen Erwachsenenalter, die Störungen können sich aber auch später an eine affektive Episode anschließen. Tagesschwankungen sind mit beiden Diagnosen vereinbar.
Zyklothymia
Bei der Zyklothymia besteht eine andauernde affektive Instabilität mit zahlreichen Perioden leichter depressiver oder leicht gehobener Stimmung, die von den Patienten meist nicht in Bezug zu Lebensereignissen gestellt werden. Die Störung tritt gehäuft bei Verwandten von Patienten auf, die an einer bipolaren Erkrankung leiden.
Dysthymia
Als Dysthymia wird eine chronisch depressive Verstimmung bezeichnet. Die Patienten fühlen sich ständig müde, angestrengt, überfordert, der Schlaf ist oft gestört. Trotzdem kommen sie meist mit den Anforderungen des täglichen Lebens zurecht. Die Störung kann auch in höherem Lebensalter durch belastende Ereignisse ausgelöst werden. Lagert sich auf eine vorbestehende Dysthymia eine einzelne depressive Episode auf, so spricht man von einer „double depression“.
Zyklothymia und Dysthymia werden nicht mehr als neurotische Störungen oder Persönlichkeitsstörungen klassifiziert, da verschiedene Argumente eine enge ätiologische Verwandtschaft mit den rezidivierenden affektiven Störungen nahelegen. Beide Gruppen von Erkrankungen zeigen in Familienstudien genetische Gemeinsamkeiten und sprechen auf therapeutische Maßnahmen wie Antidepressiva und Schlafentzug in ähnlicher Weise an.
Therapie
Therapeutisch können pharmakologische Maßnahmen und Psychotherapie einzeln oder kombiniert eingesetzt werden. Bei der Zyklothymia kann eine Prophylaxe mit die Stimmung stabilisierenden Substanzen eingeleitet werden.

Angst-, Zwangs- und Anpassungsstörungen (F4)

Dieser Abschnitt stellt einen Auszug aus der Kategorie F4 der ICD-10 dar, in der neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen zusammenfasst werden. Historisch betrachtet haben sich die dort aufgeführten Krankheitsentitäten aus dem Neurosenkonzept entwickelt. Eine Gemeinsamkeit dieser Gruppe besteht in einer beträchtlichen Mitbeteiligung psychischer Faktoren bei der Verursachung und Aufrechterhaltung der Störungen. Die dabei beteiligten Mechanismen lassen sich anhand von Modellen aus der Lern- und Kommunikationstheorie verstehen. Andererseits haben insbesondere bei der Panikstörung und der Zwangsstörung auch biologische Faktoren eine erhebliche ätiologische Bedeutung, was durch genetische Studien belegt ist. Auch konnte Angst in tierexperimentellen und humanen Untersuchungen durch Hyperventilation, CO2-Atmung, Laktatinfusionen und Applikation von Cholezystokinin experimentell hervorgerufen werden.
Bei vielen der hier aufgeführten Störungen besteht ein fließender Übergang zum Gesunden. Dies gilt insbesondere für die Anpassungsstörungen, aber auch Angst ist primär eine physiologische Reaktion auf eine die Integrität des Individuums bedrohende äußere Gefahr. Sie kann allerdings auch pathologische Ausmaße annehmen, wenn sie den äußeren Umständen nicht angemessen ist und so die Aktivitäten des täglichen Lebens und die sozialen Kontakte beeinträchtigt werden.

Phobische Störung (F40)

Klinik
Bei Patienten mit phobischen Störungen wird durch normalerweise ungefährliche Situationen oder Objekte eine unangemessene Furcht provoziert. Die Stimuli müssen außerhalb der betroffenen Person liegen und werden typischerweise gemieden oder voller Angst ertragen. Man unterscheidet die Agoraphobie (in einem erweiterten Sinn verstanden als die Angst, einen vermeintlich unsicheren Ort aufzusuchen), die soziale Phobie (Furcht vor prüfender Betrachtung durch andere Menschen) und die isolierten Phobien (Höhenangst, Tierphobien, Examensangst). Mit einer Prävalenz von zusammen ungefähr 5 % (einschließlich der leichteren Formen) sind diese Störungen die häufigsten Angsterkrankungen. Es sind etwa doppelt so viele Frauen betroffen wie Männer. Der Erkrankungsbeginn liegt meist vor dem 20. Lebensjahr.
Therapie
Bei allen phobischen Störungen sind die kognitive Verhaltenstherapie und das Expositionstraining die Behandlungsmethode der ersten Wahl. Daneben kommt eine Pharmakotherapie mit SSRI oder Imipramin in Betracht. Bei sozialen Phobien werden eher Monoaminoxidasehemmer (MAOH), für isolierte Phobien auch β-Blocker empfohlen. Bei allen Angststörungen ist auf eine langsame Aufdosierung der Medikamente zu achten. Wegen des Abhängigkeitsrisikos dürfen Benzodiazepine allenfalls vorübergehend eingesetzt werden.

Panikstörung (F41.0)

Häufigkeit und Pathogenese
Die Prävalenz der Störung liegt zwischen 1 und 2 %, Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. In den meisten Fällen tritt die erste Angstattacke vor dem 30. Lebensjahr auf.
Ätiologisch werden neurobiologische Modelle favorisiert (Abnormitäten im γ-Aminobuttersäure- [GABA-], Serotonin- und Noradrenalinstoffwechsel) und in Teilaspekten auch lerntheoretische Erklärungen herangezogen.
Klinik
Die Panikstörung ist gekennzeichnet durch rezidivierende schwere Angstattacken, die plötzlich und ohne erkennbare Auslösesituationen auftreten. Typische Symptome sind z. B. Palpitationen, Erstickungsgefühl, Entfremdungserleben, Schwindel, Hyperhidrosis, Parästhesien und Hitzewallungen – verbunden mit der Angst, zu sterben oder die Kontrolle über sich zu verlieren. Meistens klingen die Beschwerden nach 10–30 Minuten ab, in Ausnahmefällen aber auch erst nach Stunden. Die Häufigkeit der Attacken kann von mehrmals täglich bis zu einigen im Monat variieren. Infolge der sich ständig wiederholenden Anfälle entwickeln die Patienten oft Erwartungsangst (Angst vor der Angst), Vermeidungsverhalten (vermeiden es, allein zu sein oder soziale Situationen aufzusuchen) und Absicherungsstrategien (suchen die Nähe von medizinischem Personal, planen Fluchtwege).
Diagnostik und Differenzialdiagnose
Körperliche Erkrankungen (kardiologische, endokrinologische, pneumologische und otologische Störungen sowie Intoxikation, Abusus und Entzug von Medikamenten und Drogen) müssen ausgeschlossen werden. Auch können Panikattacken im Rahmen anderer psychiatrischer Erkrankungen auftreten (schizophrene Psychosen, affektive Störungen, Zwangsstörungen). Ob dann die eigenständige Diagnose einer Angststörung gerechtfertigt ist, muss vom zeitlichen Verlauf abhängig gemacht werden. Umgekehrt kann sich bei einer Panikstörung aus dem Versuch einer Selbstmedikation ein sekundärer Alkohol- oder Drogenabusus entwickeln.
Therapie
Akutsituationen können mit Benzodiazepinen (Lorazepam 1–2 mg) und beruhigendem Zureden meist gut kupiert werden. Längerfristig lassen sich mit SSRI oder trizyklischen Antidepressiva sehr gute Erfolge erzielen. In dieser Indikation ist auf eine sehr langsame Steigerung der Dosierung zu achten, da die Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen stark erhöht ist. Diese Beobachtung deckt sich gut mit der lerntheoretischen Hypothese, dass Patienten mit Panikstörung ihre Aufmerksamkeit sehr auf kleinste Abweichungen ihres Körperempfindens fokussieren und so ihre Angst selbst verstärken. Wie bei der Behandlung von depressiven Syndromen muss mit einer Wirklatenz von etwa 2 Wochen gerechnet werden, eine Prophylaxe von zumindest mehreren Monaten wird empfohlen. Die längerfristige Anwendung von Benzodiazepinen (Alprazolam, Lorazepam) wird wegen des Abhängigkeitsrisikos nicht empfohlen. Nicht selten überdauert die Erwartungsangst die eigentliche Symptomatik lange und sollte nicht als Therapieresistenz fehlgedeutet werden. Insbesondere bei Panikstörungen mit Agoraphobie sollte begleitend eine Verhaltenstherapie eingeleitet werden.

Generalisierte Angststörung (F41.1)

Häufigkeit und Pathogenese
Die Prävalenz der Störung beträgt um 3 %, wobei der Frauenanteil leicht überwiegt. Als Ätiologie wird ein Zusammenwirken biologischer Faktoren und chronischer psychosozialer Belastungen diskutiert. Es besteht eine hohe Komorbidität mit anderen Angsterkrankungen, depressiven Störungen und Anpassungsstörungen.
Klinik
Im Gegensatz zu den vorangehend besprochenen Erkrankungen tritt die generalisierte Angststörung (GAD) weder attackenförmig auf, noch ist sie an bestimmte Auslösesituationen gebunden. Vielmehr besteht bei der GAD eine generalisierte und anhaltende übertriebene Furcht und Besorgnis, die über mindestens 6 Monate andauert und deren inhaltliche Ausrichtung wechseln kann (der Betroffene oder seine Angehörigen könnten verunglücken, erkranken oder finanziell ruiniert sein). Typische Beschwerden sind ständige Nervosität, motorische Anspannung, Hypervigilanz, Konzentrations- und Schlafstörungen, Beschwerden im Oberbauch, vegetative Übererregbarkeit mit Zittern, Schwitzen, Herzklopfen und Schwindel. Dabei dürfen die Kriterien für eine depressive Episode, eine phobische Störung, eine Panik- oder Zwangsstörung nicht erfüllt sein.
Therapie
In der Behandlung sollten primär psychotherapeutische Verfahren zum Einsatz kommen (Entspannungsverfahren, kognitive Verhaltenstherapie), ggf. in Kombination mit Venlafaxin, Duloxetin, Imipramin oder SSRI. Auch Pregabalin ist in dieser Indikation zugelassen. Wegen des Risikos der Gewöhnung dürfen Benzodiazepine nur kurzfristig angewendet werden.

Zwangsstörung (F42)

Häufigkeit und Pathogenese
Die Prävalenz der Störung beträgt 1–2 %, Männer sind mindestens so häufig betroffen wie Frauen, nach manchen Quellen öfter. Das mittlere Erkrankungsalter liegt zwischen dem 20. und 25. Lebensjahr.
Zur Erklärung der Ätiologie treten neurobiologische Modelle zunehmend in den Vordergrund. Funktionelle Untersuchungen mittels bildgebender Verfahren und die Effektivität bestimmter neurochirurgischer Interventionen bei Zwangserkrankungen weisen auf ein gestörtes Zusammenspiel des frontalen Kortex mit den Basalganglien hin. Andererseits lässt die Wirksamkeit serotonerger Antidepressiva eine veränderte serotonerge Transmission annehmen.
Klinik
Bei einer Zwangsstörung leidet der Patient unter ständig wiederkehrenden psychischen Phänomenen,
  • die sich ihm in unangenehmer Weise aufdrängen,
  • die er als unsinnig und manchmal bedrohlich erlebt,
  • gegen die er sich vergebens zu wehren sucht,
  • die dem eigenen Ich zugeschrieben werden.
Solche Phänomene können bestehen in:
  • Gedanken (zwanghafte Vorstellung obszöner Szenen, Zweifel an der Ausführung oder Unterlassung bestimmter Handlungen, Befürchtung, sich verschmutzt zu haben, Grübeln über Krankheiten)
  • Impulsen (zwanghafter Drang zu selbst- oder fremdaggressiven Handlungen, Drang zur Kontrolle von Dingen oder zum Ausstoßen obszöner Worte)
  • Handlungen (zwanghaftes Waschen und Putzen, Kontrolle von Türen und Geräten)
Zwangshandlungen sind häufig mit der magischen Vorstellung verbunden, dass sich durch ihre Ausführung ein drohendes Unheil abwenden ließe. Neben den psychischen Beschwerden treten bei den Patienten oft vegetative Angstsymptome auf. Insbesondere der Versuch, dem Zwang nicht nachzugeben, ist stets von einer intensiven Spannung und Angst begleitet.
Um die Diagnose einer Zwangsstörung stellen zu können, müssen die Symptome an den meisten Tagen innerhalb von wenigstens 2 Wochen bestehen und relevant sein in dem Sinn, dass sie subjektiv als quälend erlebt werden oder die normalen Aktivitäten stören. In der Kategorie F42 wird in Störungen unterschieden, bei denen Zwangsgedanken dominieren, und solche mit überwiegend Zwangshandlungen. Die Mehrzahl der Patienten weist allerdings beiderlei Symptome auf. Eine fremdanamnestische Erfassung des Schweregrades kann mit der YBOCS (Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale) erfolgen.
Differenzialdiagnose
Zwangssymptome treten im Rahmen von schizophrenen Psychosen, bei Angststörungen, bei organischen psychischen Störungen und beim Gilles-de-la-Tourette-Syndrom auf und werden als Teil dieser Krankheitsbilder angesehen, sofern sie nicht bereits deutlich vor deren Erstmanifestation bestanden haben. Phobien, Alkoholabusus und Essstörungen treten häufig in Komorbidität zu Zwangserkrankungen auf. Zwischen der Symptomatik von Depressionen und Zwangsstörungen gibt es große Überschneidungen. Entscheidend für die Diagnose ist dann der zeitliche Verlauf der Beschwerden.
Therapie
Die erfolgversprechendste Therapie besteht in der Kombination medikamentöser und verhaltenstherapeutischer Maßnahmen. Serotonerge Antidepressiva (Clomipramin oder Fluvoxamin bis 300 mg täglich) sollten über einen Zeitraum von mindestens 10–12 Wochen hoch dosiert gegeben werden. Wegen der hohen Dosis muss auf Nebenwirkungen besonders geachtet werden, und es sollten regelmäßige Kontrolluntersuchungen (EEG und EKG) erfolgen. In der Regel finden sich unter dieser Therapie eine Besserung und eine Zunahme der subjektiv erlebten Fähigkeit zur Selbststeuerung, auf der verhaltenstherapeutische Maßnahmen aufbauen können. Bei Therapieresistenz besteht in schweren Fällen die Möglichkeit der tiefen Hirnstimulation.

Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43)

Infolge akuter oder chronisch belastender Umstände kann es auch bei psychisch nicht manifest gestörten Personen zu Reaktionen kommen, die quantitativ und qualitativ deutlich von dem erfahrungsgemäß zu Erwartenden abweichen. Solche Störungen werden nur dann in der Kategorie F43 erfasst, wenn sie ohne die belastenden Umstände nach Einschätzung des Untersuchers nicht aufgetreten wären. Andernfalls sind sie anderen Kategorien zuzuordnen.
Akute Belastungsreaktion
Typischerweise kommt es innerhalb von Minuten nach einem traumatischen Ereignis (Unfall, Verbrechen, Todesfall) zu einem Zustand der Betäubung mit Einengung des Bewusstseins, eingeschränkter Reizverarbeitung und Desorientiertheit. Anschließend folgt ein Übergang zu depressiven Symptomen, Angst, Reizbarkeit, Verzweiflung, Hyperaktivität oder psychischem Rückzug bis zum Stupor. Das Beschwerdebild klingt nach Stunden oder Tagen wieder ab und kann eine teilweise oder vollständige Amnesie hinterlassen. Das Risiko, eine solche Störung zu entwickeln, hängt von den individuellen Bewältigungsmechanismen der betroffenen Person ab.
Posttraumatische Belastungsstörung
Nach außergewöhnlichen Bedrohungssituationen (Naturkatastrophen, Folterung, Kriegshandlungen), die bei fast jedem eine tiefe Verstörung hervorrufen würden, kann sich mit einer Latenz von Wochen oder Monaten ein charakteristisches Beschwerdebild entwickeln, dessen Auftreten z. T. von individuellen Faktoren bestimmt wird. Pathognomonisch ist die wiederholte unausweichliche Erinnerung oder Wiederinszenierung der auslösenden Situation in Tagträumen oder Träumen. Alle damit assoziierten Gegenstände oder Vorstellungen werden angstvoll gemieden. Hinzutreten können vegetative Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, unspezifische Symptome einer depressiven Reaktion oder einer Angststörung.
Anpassungsstörungen
Nach einschneidenden Veränderungen der Lebensumstände oder nach belastenden Ereignissen (Trennung oder Tod in der Partnerschaft, schwere berufliche Probleme) kann es als Ausdruck eines gestörten Anpassungsprozesses zu depressiver Verstimmung, Angst, Besorgnis, Beeinträchtigung der sozialen Funktion und der Leistungsfähigkeit kommen. Die Latenz bis zum Auftreten der Symptome sollte nicht länger als 1 Monat, die Gesamtdauer der Störung nicht länger als 6 Monate betragen.
Therapie
In der Behandlung von Anpassungsstörungen und Belastungsreaktionen stehen psychotherapeutische Verfahren im Vordergrund. Bei länger anhaltenden Anpassungsstörungen können ergänzend Antidepressiva mit Erfolg eingesetzt werden, bei ängstlichen Zuständen vorübergehend auch Benzodiazepine (Abschn. 2.6).

Psychiatrische Akutsituationen

Da psychiatrische Patienten gerade in Akutsituationen nicht immer ausreichend kooperieren können, muss man fremdanamnestische Angaben nutzen, um Informationen über die Vorgeschichte zu erhalten, auch wenn dies einen erheblichen Zeitaufwand bedeutet. Oft ergibt sich eine Indikation für eine stationäre Behandlung und Beobachtung sowie für medizinische Untersuchungen und therapeutische Maßnahmen. Diese sollten, wenn irgend möglich, freiwillig erfolgen. Um den Patienten zu überzeugen, ist manchmal die Einbeziehung verfügbarer Ressourcen notwendig (Angehörige, Freunde, spontane Gegebenheiten). Auch wenn die Voraussetzung für Unterbringungsmaßnahmen erfüllt sind (Fremd- oder Eigengefährdung), sollten sie nur bei wirklich uneinsichtigen oder ambivalenten selbst- oder fremdgefährdenden Patienten zur Anwendung kommen.

Psychomotorische Erregungszustände

Bei Erregungszuständen stehen Antriebssteigerung und Affektenthemmung im Vordergrund. Ein Verlust der Kontrolle einschließlich Selbst- oder Fremdaggression beinhaltet ein erhebliches Gefahrenpotenzial. Da eine Exploration des Patienten meist nur unvollständig möglich ist, kommt fremdanamnestischen Angaben eine entscheidende Bedeutung zu. Auch wenn äußere Ereignisse in entsprechenden Lebenssituationen durchaus solche Reaktionen auslösen können, muss immer an eine Mitbeteiligung durch krankhafte Prozesse gedacht werden, wie schizophrene und affektive Erkrankungen, postiktale Erregungszustände, Hyperthyreose, Intoxikationen und Minderbegabung.
Therapie
Folgende Maßnahmen können im Akutfall hilfreich sein:
  • Eskalationen durch flexibles und professionelles Auftreten vermeiden, sorgfältige Beobachtung der Reaktionen des Patienten im Hinblick auf deeskalierende Interventionsmöglichkeiten.
  • Rechtzeitig für ausreichende Hilfe im Hintergrund sorgen.
  • Ein Ausschluss organischer Ursachen mit dringenden Handlungskonsequenzen sollte unverzüglich erfolgen.
  • Das Verhältnis von Freiraum und Kontrolle (geschlossene Station, Überwachung, Fixierung) muss für jeden Patienten individuell entschieden werden.
  • Rationale Erklärungen des Patienten sollten nicht zu leicht übernommen und Überwachungsmaßnahmen nicht zu früh aufgegeben werden.
In der medikamentösen Behandlung sollten Benzodiazepine sowie nieder- und hochpotente Antipsychotika möglichst oral und auf freiwilliger Basis verabreicht werden. Von der intravenösen Injektion trizyklischer Antipsychotika wird wegen der Gefahr von Komplikationen abgeraten. In der folgenden Übersicht sind die häufig angewendeten Substanzen zusammengestellt:
Therapieempfehlungen
  • Haloperidol: Insbesondere bei Psychosen, organisch bedingten Störungen, Intoxikationen und bei kreislaufgefährdeten Patienten. Dosierung: Oral 2–10 mg (bei älteren Menschen weniger), ggf. auch mehrfach. Intramuskulär 5 mg (2,5 mg bei älteren Menschen), ggf. auch mehrfach. Intravenöse Verabreichung nur unter Monitorkontrolle. Cave: bei extrapyramidal-motorischen Störungen (EPMS) Biperiden 2,5 mg i.m. oder i. v., ggf. mehrfach.
  • Olanzapin: In Abhängigkeit von Alter, Vorerkrankungen und Ausmaß des Erregungszustandes können zunächst 5–10 mg oral als Velotab verabreicht werden. Wenn eine Erstdosis gut vertragen wurde, kann später auch bis zur Gesamtdosis von 20 mg gegeben werden. Auf anticholinerge Nebenwirkungen und zu starke Sedierung ist zu achten, insbesondere in Kombination mit Benzodiazepinen. Die Substanz eignet sich auch sehr gut zur i.m.-Gabe bei erregten Patienten. Die Dosierungsvorschriften und Anwendungsbeschränkungen müssen beachtet werden.
  • Diazepam: Insbesondere bei ängstlicher Tönung. Dosierung: Oral 10 mg, bis 80 mg in den ersten 24 h. Intramuskulär oder i. v. (als Emulsion) 10 mg, bis 60 mg in den ersten 24 h. Cave: Kreislauf- und Atemdepression.
  • Pipamperon (40 mg ggf. mehrfach bis 360 mg). Alternativ kann Melperon (hemmt CYP2D6) oder Levomepromazin (oral oder intramuskulär) verordnet werden.
  • Unter Beachtung der Maximaldosis können, bis eine ausreichende Wirkung eintritt, die Einzeldosen alle 30 min (Olanzapin nach 2 h) wiederholt werden.
  • Bei Intoxikationen mit psychotropen Substanzen, insbesondere mit Alkohol, sollten Benzodiazepine oder niederpotente Antipsychotika nicht zur Anwendung kommen.
  • Bei Erregungszuständen im Rahmen von Depressionen können sedierende Antidepressiva wie beispielsweise Doxepin zusätzlich eingesetzt werden (maximal 150 mg in den ersten 24 h). Ein Einsatz bei geriatrischen Patienten oder in Kombination mit anderen anticholinerg wirkenden Substanzen ist zu vermeiden.

Eigen- und Fremdgefährdung

Bei vielen psychiatrischen Krankheiten wie beispielsweise Schizophrenien, affektiven Störungen oder Intoxikationen können Patienten zeitweise für sich oder andere eine Bedrohung darstellen. Gelangt man zu dem Schluss, dass bei einem ambulant vorgestellten Patienten eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegt, sollte zunächst eine stationäre Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus auf freiwilliger Basis vorgeschlagen werden. Soweit sein Zustand es erlaubt, kann ein aufklärendes und beruhigendes Gespräch helfen, ihn von der Richtigkeit dieses Vorgehens zu überzeugen. Lehnt er das Angebot ab, muss eine Unterbringungsmaßnahme eingeleitet werden. Der Betroffene sollte nach gefährlichen Gegenständen und Substanzen durchsucht werden und bis zur stationären Aufnahme in einem geeigneten Krankenhaus unter polizeilicher oder sonstiger professioneller Aufsicht verbleiben. Verwandte oder Freunde können helfen, den Patienten zu beruhigen. In akuten Notfällen sind notwendige Maßnahmen zur Gefahrenabwehr für Gesundheit oder Leben aller Beteiligten generell gestattet (rechtfertigender Notstand).
Auch unter stationären Bedingungen müssen der Situation angemessene Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden, wobei die Sicherheit des Patienten, der Mitpatienten und des Personals gleichermaßen gewährleistet sein muss. Nach einem Suizidversuch oder bei einer bekannten Intoxikation müssen eine Diagnostik, eine suffiziente Erstversorgung und eine adäquate Überwachung erfolgen. Es sollte abgeklärt werden, ob organisch bedingte Störungen, Intoxikationen, Drogen- und Medikamenteneinwirkungen vorliegen.
Akut fremdaggressive Patienten werden wie beim psychomotorischen Erregungszustand sediert. Suizidale Patienten müssen entsprechend dem Grad der Eigengefährdung ausreichend mit Benzodiazepinen (Diazepam 5–20 mg bis maximal 60 mg) und/oder dämpfenden Antidepressiva (Doxepin bis 6-mal 25 mg in den ersten 24 h) sediert werden. Bei sich selbst verletzenden Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung sollten Benzodiazepine nicht zur Sedierung verwendet werden. Eine ausreichende Überwachung muss in jedem Fall gewährleistet sein. Sofern eine Fixierung notwendig wird, ist eine Sitzwache obligat. Die Notwendigkeit der Fixierung muss regelmäßig überprüft werden.

Delirante Syndrome

Bei deliranten Syndromen ist aufgrund der vitalen Gefährdung eine sofortige stationäre Behandlung erforderlich. Symptomatik, Differenzialdiagnose und Therapie werden in Abschn. 2.1 besprochen.

Bewusstseinsstörungen

Quantitative Bewusstseinsstörungen deuten auf organische Erkrankungen hin, die dringend einer Abklärung bedürfen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind Psychopharmaka kontraindiziert. Bei gleichzeitig oder intermittierend auftretender psychomotorischer Erregung kann in niedriger Dosierung Haloperidol oral oder i.m. gegeben werden, um diagnostische Maßnahmen zu ermöglichen.
Cave
Vor der Gabe antipsychotischer Medikation sollte ein malignes neuroleptisches Syndrom ausgeschlossen sein.

Drogeninduzierte Notfälle

Wie bei Alkohol können auch bei Konsum anderer Drogen Intoxikation, Entzug und psychotische Reaktion auftreten. Jedoch muss bei unklaren Notfällen auch an viele andere Komplikationen des Drogenabusus gedacht werden (Infektion, Exsikkose, metabolische Störung), sodass eine stationäre oder sogar intensivmedizinische Abklärung oft unumgänglich ist.

Stupor

Stuporöse Krankheitsbilder sind gekennzeichnet durch Verlangsamung und Verarmung von Motorik und Sprache bis hin zu Bewegungslosigkeit und Mutismus. Die Augen sind in der Regel geöffnet, die Bewusstseinsklarheit, die Reizaufnahme und -reaktion sind mehr oder weniger eingeschränkt. Der Muskeltonus kann schlaff-passiv sein, aber auch angespannt-hyperton (Starre, Sperrung). Stupor tritt im Rahmen sehr unterschiedlicher Erkrankungen auf, wie z. B. bei der Depression, der Katatonie, dem malignen neuroleptischen Syndrom, bei organischen psychischen Störungen, bei Parkinson-Syndromen verschiedener Ätiologie und bei dissoziativen Störungen. Für die Differenzialdiagnose ist man auf zusätzliche Symptome, anamnestische Informationen und Zusatzuntersuchungen angewiesen. Ein Ausschluss organischer Ursachen sollte erfolgen, gleichzeitig kann mit allgemeinmedizinischen Maßnahmen begonnen werden (Überwachung der Vitalfunktionen, ausreichende Flüssigkeitsgabe, kühlende Maßnahmen bei Hyperthermie, Thrombose- und Dekubitusprophylaxe).
Therapieempfehlungen
  • Liegt die Differenzialdiagnose einer perniziösen Katatonie vs. malignes neuroleptisches Syndrom vor, so sollte zunächst 2 mg Lorazepam oral oder i. v. gegeben werden, später 4–6 mg täglich oder mehr entsprechend dem Ausmaß der Sedierung.
  • Wegen der potenziell lebensbedrohlichen Komplikationen sollte bei unklarer Differenzialdiagnose frühzeitig eine EKT erfolgen.
  • Auch beim depressiven Stupor kann in der Akutsituation zunächst Lorazepam gegeben werden.

Unerwünschte Medikamentenwirkungen

Auch Pharmaka, die der Behandlung von psychischen Störungen dienen, können unter ungünstigen Umständen eine psychiatrische Akutsituation hervorrufen. Einige wichtige Beispiele solcher Störungen sind:
  • Intoxikationen sollten entsprechend dem Rat der Giftzentrale überwacht und behandelt werden. Insbesondere bei Vergiftungen mit TZA kann es zu lebensbedrohlichen Situationen kommen (z. B. Herzrhythmusstörungen; Kap. „Kardiale Erkrankungen in der Neurologie“).
  • Delirien durch Psychopharmaka werden in Abschn. 2.1 besprochen. Besondere Gefahr besteht am Behandlungsbeginn, bei jeder raschen Dosiserhöhung (anticholinerg wirksame Substanzen), bei abrupter Reduktion (abhängigkeitserzeugende Pharmaka), aber auch bei Dosisänderung von Begleitmedikationen infolge pharmakokinetischer Wechselwirkungen.
  • Das maligne neuroleptische Syndrom, Bewegungsstörungen und depressive Reaktionen unter Antipsychotika, Erregungszustände unter Antidepressiva und Antipsychotika, das serotonerge Syndrom, hypertensive Krisen bei Diätfehlern unter Tranylcypromin und paradoxe Wirkungen von Benzodiazepinen werden in Abschn. 2.6 besprochen.

Einleitung von Unterbringungsmaßnahmen

Unter bestimmten Voraussetzungen ist die Unterbringung eines psychisch Kranken gegen dessen Willen in einer geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses möglich. Eine solche Maßnahme ist nach Landes- oder Zivilrecht möglich. Beide Fälle werden wegen ihrer Bedeutung für die Akutversorgung hier besprochen.
Öffentlich-rechtliche Unterbringung nach Landesrecht
Primäres Ziel der Psychisch-Kranken-Gesetze der Bundesländer ist der Schutz der öffentlichen Ordnung. Sie regeln die zwangsweise Unterbringung von Personen, die an einer psychischen Krankheit leiden und durch ihr krankheitsbedingtes Verhalten eine Selbstgefährdung oder eine Gefährdung bedeutender Rechtsgüter anderer darstellen. In Einzelheiten unterscheiden sich diese Gesetze in den verschiedenen Bundesländern.
Zum Schutz des Individuums vor Willkür wird einschränkend vorausgesetzt, dass die Gefahr unmittelbar und erheblich sein muss und durch weniger einschneidende Mittel nicht abgewendet werden kann. So ist z. B. eine durch rezidivierende Alkoholexzesse potenziell gegebene Selbstgefährdung in der Regel nicht ausreichend, wenn der Patient akut nur mäßig intoxikiert ist. Die Polizei oder das Amt für öffentliche Ordnung können den Betroffenen bei einem in der Sache erfahrenen Arzt zur Begutachtung vorstellen. Dieser bescheinigt die obigen Voraussetzungen als erfüllt und klärt den Patienten über die Erkrankung und die weiteren Maßnahmen auf. Das ärztliche Zeugnis sollte neben den Formalien die unmittelbare Vorgeschichte, den psychiatrischen Befund, die wahrscheinlich vorliegende Erkrankung und alle Fakten beinhalten, die die Annahme einer unmittelbaren Eigen- oder Fremdgefährdung rechtfertigen. Zusätzlich muss explizit festgestellt sein, dass die Voraussetzungen für eine zwangsweise Unterbringung erfüllt sind und die Gefahr durch weniger einschneidende Mittel nicht abgewendet werden kann. Die eigentliche Entscheidung über die Unterbringung obliegt dem Richter beim zuständigen Amtsgericht nach persönlicher Anhörung oder im Akutfall für einen begrenzten Zeitraum dem Ordnungsamt. Der Betroffene hat Anspruch auf Anhörung und Möglichkeit, Beschwerde einzulegen. Ein Recht, den Betroffenen gegen seinen Willen zu behandeln, ist in der Regel nicht automatisch mit dem Unterbringungsbeschluss verknüpft.
Betreuungsgesetz
Im Gegensatz zu den Unterbringungsgesetzen der Länder hat das Betreuungsgesetz § 1896 BGB (Bundesgesetz) vom 01.01.1992 primär die fürsorgliche Hilfe zur Versorgung geistig Behinderter, chronisch psychisch Kranker und altersdementer Menschen zum Ziel und regelt damit einen weit umfassenderen Bereich als nur den der Unterbringung. Auf Antrag des Betroffenen oder von Amts wegen kann unter bestimmten Voraussetzungen vom Amtsgericht ein Betreuer für definierte Aufgabenbereiche (Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung, Vermögenssorge, Vertretung gegenüber Behörden, Wohnungsangelegenheiten) bestellt werden. Dabei darf die Freiheit des Betroffenen nur so wenig wie möglich eingeschränkt werden.
Im Rahmen einer gesetzlichen Betreuung, die das Aufenthaltsbestimmungsrecht bzw. die Gesundheitsfürsorge einschließt, kann ein Betreuer nach § 1906 BGB unter bestimmten Voraussetzungen eine Unterbringung oder Behandlung auch gegen den Willen des Patienten veranlassen. Eine Genehmigung des Amtsgerichtes ist erforderlich. Zum Wohl von betreuten Personen kann eine Unterbringung auch in Fällen angeordnet werden, die durch die Landesunterbringungsgesetze nicht abgedeckt sind, wie im Beispiel des oben beschriebenen chronischen Alkoholkranken. Andererseits ist eine Unterbringung wegen Fremdgefährdung in diesem Rahmen nicht möglich. Bei nicht unter Betreuung stehenden Personen können im Akutfall nur die entsprechenden Landesgesetze zur Anwendung kommen.
Unterbringungsähnliche (z. B. längerdauernde oder regelmäßige Fixierung) und ärztliche Maßnahmen bedürfen der Einwilligung des Betreuers und in der Regel der betreuungsgerichtlichen Genehmigung.
Abgesehen von den beiden besprochenen gesetzlichen Regelungen sind in akuten Notfällen unbedingt notwendige Maßnahmen zur sofortigen Gefahrenabwehr für Gesundheit oder Leben nicht strafbar, sofern sie angemessen sind (Rechtfertigender Notstand, § 34 StGB).

Pharmakotherapie

Benzodiazepine

Wirkmechanismus
Die 1960 eingeführten Benzodiazepine haben anxiolytische, sedierende, antikonvulsive, muskelrelaxierende und aggressionsabbauende Eigenschaften. Dementsprechend gelten Angst, Unruhe, psychomotorische Erregung, Hypervigilanz und Schlafstörungen als Zielsymptome. Daneben können sie bei Suizidalität, Stupor und Mutismus eingesetzt werden. Unterschiedliche Wirkprofile für die einzelnen Substanzen sind bis heute nicht sicher nachgewiesen worden. Die pharmakokinetischen Eigenschaften variieren innerhalb der Gruppe allerdings deutlich und lassen verschiedene Indikationsschwerpunkte entstehen. Alprazolam und Lorazepam werden oft als Anxiolytikum verwendet, Flunitrazepam als Hypnotikum, Clonazepam beim manischen Syndrom oder als Anfallsschutz und Diazepam in einer hauptsächlich sedierenden Funktion. Alle Benzodiazepine hemmen die neuronale Aktivität, indem sie die Wirkung von GABA auf Chloridionenkanäle verstärken (GABA-Benzodiazepin-Rezeptorkomplex).
Cave
Nicht angewendet werden dürfen Benzodiazepine bei akuten Intoxikationen, bei Myasthenia gravis, beim akuten Engwinkelglaukom und bei bekannten allergischen Reaktionen.
Nebenwirkungen
Unerwünschte Wirkungen können in Sedierung mit Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen bestehen, in anterograder Amnesie, in Störungen der Koordination und in Muskelrelaxation. Bei Überdosierung können Blutdruckabfall und Atemstillstand eintreten. Paradoxe Wirkungen sind besonders bei älteren Menschen bekannt geworden und entstehen wahrscheinlich durch enthemmende Effekte der Substanzen. Das Präparat sollte sofort abgesetzt werden. Die psychotropen Wirkungen von Alkohol, Opiaten und Barbituraten werden durch Benzodiazepine verstärkt. Zur Teratogenität liegen widersprüchliche Untersuchungsergebnisse vor, wobei Clonazepam als relativ sicher gilt. Bei Neugeborenen, deren Mütter zum Ende der Schwangerschaft Benzodiazepine einnehmen, kann es zum Floppy-infant-Syndrom und zu Entzugssyndromen kommen.
Langzeittherapie und Abhängigkeit
So unentbehrlich diese Substanzen in der Akuttherapie psychischer Störungen sind, so kritisch hinterfragt werden muss die chronische Verordnung wegen der möglichen Entwicklung einer Abhängigkeit. Besonders gefährdet sind Patienten mit Suchtanamnese, mit chronischen Schmerzen, mit Persönlichkeitsstörungen sowie mit chronischen Schlafstörungen. In der Regel sollte deshalb die Behandlung eine Dauer von 4–6 Wochen nicht wesentlich überschreiten. Abhängig von der vorausgehenden Behandlungsdauer muss eine Reduktion langsam erfolgen. Als Richtwert kann die Dosis wöchentlich jeweils auf 75 % des Ausgangswertes herabgesetzt werden. Der Patient sollte frühzeitig über diese Zusammenhänge aufgeklärt werden. Entzugserscheinungen müssen rechtzeitig erkannt und behandelt werden, auch wenn es sich um protrahierte Verläufe bei „low-dose dependence“ handelt.
Sogenannte Non-Benzodiazepin-Hypnotika sind Zopiclon, Zolpidem und Zaleplon. Allerdings haben auch diese ihren Angriffspunkt am GABA-Rezeptor und können eine Abhängigkeit induzieren. Therapeutisch werden sie nur als Hypnotika (mit kurzer Halbwertszeit) eingesetzt.

Antipsychotika

Delay prägte 1955 den Begriff Neuroleptika für Substanzen mit einem dem Chlorpromazin ähnlichen antipsychotischen Effekt. Solche Medikamente wirken hauptsächlich auf schizophrene Wahrnehmungs- und Ich-Erlebnisstörungen sowie Wahndenken. Zusätzlich werden durch diese Substanzen psychomotorische Erregung, aggressives Verhalten und affektive Gespanntheit gedämpft. Entsprechend dem syndromalen Wirkspektrum spricht man heute von Antipsychotika. Entsprechend der chemischen Struktur unterscheidet man verschiedene Klassen von Pharmaka, die in der folgenden Übersicht aufgeführt sind:
Antipsychotika
Wirkmechanismus
Die Wirksamkeit antipsychotischer Substanzen wird nach heutigem Kenntnisstand durch eine Blockade D2-artiger Dopaminrezeptoren vermittelt. Bei den klassischen Antipsychotika mit Ausnahme von Clozapin, Zotepin und Sulpirid ist der therapeutische Effekt an extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen (EPMS) gekoppelt und überwiegend auf die Positivsymptomatik begrenzt. In den letzten Jahren wurden einige Pharmaka entwickelt, die neben der antidopaminergen auch eine antiserotonerge Wirkkomponente besitzen. Diese scheinen nach den bisher vorliegenden Ergebnissen auch Negativsymptome günstig beeinflussen zu können und zeigen weniger EPMS als die klassischen Substanzen. Sie werden deshalb gemeinsam mit Clozapin, Sulpirid und Zotepin als atypische Antipsychotika bezeichnet. In Deutschland zugelassen sind Risperidon, Amisulprid, Olanzapin, Quetiapin, Ziprasidon, Sertindol und Aripiprazol.
Indikation
Als Indikationsgebiete für eine antipsychotische Therapie gelten u. a. folgende Krankheitsbilder:
  • Akute psychotische Störungen (schizophrener Formenkreis, manische oder wahnhaft depressive Syndrome, organisch bedingte Psychosen)
  • Chronische schizophrene Psychosen und Residualzustände
  • Rezidivprophylaxe bei chronisch rezidivierenden Psychosen (schizophrener Formenkreis, manische oder wahnhaft depressive Syndrome)
  • Psychomotorische Erregung (stark dämpfende Wirkung erwünscht) und andere Zustände, die Sedierung notwendig machen
  • Augmentationstherapie bei Depression, Schmerzen, Angst- und Zwangsstörungen
Das Verhältnis zwischen antipsychotischer Wirksamkeit und damit einhergehender Sedierung charakterisiert eine antipsychotische Substanz als hochpotent oder niederpotent. Neben den Kontraindikationen, den Neben- und Wechselwirkungen bestimmt diese Kenngröße die differenzialtherapeutischen Überlegungen.
Kontraindikationen und Nebenwirkungen
Antipsychotika dürfen nicht angewendet werden bei akuten Intoxikationen (in Ausnahmefällen Haloperidol) und bei bekannter Überempfindlichkeit gegen das Präparat. Bei Vorliegen einer anticholinergen Wirkkomponente gelten die üblichen Kontraindikationen. Trizyklische Substanzen müssen bei Patienten mit Leukopenie und Abnormitäten des Differenzialblutbildes vermieden werden.
Clozapin nimmt eine Sonderstellung ein, da es über viele Jahre das einzige atypische Antipsychotikum war, gleichzeitig aber mit dem lebensgefährlichen Risiko einer Agranulozytose verbunden ist. Es darf nur im Sinne einer kontrollierten Anwendung, unter strenger Indikationsstellung, mit anfänglich (bis zur 18. Behandlungswoche) wöchentlichen, später monatlichen Kontrollen des Differenzialblutbildes und nicht in Kombination mit anderen potenziell blutzellschädigenden Substanzen angewendet werden.
Obwohl für Antipsychotika ein teratogenes Risiko bisher nicht sicher nachgewiesen wurde, sollte auf die Einnahme während der Schwangerschaft insbesondere im ersten Trimenon verzichtet werden. In späteren Phasen sollten, soweit nicht zu umgehen, Substanzen mit geringer anticholinerger Wirkkomponente verwendet werden. Bei Neugeborenen, deren Mütter perinatal Antipsychotika erhalten haben, muss bis zu mehreren Monaten mit EPMS gerechnet werden. Empfohlen wird das Absetzen oder zumindest eine Dosisreduktion 2 Wochen vor dem Geburtstermin.
Therapiebegleitend müssen Kontrolluntersuchungen des Blutbildes, der Leberwerte, des Harnstoffs, des Kreatinins, des Pulses und des Blutdrucks sowie EEG und EKG erfolgen.
Insbesondere unter Behandlung mit klassischen Antipsychotika können z. T. schwere depressive Syndrome auftreten, deren Genese bisher nicht sicher geklärt werden konnte. Soweit auf die antipsychotische Medikation nicht verzichtet werden kann, muss die Kombination mit einem Antidepressivum erfolgen. Auch sind Erregungszustände insbesondere unter hohen Dosen hochpotenter Substanzen möglich, die eine Reduktion oder ein Umsetzen der Medikation notwendig machen.
Als Nebenwirkungen trizyklischer Antipsychotika können auftreten: Blutbildveränderungen, Leberfunktionsstörungen, Senkung der Krampfschwelle, anticholinerge vegetative Beschwerden, delirante Syndrome, Gewichtszunahme, Photosensibilisierung sowie sexuelle Funktionsstörungen, Galaktorrhö, Störungen des Menstruationszyklus und Gynäkomastie infolge von Prolaktinerhöhung. Die intravenöse Applikation trizyklischer Antipsychotika ist zu vermeiden. Die i. v. Applikation von Haloperidol sollte nur unter Monitorkontrolle erfolgen.
Geriatrische Anwendung
In der geriatrischen Anwendung sollten Antipsychotika langsamer aufdosiert werden, eine niedrigere Zieldosis angestrebt und häufigere Kontrolluntersuchungen durchgeführt werden. Insbesondere ist orthostatischen Problemen wegen der Gefahr von Stürzen eine größere Aufmerksamkeit zu schenken. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass unter Antipsychotika, die bei dementen Patienten bei aggressiven Störungen und psychotischen Symptomen verordnet werden, gehäuft zerebrovaskuläre Ereignisse auftreten. Bei diesen Patienten sollten Antipsychotika deshalb zurückhaltend eingesetzt und der Behandlung mit Antidementiva der Vorrang eingeräumt werden.
Extrapyramidalmotorische Störungen
Antipsychotikaspezifische Nebenwirkungen sind EPMS in den verschiedenen Ausprägungsarten. Bei den atypischen Substanzen sind diese Symptome weniger ausgeprägt oder fehlen ganz. Soweit bei einem vorbestehenden Parkinson-Syndrom eine antipsychotische Medikation unumgänglich ist, muss dieser Aspekt berücksichtigt werden, um keine Verschlechterung der Bewegungsstörung zu provozieren.
Frühdyskinesien
Diese treten meist am Beginn einer Behandlung mit hochpotenten Antipsychotika oder bei plötzlicher Dosissteigerung auf. Sie äußern sich als hyperkinetische, dyskinetische oder dystone Bewegungsstörungen v. a. der Hirnnervenmuskulatur und der Halsmuskulatur, aber auch anderer Körperpartien (Blickkrämpfe, Opisthotonus, Schlund- und Zungenkrämpfe). Laryngeale und pharyngeale Spasmen stellen eine Notfallsituation dar. Die intravenöse Gabe von Biperiden führt sicher und schnell zu einer Besserung.
Pharmakogene Parkinson-Syndrome (Parkinsonoide)
Diese manifestieren sich frühestens nach 1- oder 2-wöchiger Behandlungsdauer vorzugsweise mit hochpotenten Substanzen. Sie äußern sich in einer rigorartigen Erhöhung des Muskeltonus, in einer allgemeinen Einschränkung der Motorik (Hypo- und Amimie, Verlust der Mitbewegungen, kleinschrittiger Gang) sowie in Tremor und Salbengesicht. Die Bewegungsarmut kann sich bis zur Akinese steigern und dann zu Verwechslungen mit depressiven Syndromen führen. Beim „Rabbit-Syndrom“ steht ein Tremor der Kau- und Mundmuskulatur im Vordergrund. Durch Dosisreduktion, Umsetzen des Antipsychotikums oder Zugabe anticholinerger Substanzen können Parkinsonoide in der Regel gut beherrscht werden.
Akathisie
Die Akathisie bezeichnet einen als quälend erlebten Drang, umhergehen zu müssen. Es besteht eine Unfähigkeit, ruhig zu stehen, zu sitzen oder zu liegen. Auch hierbei geht oft eine längere Behandlungsdauer mit hochpotenten Substanzen voraus, und eine Besserung kann erreicht werden durch Dosisreduktion, Umsetzen des Antipsychotikums oder entsprechende Komedikation (Propranolol 10–40 mg täglich oder Diazepam 5–20 mg täglich). Eine Verwechslung mit krankheitsbedingter Unruhe muss vermieden werden, da diese ein entgegengesetztes therapeutisches Vorgehen implizieren würde.
Spätdyskinesien (tardive Dyskinesien)
Dabei handelt es sich um eine gefürchtete Komplikation einer Therapie mit Antipsychotika, die in der Regel erst nach vielen Jahren einer Dauerbehandlung mit hochpotenten Substanzen auftritt. Da Spätdyskinesien aber auch nach einer eher sporadischen Anwendung vorkommen können, sollten Antipsychotika nie ohne zwingende Indikation und nur nach entsprechender Aufklärung verordnet werden. Die Symptomatik der tardiven Dyskinesien beginnt meist im Mund- und Zungenbereich und breitet sich über Kopf und distale Extremitäten aus. Damit verbunden ist oft eine Zunahme der Intensität. Risikofaktoren sind Alter, weibliches Geschlecht und zerebrale Vorschädigung. Therapeutisch sollte eine Dosisreduktion oder Umstellung auf eine Substanz mit weniger EPMS erfolgen.
Malignes neuroleptisches Syndrom
Das maligne neuroleptische Syndrom ist eine vergleichsweise seltene, aber in etwa 20 % der Fälle tödlich verlaufende Komplikation einer antipsychotischen Therapie. Auch wenn dem Krankheitsbild oft eine Änderung der Medikation vorausgeht, gilt dies nicht generell. Prinzipiell kommen alle Antipsychotika als Verursacher in Frage, hochpotente Substanzen scheinen jedoch häufiger betroffen zu sein als niederpotente und atypische. Männliches Geschlecht, Alter unter 40 Jahre und begleitende Lithiumtherapie sollen Risikofaktoren darstellen. Innerhalb von einem bis wenigen Tagen treten EPMS auf (meist Rigor und Akinese, aber auch Dys- oder Hyperkinesien), begleitet von Fieber und Stupor. Eine Vielzahl anderer Symptome kann hinzutreten (Leukozytose, Erhöhung der Kreatinkinase, Vigilanzstörung, Leberenzymerhöhung, vegetative Entgleisungen, Myoglobinämie und -urie, metabolische Azidose). Differenzialdiagnosen sind die febrile Katatonie, die maligne Hyperthermie, das L-Dopa-Entzugssyndrom, das Serotoninsyndrom und enzephalitische Krankheitsbilder. Therapeutische Maßnahmen umfassen:
  • unmittelbares Absetzen der antipsychotischen Medikation
  • Fiebersenkung und Flüssigkeitssubstitution
  • Gabe von Dantrolen oral/i. v., Bromocriptin oral und Amantadin oral/i. v.
  • Gabe von Lorazepam i. v.
  • EKT
  • Neueinstellung mit einer anderen möglichst niederpotenten Substanz in oraler Verabreichung (Gefahr eines Rezidivs)

Antidepressiva (Thymoleptika)

Trotz des inzwischen stark erweiterten Indikationsgebietes der Substanzklasse (z. B. Angst- und Zwangsstörungen) hat sich der Begriff Antidepressiva als Name erhalten. Entsprechend der chemischen Struktur und der Wirkungsweise unterscheidet man heute mehrere Klassen von Medikamenten, für die in der folgenden Übersicht einige Beispiele aufgeführt sind.
Antidepressiva: Substanzklassen
  • Trizyklische Antidepressiva (TZA):
    Amitriptylin, Doxepin, Trimipramin, Clomipramin, Nortriptylin, Desipramin, Imipramin
  • Selektive Serotoninrückaufnahmehemmer (SSRI):
    Fluvoxamin, Fluoxetin, Paroxetin, Citalopram, Sertralin
  • Hemmstoffe der Monoaminoxidase (MAOH):
    Moclobemid, Tranylcypromin
  • Sonstige Antidepressiva:
    Mirtazapin, Mianserin, Venlafaxin, Duloxetin, Reboxetin, Agomelatin
Wirkmechanismus
Die Wirksamkeit antidepressiver Substanzen wird nach heutiger Erkenntnis durch eine Verstärkung der serotonergen, noradrenergen und dopaminergen synaptischen Transmission vermittelt. Während z. B. Desipramin, Maprotilin und Nortriptylin hauptsächlich auf das noradrenerge System einwirken, beeinflussen die SSRI und Clomipramin ganz überwiegend das serotonerge System.
Indikation
Neben den Kontraindikationen, den Neben- und Wechselwirkungen gehört das Indikationsgebiet zu den wichtigsten Kriterien bei der Auswahl eines Präparates. Die folgende Übersicht soll eine Hilfe bieten, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.
Antidepressiva: Indikationen
Kontrolluntersuchungen
Therapiebegleitend müssen Kontrolluntersuchungen des Blutbildes, der Leberwerte, des Harnstoffs, des Kreatinins, des Pulses und des Blutdrucks sowie von EEG und EKG erfolgen. Die Korrelation zwischen Serumspiegel und psychotroper Wirkung der Medikamente ist im Allgemeinen leider nicht sehr gut. Trotzdem ist die Bestimmung der Substanzkonzentrationen im Blut ein entscheidendes Hilfsmittel zur Beurteilung der Compliance, zur Vermeidung von Überdosierungen sowie zur Aufdeckung von Wechselwirkungen und Besonderheiten der Metabolisierung.
Kontraindikationen und Nebenwirkungen
Als typische Nebenwirkungen der TZA treten auf: Blutbildveränderungen, Funktionsstörungen der Leber, Senkung der Krampfschwelle, anticholinerge vegetative Beschwerden, delirante Syndrome sowie Gewichtszunahme.
Cave
Antidepressiva sollten nicht angewendet werden bei akuten Intoxikationen und bei bekannter Überempfindlichkeit gegen das Präparat. Bei anticholinerger Wirkkomponente gelten die üblichen Kontraindikationen.
Unter Antidepressiva, die den Antrieb steigern, kann es zu Erregungszuständen kommen, die zu einer Reduktion der Dosis oder zum Umsetzen der Medikation zwingen. Auch kann die antriebssteigernde Wirkung der stimmungsaufhellenden vorausgehen und die Gefahr von Suizidversuchen vorübergehend erhöht sein.
Bei SSRI muss mit Übelkeit, Elektrolytverschiebungen, Schwitzen, sexuellen Funktionsstörungen, gastrointestinalen Störungen und Kopfschmerzen als Nebenwirkungen gerechnet werden. Durch diese sonst eher sicheren Substanzen können starke Wechselwirkungen über das Zytochrom-P450-Isoenzym-System vermittelt werden. Ausnahme hiervon ist Citalopram. Bedingt durch Überdosierung oder ungünstige Kombinationen kann ein serotonerges Syndrom mit psychomotorischer Erregung, delirantem Zustandsbild, autonomen Dysfunktionen und neuromuskulärer Übererregtheit entstehen. Ein sofortiges Absetzen der entsprechenden Substanzen sowie die Einleitung symptomatischer und allgemeinmedizinischer Behandlungsmaßnahmen sind in der Regel ausreichend.
Die Behandlung mit Tranylcypromin (irreversibler nichtselektiver MAOH) sollte dem Facharzt vorbehalten bleiben, da eine Missachtung von Diätvorschriften und bestimmte Medikamentenkombinationen schwerste Blutdruckkrisen hervorrufen können. Eine stationäre Beobachtung ist in solchen Situationen erforderlich. Moclobemid (reversibler selektiver MAOH) kann in üblicher Dosierung ohne Diät verordnet werden. Als unerwünschte Wirkungen können dabei Übelkeit, Schlafstörungen, Angst und Verdauungsbeschwerden auftreten.
Cave
MAOH und serotonerge Substanzen dürfen generell nicht kombiniert werden. Auf die Einhaltung eines freien Intervalls ist zu achten.
In der geriatrischen Anwendung sollten ähnliche Vorsichtsmaßnahmen eingehalten werden wie bei der antipsychotischen Medikation. Depressive Zustände bei Morbus Alzheimer sollten wegen des ohnehin bestehenden cholinergen Defizits nicht mit anticholinerg wirksamen Substanzen behandelt werden.
Obwohl für die verfügbaren Antidepressiva bisher kein teratogenes Risiko sicher nachgewiesen wurde, sollte auf die Einnahme insbesondere im ersten Trimenon verzichtet werden. Bei schweren depressiven Syndromen oder Angsterkrankungen mit möglichen Auswirkungen auf den Fetus und insbesondere bei Suizidalität sollte auf TZA mit geringer anticholinerger Komponente oder EKT ausgewichen werden.

Andere Substanzen

Lithium
Über eine antimanische Wirkung von Lithiumsalzen wurde erstmals 1949 berichtet, der Einsatz in der Phasenprophylaxe wird seit 1960 untersucht. In beiden Indikationsgebieten ist der Nutzen heute unbestritten. Eine Verhütung von Krankheitsphasen kann v. a. bei bipolar und unipolar verlaufenden affektiven Störungen, aber auch bei schizoaffektiven Störungen erwartet werden. Zusätzlich gibt es Hinweise dafür, dass Lithium als Potenzierung der Akutbehandlung von therapieresistenten Depressionen eingesetzt werden kann. Hypothesen über den Wirkmechanismus stützen sich hauptsächlich auf die Beeinflussung der Signaltransduktion in den Nervenzellen. Allerdings fehlt bisher eine plausible Erklärung für die im Laufe eines halben Jahres langsam zunehmende Effektivität der prophylaktischen Wirksamkeit.
Kontraindikationen und Nebenwirkungen
Die wichtigsten Nebenwirkungen einer Therapie mit Lithium sind:
  • Feinschlägiger Tremor (β-Blocker als adjuvante Medikation versuchen)
  • Polydipsie und Polyurie (cave: Gewichtszunahme durch kalorienhaltige Getränke)
  • Euthyreote Struma, selten Hypothyreose
  • EEG- und EKG-Veränderungen
  • Leukozytose
Cave
Lithium sollte nicht angewendet werden bei schweren Erkrankungen der Nieren, des Herzens und des Kreislaufs, bei Störungen des Natriumhaushaltes, bei Addison-Krankheit, im ersten Trimenon der Gravidität sowie in der Stillperiode.
Kontrolluntersuchungen
Parallel zu einer Lithiumtherapie sollten folgende Untersuchungen erfolgen:
  • Serumspiegel von Kreatinin und Lithium alle 3 Monate (12 h nach Einnahme)
  • Körpergewicht und Halsumfang alle 3 Monate
  • Elektrolyte, Kreatininclearance und Schilddrüsenhormone jährlich
  • EEG und EKG jährlich
Zu vermeiden sind Kombinationen von Lithium mit Diuretika (außer Furosemid), mit nichtsteroidalen Antiphlogistika (außer Acetylsalicylsäure) und mit nephrotoxischen Antibiotika. Kombinationen mit ACE-Hemmern oder SSRI müssen vorsichtig erfolgen. Bei Operationen, Änderungen des Flüssigkeitshaushaltes oder der Natriumaufnahme muss auf Anzeichen von Intoxikationen geachtet werden. Für geriatrische Patienten empfiehlt es sich generell, die Serumspiegel niedriger einzustellen als bei jüngeren Personen. Hyperreflexie sollten zu einer Bestimmung des Serumspiegels, zum Absetzen der Medikation und ggf. zu intensivmedizinischen Maßnahmen Anlass geben.
Carbamazepin, Valproinsäure und Lamotrigin
Diese Substanzen werden in der Behandlung bipolarer Erkrankungen eingesetzt. In der phasenprophylaktischen Indikation gibt es in Deutschland eine Zulassung für Carbamazepin, wenn eine Therapie mit Lithium nicht wirksam oder kontraindiziert ist. Valproinsäure ist auch ohne diese Einschränkung zur Prävention depressiver und manischer Episoden und Lamotrigin für die Prävention depressiver Episoden zugelassen.
Wegen häufiger Nebenwirkungen in der Anfangsphase sollte Carbamazepin langsam aufdosiert werden. Aufgrund hämatotoxischer Effekte darf die Substanz nicht mit anderen potenziell knochenmarktoxischen Medikamenten verabreicht werden (cave: Clozapin). Pharmakokinetische und pharmakodynamische Wechselwirkungen sind unter Carbamazepin sehr häufig und können eine zuvor mit Erfolg eingesetzte Substanz praktisch neutralisieren oder ihre Toxizität steigern (cave: Kontrazeptiva, Lithium, Antipsychotika, TZA).
Valproinsäure darf nicht eingesetzt werden bei Funktionsstörungen der Leber und der Bauchspeicheldrüse, bei Niereninsuffizienz und Gerinnungsstörungen. Auf hämatotoxische Effekte ist zu achten.
Unter Carbamazepin und Valproinsäure sollte keine Schwangerschaft eintreten.
Clomethiazol
Seit ihrer Einführung 1963 hat sich die Substanz in der Behandlung deliranter Syndrome insbesondere beim Alkoholentzug durchgesetzt. Sie hat sedierende, hypnotische und antikonvulsive Eigenschaften. Aufgrund der kurzen Halbwertszeit ist sie auch oral gut steuerbar. Wahrscheinlich verstärkt Clomethiazol die inhibitorische Wirkung der Neurotransmitter GABA und Glycin.
Aufgrund schwer kontrollierbarer Wechselwirkungen darf das Präparat nicht mit anderen sedierenden Substanzen kombiniert werden (cave: Alkohol). Außerdem besteht ein erhebliches Abhängigkeitsrisiko. Aus beiden Gründen sollte eine ambulante Medikation nicht durchgeführt und der Einsatz als Hypnotikum vermieden werden. Wegen dämpfender Wirkungen auf Atmung und Kreislauf darf die parenterale Anwendung nur unter intensivmedizinischer Überwachung erfolgen. Vorsicht ist geboten bei Störungen der zentralen Atemregulation sowie bei Bronchial- und Lungenerkrankungen. Die Bronchial- und Speichelsekretion ist erhöht.

Facharztfragen

1.
Welche Einzelmerkmale sollten Sie für einen psychiatrischen Befund erheben?
 
2.
Welche Informationen sind neben dem psychiatrischen Befund zur Einschätzung des Patienten wichtig?
 
3.
Welche Erkrankungen können zu einer Demenz führen und wie lassen sie sich differenzieren?
 
4.
Wie unterscheiden Sie ein Delir und eine Demenz?
 
5.
Mit welchen medikamentösen und nichtmedikamentösen Maßnahmen behandeln Sie eine manische und eine depressive Episode?
 
6.
Wie ist eine schizophrene Störung operationalisiert?
 
Weiterführende Literatur
Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (2016) Manual zur Dokumentation psychiatrischer Befunde, 9. Aufl. Hogrefe, Göttingen
Benkert O, Hippius H (2014) Kompendium der psychiatrischen Pharmakotherapie, 10. Aufl. Springer, Berlin/Heidelberg/New York/Tokio
Berger M (Hrsg) (2014) Psychische Erkrankungen, Klinik und Therapie, 5. Aufl. Urban & Fischer, München
Dilling H, Mombour W, Schmidt MH (2015) Internationale Klassifikation psychischer Störungen: Klinisch-diagnostische Leitlinien, 10. Aufl. Huber, Bern
Ebert D, Loew T (2011) Psychiatrie systematisch, 8. Aufl. Uni-Med, Bremen
Hautzinger M (2013) Kognitive Verhaltenstherapie bei Depressionen, 7. Aufl. Beltz PVU, Weinheim
Huber G (2005) Psychiatrie, 7. Aufl. Schattauer, Stuttgart
Kaplan HI, Sadock BJ (Hrsg) (2009) Comprehensive textbook of psychiatry, 9. Aufl. Lippincott Williams & Wilkins, Baltimore
Möller HJ, Laux G, Kapfhammer HP (Hrsg) (2010) Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 4. Aufl. Springer, Berlin/Heidelberg/New York/Tokio
Schneider F (2012) Facharztwissen Psychiatrie und Psychotherapie. Springer, Berlin/Heidelberg/New York/Tokio
Tölle R, Windgassen K (2014) Psychiatrie, 17. Aufl. Springer, Berlin/Heidelberg/New York/Tokio