Skip to main content
Klinische Neurologie
Info
Publiziert am: 09.06.2018

Multiple Systematrophie

Verfasst von: Michael Schwarz
Als multiple Systematrophie (MSA) bezeichnet man eine sporadische, progrediente neurodegenerative Erkrankung mit in unterschiedlicher Reihenfolge und Kombination auftretenden Symptomen einer Funktionsstörung des autonomen Nervensystems und eines Parkinson-Syndroms (MSA-P) oder einer Kleinhirnerkrankung (MSA-C). So fasst die MSA die Erkrankungen zusammen, die früher als striatonigrale Degeneration, sporadische olivopontozerebelläre Atrophie und Shy-Drager-Syndrom bezeichnet wurden. Etwa 70 % der Patienten zeigen Parkinson-Symptome, die aber nur bei einem Drittel durch Gabe von L-Dopa vorübergehend gebessert werden können.
Als multiple Systematrophie (MSA) bezeichnet man eine sporadische, progrediente neurodegenerative Erkrankung mit in unterschiedlicher Reihenfolge und Kombination auftretenden Symptomen einer Funktionsstörung des autonomen Nervensystems und eines Parkinson-Syndroms (MSA-P) oder einer Kleinhirnerkrankung (MSA-C). So fasst die MSA die Erkrankungen zusammen, die früher als striatonigrale Degeneration, sporadische olivopontozerebelläre Atrophie und Shy-Drager-Syndrom bezeichnet wurden. Etwa 70 % der Patienten zeigen Parkinson-Symptome, die aber nur bei einem Drittel durch Gabe von L-Dopa vorübergehend gebessert werden können.
Häufigkeit und Vorkommen
Verlässliche epidemiologische Daten liegen nicht vor, in Mittel- und Nordeuropa sowie in Nordamerika geht man von einer Prävalenz von 1,9–4,9/100.000 Einwohner aus. Die Erkrankung beginnt nach dem 30. Lebensjahr, ca. 60 % der Patienten erkranken zwischen dem 45. und 60. Lebensjahr, nur jeweils 4 % vor dem 40. und nach dem 70. Lebensjahr. Die Prognose ist ungünstig, die durchschnittliche Erkrankungsdauer beträgt unter Berücksichtigung der initial gelegentlich nicht erkannten autonomen Störungen im Mittel ca. 6–10 Jahre, Verläufe bis 15 Jahre sind möglich. Nach 3 Jahren braucht die Hälfte der Patienten eine Gehhilfe, Rollstuhlpflichtigkeit wird im Mittel nach 5 Jahren erreicht, die MSA-C schreitet etwas langsamer fort. Männer und Frauen sind etwa gleich häufig betroffen.
Pathogenese
Die Ursache der neuronalen Degeneration ist unklar. Neuropathologisch finden sich in variabler Ausprägung eine Gliose und ein neuronaler Zellverlust in der Substantia nigra, dem Striatum, Globus pallidus, Kleinhirn, der unteren Olive, den pontinen Kernen, den kortikospinalen Projektionen sowie der Intermediärzone des Rückenmarks (s. Übersicht). Bei allen Patienten mit MSA sind zytoplasmatische Einschlusskörperchen (α-Synuklein) in der Oligodendroglia nachweisbar. Diese stellen das unverzichtbare neuropathologische Kriterium für die sichere Diagnose dar (bei Morbus Parkinson und Lewy-Körperchen Demenz ist α-Synuklein in Neuronen nachweisbar). Die Ätiologie und Pathogenese der MSA sind unklar. Wahrscheinlich wird das fehlgefaltete α-Synuklein aus den Oligodendrozyten in den Extrazellulärraum freigesetzt, von den Neuronen aufgenommen und dann „prionenartig“ in funktionell verbundene Hirnareale fortgeleitet Es wird eine „glioneuronale“ entzündliche Degeneration diskutiert mit früh gestörter Myelinfunktion und neuronaler Degeneration durch eine retrograde axonale Pathologie.
Klinik
Bei der MSA können Symptome einer Funktionsstörung des autonomen Nervensystems sowie Zeichen eines Parkinson-Syndroms oder einer Kleinhirnerkrankung in unterschiedlicher Reihenfolge und Kombination auftreten. Die MSA fasst solche Patienten zusammen, die früher als striatonigrale Degeneration, sporadische olivopontozerebelläre Atrophie, idiopathische orthostatische Hypotonie und Shy-Drager-Syndrom bezeichnet wurden. Heute differenziert man nach den Leitsymptomen zum Zeitpunkt der Diagnosestellung eine überwiegend parkinsonoide (MSA-P) und eine mehr zerebelläre Verlaufsform (MSA-C). Die Unterscheidung nach autonomen Störungen ist aufgegeben worden, da diese im Krankheitsverlauf extrem selten isoliert auftreten. Deshalb sollte die Diagnose Shy-Drager-Syndrom nicht mehr benutzt werden.
Die Erkrankung beginnt oft mit Störungen des autonomen Nervensystems, die den motorischen Störungen Monate bis Jahre vorausgehen können. Dabei dominieren kardiovaskuläre Störungen, die zu ausgeprägter orthostatischer Hypotonie (RR-Abfall systolisch >30 mmHg, diastolisch >15 mmHg innerhalb von 3 Minuten nach dem Aufstehen aus dem Liegen) und Synkopen führen. Außerdem treten Blasenentleerungsstörungen (Dranginkontinenz) und bei Männern sehr früh Erektions- und Ejakulationsstörungen auf. Allerdings ist die Sensitivität der Erektionsstörungen wegen der zunehmenden Prävalenz im Alter gering, umgekehrt macht eine erhaltene Erektion die Diagnose einer MSA unwahrscheinlich. Bei Frauen besteht eine Hyposensitivität im Genitalbereich. Darüber hinaus kommt es zu Anhidrosis, Raynaud-Phänomenen der Extremitäten (Symptom der „kalten Hände“), Schluckstörungen, „Kleiderbügel-Schmerz“ (Nacken, Schulter), Synkopen, Schwindel, postprandialer Hypotension, Diarrhö oder Obstipation, arterieller Hypertonie im Liegen und in der Nacht, Anisokorie oft aufgrund eines Horner-Syndroms sowie Stridor durch Paresen der Stimmbandabduktoren und Schlaf-Apnoe. Im Terminalstadium sind autonome Funktionsstörungen bei etwa 80 % der Patienten nachweisbar.
Parkinson-Symptome
Bei fast 90 % der Patienten finden sich im fortgeschrittenen Stadium Parkinson-Symptome in Form von Akinese und Rigor, die im Gegensatz zum idiopathischen Parkinson-Syndrom (IPS) meist, aber nicht immer, symmetrisch bilateral auftreten. Ein Ruhetremor ist nur bei 40 % der Patienten zu beobachten, er imponiert lediglich bei <10 % als der für das IPS typische „Pillendrehertremor“. Stattdessen handelt es sich um einen irregulären posturalen Tremor oder Haltetremor oft mit Myoklonus. Relativ charakteristisch ist die geringe Besserung der Symptome unter Gabe von L-Dopa oder Dopaminagonisten. Während sich bei 90 % der Parkinson-Patienten unter dieser Therapie die Symptome deutlich bessern, sprechen nur ca. ein Drittel der MSA-Patienten überhaupt auf diese Therapie an, davon wiederum nur ein Drittel gut und für max. 5 Jahre. Typisch für die MSA sind darüber hinaus spontan und durch geringe L-Dopa-Dosen induzierte Dystonien, bevorzugt im Gesichts- und Halsbereich (Risus sardonicus, tonischer Antecollis), aber auch am Rumpf (Kamptocormie, „Pisa-Syndrom“) sowie Stürze nach vorn und im fortgeschrittenen Stadium eine Dysphagie und Speichelfluss.
Zerebelläre Symptome
Etwa 20 % der Patienten mit MSA bieten zerebelläre Symptome (MSA-C), v. a. eine Gang- und Standataxie, seltener eine Zeigeataxie, einen Blickrichtungsnystagmus, einen Downbeat-Nystagmus und eine gestörte Fixationssuppression des vestibulookulären Reflexes. Außerdem zeigen gerade die Patienten mit MSA-C ein pathologisches Lachen oder Weinen. Stehen zerebelläre Störungen im Vordergrund, ist die Unterscheidung von der idiopathischen zerebellären Ataxie mit rein zerebellärer Symptomatik schwierig. Bei Letzterer bestehen neben dem zerebellären Syndrom oft Sensibilitätsstörungen und keine ausgeprägten autonomen Störungen. Die MSA zeigt dagegen neben einer zerebellären Funktionsstörung autonome Störungen und Parkinson-Symptome.
Weitere Symptome
Pyramidenbahnzeichen entwickeln sich bei etwa 60 % der Patienten, mehr als 90 % zeigen eine REM-Schlaf-Verhaltensstörung. Eine Demenz ist bei der MSA ebensowenig zu beobachten wie optische Halluzinationen. Typisch sind dagegen heftiges Schnarchen sowie eine ausgeprägte Dysarthrophonie. Die früh auftretende Gang- und Standinstabilität mit vermehrten Stürzen nach vorn (innerhalb von 3 Jahren) lässt gelegentlich an eine progressive supranukleäre Blickparese (PSP) denken. Allerdings stürzen PSP-Patienten sehr früh (innerhalb von 6–12 Monaten) im Krankheitsverlauf und meist nach hinten. Außerdem gehört die für die PSP typische horizontale oder vertikale Blickparese nicht zu den Symptomen einer MSA. Typisch für die MSA ist ein Antecollis, für die PSP ein Retrocollis.
Abgrenzung gegenüber dem IPS
Im Verlauf entwickeln ca. 90 % der Patienten mit MSA ein Parkinson-Syndrom. Im Terminalstadium ist die Abgrenzung vom IPS einfach. Viele MSA-Patienten zeigen ein sog. „full-house“, d. h. gleichzeitiges Auftreten von Parkinson- und Kleinhirnsymptomen, autonomen Funktionsstörungen und Pyramidenbahnzeichen. Zu Beginn der Erkrankung ist die Differenzialdiagnose oft schwierig. Hier ist besonders auf die früh auftretenden autonomen Störungen und Stürze nach vorn, den selten auftretenden Ruhetremor, die begleitende zerebelläre Funktionsstörung, die früh auftretende Dysarthrophonie, den Antecollis und die relativ schlechte Ansprechbarkeit auf eine L-Dopa-Therapie zu achten (s. Übersicht).
Diagnostik
Voraussetzung für die Diagnose einer MSA ist eine unauffällige Familienanamnese. Gesichert werden kann die Diagnose nur post mortem durch den Nachweis intrazellulärer oligodendroglialer Einschlusskörperchen sowie den Nachweis eines Neuronenverlustes und einer Gliose in striatonigralen oder olivopontozerebellären Strukturen (s. Übersicht; Trojanowski und Revesz 2007).
Als klinisch wahrscheinlich gilt eine MSA, wenn autonome Störungen (ausgeprägte orthostatische Dysfunktion und Blasen-/Erektionsstörungen) mit einem schlecht auf L-Dopa ansprechenden Parkinson-Syndrom oder zerebellären Störungen assoziiert sind (s. Übersicht).
Als klinisch möglich ist eine MSA anzunehmen, wenn zusätzlich zu einem Parkinson-Syndrom oder zerebellären Störungen mindestens eine autonome Funktionsstörung sowie eine weitere Störung (s. Übersicht) auftreten ( Tab. 1).
Tab. 1
Klinische Kriterien, die bei einem Parkinsonismus eher für oder gegen die Diagnose einer MSA sprechen. (Nach Gilman et al. 2008; Köllensperger et al. 2008)
Pro
Kontra
Frühe Stürze (erste 3 Jahre)
Pillendreh-Ruhetremor
Orofaziale Dystonie, ausgeprägter Antecollis
Klinisch signifikante Neuropathie
Kamptokormie und/oder Pisa-Syndrom
Nichtmedikamentös induzierte Halluzinationen
Kontrakturen an Händen und Füssen
Beginn nach dem 75. Lebensjahr
Inspiratorischer Stridor
Familienanamnese für Ataxie und Parkinson
Schwere Dysphonie
Schwere Dysarthrie, Dysphagie
Marklagerläsionen wie bei multipler Sklerose
Neu aufgetretenes oder verstärktes Schnarchen
 
Kalte Hände und Füße
 
Pathologisches Lachen oder Weinen
 
Irregulärer myokloner Haltungs-/Aktionstremor
 
Pathologische Kriterien für die Diagnose einer sicheren MSA (nach Trojanowski und Revesz 2007)
1.
Zytoplasmatische oligodendrogliale α-Synuklein-positive Einschlusskörperchen (notwendige Bedingung)
plus
 
2.
Neuronenverlust und Gliose in striatonigralen oder olivopontozerebellären Strukturen
 
Klinische Kriterien für die Diagnose einer wahrscheinlichen MSA (nach Gilman et al. 2008)
Sporadische Erkrankung mit Beginn nach dem 30. Lebensjahr mit:
I.
autonomen Störungen:
1.
Urininkontinenz (Unfähigkeit, die Blasenentleerung zu kontrollieren; bei Männern mit erektiler Dysfunktion) oder
 
2.
orthostatischem Blutdruckabfall (systolisch 30 mmHg, diastolisch 15 mmHg) innerhalb von 3 min Stehen nach vorherigem Liegen von mindestens 3 min
 
und
 
II.
schlecht auf L-Dopa ansprechendem Parkinsonismus (MSA-P)
Bradykinesie mit Rigor und posturaler Instabilität
oder
 
III.
zerebellärem Syndrom (MSA-C)
Gangataxie mit zerebellärer Dysarthrie, Extremitätenataxie oder zerebellärer Blickmotorikstörung
 
Klinische Kriterien für die Diagnose einer möglichen MSA (nach Gilman et al. 2008)
Sporadische Erkrankung mit Beginn nach dem 30. Lebensjahr mit:
I.
Parkinsonismus (MSA-P)
Bradykinesie mit Rigor und posturaler Instabilität
oder
 
II.
zerebellärem Syndrom (MSA-C)
Gangataxie mit zerebellärer Dysarthrie, Extremitätenataxie oder zerebellärer Blickmotorikstörung
und
 
III.
mindestens einem Hinweis auf autonome Störungen:
1.
anderweitig nicht erklärbare Dranginkontinenz
 
2.
häufige oder inkomplette Blasenentleerung
 
4.
signifikanter orthostatischer Blutdruckabfall, der geringer ist als für die Diagnose einer wahrscheinlichen MSA gefordert (systolisch <30 mmHg, diastolisch <15 mmHg)
 
und
 
IV.
mindestens einem Symptom aus der Übersicht der zusätzlichen klinischen Kriterien
 
Zusätzliche klinische Kriterien, die auf eine mögliche MSA hinweisen (nach Gilman et al. 2008)
  • Mögliche MSA-P oder MSA-C
    • Babinski, Reflexsteigerung
    • Stridor
  • Mögliche MSA-P
    • Rasch fortschreitender Parkinson
    • Schlechtes Ansprechen auf L-Dopa
    • Stürze innerhalb von 3 Jahren nach Beginn der motorischen Symptome
    • Gangataxie, zerebelläre Dysarthrie, Extremitätenataxie, zerebelläre Blickmotorikstörung
    • Dysphagie innerhalb von 5 Jahren nach Beginn der motorischen Symptome
    • Im MRT Atrophie von Putamen, mittlerem Kleinhirnstiel, Pons oder Kleinhirn
    • Im FDG-Positronenemissionstomogramm (PET) Hypometabolismus im Putamen, Hirnstamm oder Kleinhirn
  • Mögliche MSA-C
    • Parkinson
    • Im MRT Atrophie von Putamen, mittlerem Kleinhirnstiel oder Pons
    • Im FDG-PET Hypometabolismus im Putamen
    • Im Single-Photon-Emissionscomputertomogramm (SPECT) oder PET präsynaptische nigrostriatale Denervierung
Zusatzuntersuchungen
Störungen der autonomen Funktion sind in einer Reihe von Zusatzuntersuchungen nachweisbar, können in ähnlicher Weise allerdings auch bei Parkinson-Patienten vorliegen. Der Nachweis von >100 ml Restharnvolumen gelingt bei 55 % der MSA-Patienten und ist damit nicht ausreichend sensitiv. Urodynamisch finden sich ein hyperaktiver M. detrusor vesicae, eine Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie oder eine atone Blase. Wegen der erhaltenen postganglionären Sympathikusneurone ist die Anreicherung über dem Herzen beim [123J]-Metaiodobenzylguanidin-SPECT im Gegensatz zum IPS normal und erlaubt eine Differenzierung mit einer Sensitivität von 90 % und einer Spezifität von 95 % (Braune et al. 1999). Allerdings fand eine PET-Untersuchung mit [11C]-Hydroxyephedrin eine kardiale Denervierung auch bei MSA-Patienten (Raffel et al. 2006). Der in den späten Phasen II und IV beim Vasalva-Manöver beobachtete Blutdruckanstieg fehlt bei der MSA. In der 24-Stunden-Blutdruckmessung findet sich keine nächtliche Blutdrucksenkung, sondern eine Blutdruckerhöhung. Die Videofluoroskopie zeigt beim Schlucken eine stille Aspiration, die Polysomnografie oft eine Schlaf-Apnoe.
Während die kraniale CT meist unauffällig ist, zeigt die kraniale Kernspintomografie bei der MSA-P im T1-gewichteten Bild (1,5 T) eine Atrophie des Putamen, des Pons und des mittleren Kleinhirnstiels, bei einigen Patienten im T2-gewichteten Bild eine Hypointensität im posterioren Putamen und eine Hyperintensität am Übergang vom Putamen zum Klaustrum („putaminal rim sign“) und am Kleinhirnstiel sowie bei der MSA-C ein hyperintenses sog. „Semmelzeichen“ („hot-cross-bun sign“) im Hirnstamm, Letzteres als Ausdruck der Hirnstammatrophie (Brooks und Seppi 2009). Beide Zeichen haben eine hohe Spezifität, aber nur geringe Sensitivität. Die Diffusionswichtung zeigt darüber hinaus Auffälligkeiten im Putamen (MSA-P) und mittleren Kleinhirnstiel (MSA-C) (Schocke et al. 2002) mit hoher Sensitivität und Spezifität. Die Kombination aus Hypointensität im Putamen im T2*-gewichteten Gradientenecho und Hyperintensität am Übergang von Putamen zum Klaustrum in der FLAIR-Sequenz scheint eine besonders hohe Spezifität für die MSA zu bieten.
Die SPECT mit dem Dopamintransporter [123J]FP-CIT(DaTSCANTM) zeigt sowohl beim IPS als auch bei der MSA-P eine Beeinträchtigung des nigrostriatalen Systems und erlaubt damit keine Unterscheidung. Eine verminderte dopaminerge nigrostriatale Transmission bei einer zerebellären Ataxie ist ein starker Hinweis auf eine MSA-C. Im SPECT mit dem D2-Rezeptorliganden [123J]-Iodobenzamid findet sich bei der MSA-P im Vergleich zu Normalpersonen und IPS eine Abnahme der putaminalen Dopaminrezeptoren. Allerdings bietet diese Untersuchung keine überzeugende diagnostische Sicherheit. So zeigen ca. ein Drittel der MSA-Patienten in dieser Untersuchung einen Normalbefund und auch Patienten mit PSP pathologische Resultate. Das [18F]-Fluorodeoxyglucose-PET zeigt im Gegensatz zum IPS bei Patienten mit MSA einen Hypometabolismus im Putamen, Hirnstamm oder Zerebellum. Dieser Befund gehört zu den die Diagnose einer möglichen MSA unterstützenden Kriterien.
In der transkraniellen Sonografie des Hirnparenchyms findet sich im Gegensatz zum IPS eine normale Echogenität der Substantia nigra bei gleichzeitiger Hyperechogenität im Nucleus lentiformis (Walter et al. 2007). Dieser Befund liegt auch bei PSP vor.
Die akustisch evozierten Hirnstammpotenziale zeigen bei einigen Patienten eine Amplitudenreduktion der Welle V. Ein pathologisches EMG des M. sphincter ani wird oft abgeleitet, besitzt aber nur innerhalb von 5 Jahren nach Erkrankungsbeginn eine gewisse Spezifität und wird auch bei der progressiven supranukleären Blickparese beobachtet.
Multiple Systematrophie
Im Alter von 65 Jahren stellte sich der Patient wegen eines seit einigen Monaten bemerkten rechts betonten akinetisch-rigiden Parkinson-Syndroms vor. Auf Nachfragen berichtete er über eine seit einem Jahr bestehende erektile Dysfunktion. Das Parkinson-Syndrom sprach zunächst gut auf die Gabe von Ropinirol und Levodopa an, wurde aber nach 1,5 Jahren kompliziert durch eine Urge-Inkontinenz, Dysarthrie und Stürze v. a. nach vorn. In dieser Zeit wurde Levodopa trotz Erhöhung der Tagesdosis auf 1000 mg wirkungslos. Nach einem weiteren halben Jahr verschlimmerte sich die posturale Instabilität mit wiederholten z. T. schweren Stürzen v. a. beim Aufstehen und Umdrehen. Im Schellong-Test betrug der systolische Blutdruckabfall 40 mmHg. Wegen der Inkontinenz wurde ein suprapubischer Blasenkatheter notwendig. Nach 4 Jahren Krankheitsdauer verstarb der Patient an einer schweren Aspirationspneumonie mit Sepsis.
Therapie
Krankheitsmodifizierende Therapie
Lediglich eine kleine monozentrische Studie mit i. a. Gabe von mesenchymalen Stammzellen zeigte eine gewisse krankheitsmodulierende Wirkung. Versuche, das Fortschreiten der Erkrankung durch Blockade der α-Synuklein-Aggregation (Rifampicin, Lithium), durch Neuroprotektion (Riluzol, Rasagilin, Wachstumsfaktor) oder Hemmung der glialen Neuroinflammation (Minocyclin) zu verlangsamen, waren bisher erfolglos.
Symptomatische Therapie
Parkinson-Symptome
Bei der medikamentösen Therapie steht die Behandlung der Parkinson-Symptome im Vordergrund. Wegen des Untergangs der striatalen Neurone mit Verlust der Dopaminrezeptoren ist das therapeutische Ansprechen auf L-Dopa oder Dopaminagonisten eher schlecht, obwohl im Frühstadium ca. ein Drittel der Patienten mit MSA von dieser Therapie profitieren. Der Effekt ist transient und im fortgeschrittenen Stadium zeigen ca. 90 % keine Wirkung. Dopaminagonisten sind nicht effektiver als L-Dopa und werden wegen ihrer orthostatischen Nebenwirkungen schlecht toleriert. Die Ansprechbarkeit auf L-Dopa oder Dopaminagonisten ist nicht zur Abgrenzung gegenüber dem IPS geeignet. Diese Medikamente können einerseits die autonome Dysregulation verstärken und führen andererseits oft schon in niedriger Dosierung zu atypischen, v. a. orofazialen Dyskinesien und Dystonien, Antecollis und Stridor. Motorische Fluktuationen und psychiatrische Nebenwirkungen werden dagegen seltener beobachtet. Wenn von Seiten der autonomen Dysfunktion und der Dyskinesien verträglich, sollte L-Dopa einschleichend in Dosen bis 1000 mg/Tag über 3 Monate eingesetzt werden. Die zusätzliche Gabe von Domperidon ist unter engmaschigen EKG-Kontrollen zu erwägen, um die Verschlechterung der orthostatischen Hypotension zu vermeiden.
Während die Wirksamkeit von Amantadin umstritten ist, bessert Paroxetin in sehr hohen Dosen (90 mg/Tag) die motorischen Symptome marginal. Lokale Injektionen von Botulinumtoxin A können die Dystonie bessern, Clonazepam den Myoklonus.
Zerebelläre Funktionsstörungen
Die zerebellären Funktionsstörungen sind medikamentös nicht zu bessern.
Autonome Störungen
Zur Behandlung der autonomen Störungen stehen bei der orthostatischen Hypotension nichtmedikamentöse Maßnahmen im Vordergrund.
Therapieempfehlungen
  • Nichtmedikamentöse Maßnahmen:
    • Stützstrümpfe
    • kochsalzreiche Ernährung (>3 g/Tag)
    • viele kleine Mahlzeiten
    • >2 l Flüssigkeit/Tag
    • Kopfhochlagerung in der Nacht (10–20°)
    • Kreuzen der Beine
    • langsames Aufstehen
    • Vermeiden hoher Außentemperaturen
  • Medikamentös haben sich als hilfreich Fludrocortison (0,1–0,3 mg/Tag) evtl. ergänzt um Midodrin (3-mal 2,5–10 mg/Tag) erwiesen. Das in Deutschland nicht zugelassene Droxidopa hat in mehreren Studien eine gute Wirksamkeit gegen orthostatische Hypotension bewiesen.
  • Der während des Liegens v. a. nachts beobachtete paradoxe arterielle Hypertonus erfordert die Gabe von kurz wirksamen Blutdrucksenkern.
  • Unbedingt zu vermeiden sind die in der Urologie bei erhöhtem Blasensphinktertonus oft verordneten α1-Rezeptoren-Blocker wegen der Verstärkung der orthostatischen Dysregulation. Zur Behandlung des hyperaktiven Harnblasendetrusors sollten Anticholinergika mit geringer zentralnervöser Nebenwirkung verordnet werden (z. B. Trospiumchlorid 3-mal 15 mg/Tag; Solifenacin 1-mal 5–10 mg/Tag). Auch Injektionen von Botulinumtoxin A in den Detrusor können versucht werden. Bei Restharn >100 ml erfolgt intermittierende Einmalkatheterisierung oder Anlage eines suprapubischen Blasenkatheters. Leichte Kopfhochlagerung kann die Nykturie bessern.
  • Bei inspiratorischem Stridor oder Schlafapnoe ist CPAP-Maskenbeatmung die Therapie der Wahl, bei der REM-Schlaf-Verhaltensstörung niedrige Dosen von Clonazepam.
  • Therapie der Wahl bei erektiler Dysfunktion sind Tadalafil oder Sildenafil.

Facharztfragen

1.
Welche klinischen Symptome machen eine Multisystematrophie wahrscheinlich?
 
2.
Welche Symptome sind nützlich zur differenzialdiagnostischen Abgrenzung vom idiopathischen Parkinson-Syndrom und von der supranukleären Blickparese?
 
3.
Welchen Stellenwert hat die Zusatzdiagnostik für die Diagnose einer Multisystematrophie?
 
4.
Welche Therapiemöglichkeiten bestehen bei einer Multisystematrophie?
 
Literatur
Zitierte Literatur
Braune S, Reinhardt M, Schnitzer R et al (1999) Cardiac uptake of [123J] MIBG separates Parkinson’s disease from multiple system atrophy. Neurology 53:1020–1025CrossRef
Brooks DJ, Seppi K (2009) Proposed neuroimaging criteria for the diagnosis of multiple system atrophy. Mov Disord 24:949–964CrossRef
Gilman S, Wenning GK, Low PA et al (2008) Second consensus statement on the diagnosis of multiple system atrophy. Neurology 71:670–676CrossRef
Köllensperger M, Geser F, Seppi K et al (2008) Red flags for multiple system atrophy. Mov Disord 23:1093–1099CrossRef
Raffel DM, Koeppe RA, Little R et al (2006) PET measurement of cardiac and nigrostriatal denervation in Parkinsonian syndromes. J Nucl Med 47:1769–1777PubMed
Schocke MF, Seppi K, Esterhammer R et al (2002) Diffusion-weighted MRI differentiates the Parkinson variant of multiple system atrophy from PD. Neurology 58:575–580CrossRef
Trojanowski JQ, Revesz T, Neuropathology Working Group on MSA (2007) Proposed neuropathological criteria for the post mortem diagnosis of multiple system atrophy. Neuropathol Appl Neurobiol 33:615–620CrossRef
Walter U, Dressler D, Probst T et al (2007) Transcranial brain sonography findings in discriminating between Parkinsonism and idiopathic Parkinson disease. Arch Neurol 64:1635–1640CrossRef
Weiterführende Literatur
Fannciulli A, Wenning GK (2015) Multiple-system atrophy. N Engl J Med 372:249–263CrossRef
Jellinger KA, Wenning GK (2016) Multiple system atrophy: pathogenetic mechanisms and biomarkers. J Neural Transm 123:555–572CrossRef
Krismer F, Wenning GK (2017) Multiple system atrophy: insights into a rare and debilitating movement disorder. Nat Rev Neurol 13:232–243CrossRef
Wenning GK, Geser F, Krismer F (2013) The natural history of multiple system atrophy: a prospective European cohort study. Lancet Neurol 12:264–274CrossRef