In Deutschland sind etwa 2–2,5 Mio. Menschen alkoholkrank, d. h., sie zeigen ein abnormes Trinkverhalten und eine psychische Abhängigkeit mit Kontrollverlust und Verengung des Denkens sowie eine Toleranzsteigerung. Bei Alkoholkarenz führen dann die körperlichen Entzugssymptome oft zur klinischen Diagnose. Die soziale Position ist im Frühstadium häufig noch nicht gefährdet, das Vollbild ist allerdings nicht mit einer normalen Lebensführung zu vereinbaren. Zur Suchtproblematik und Therapie verweisen wir auf die psychiatrische Literatur. Jährlich sterben etwa 50.000 Menschen an den Folgen des
Alkoholismus. Die Ursachen sind neben den internistischen Komplikationen (z. B. Leberschädigung, Ulkus, Zieve-Syndrom,
Pankreatitis,
Kardiomyopathie) die neurologischen Folgeerkrankungen, die etwa bei jedem fünften Patienten auftreten. Am häufigsten ist das Alkoholentzugsdelir; etwa 15 % der Erkrankten machen während ihrer Suchtkarriere einmal oder mehrfach diesen potenziell lebensbedrohlichen Zustand durch.
Alkoholfolgeerkrankungen des zentralen Nervensystems
Epileptische Anfälle
Bei bekanntem
Alkoholismus ist ein Grand-Mal-Anfall
manchmal erstes Symptom eines Entzugs und markiert bei fortgesetzter Abstinenz meist den Beginn eines Delirs. Insbesondere im Delir treten Grand-Mal-Anfälle sehr häufig auf. Die Verhaltensmaßregeln beim einzelnen Anfall entsprechen denen generalisierter Anfälle im Allgemeinen, bei postiktal auftretenden Zeichen eines Prädelirs/Delirs wird jedoch eine symptomatische Delirbehandlung notwendig, die mit einer antikonvulsiven Behandlung einhergeht. Es muss jedoch auch an seltenere alkoholassoziierte Erkrankungen wie z. B. das Marchiafava-Bignami-Syndrom gedacht werden, deren Erstmanifestation Krampfanfälle sein können.
Die alkoholbedingte Spätepilepsie nach jahre- bis jahrzehntelangem Alkoholabusus ist am ehesten durch eine diffuse Hirnparenchymschädigung bedingt. Eine
antikonvulsive Therapie ist nur bei strikter Alkoholabstinenz sinnvoll, da nur dann eine ausreichende
Compliance mit regelmäßiger Einnahme und ärztlicher Überwachung gewährleistet ist, eine Verschlechterung der Leberfunktion mit konsekutiver
hepatischer Enzephalopathie weniger wahrscheinlich ist und die alkoholbedingte Hirnatrophie evtl. reversibel, unter Abstinenz zumindest nicht progredient ist. In der Praxis ist zum Zeitpunkt der Spätepilepsie aber meist eine strikte Abstinenz des Patienten nicht mehr zu erzielen.
Alkoholentzugsdelir
Bei jedem
Delir, gleich welcher Ätiologie, handelt es sich stets um einen potenziell lebensbedrohlichen Zustand. Neben dem Alkoholentzug sind als auslösende Faktoren das Absetzen von Sedativa, Parkinson-Therapeutika, Kortikosteroiden, Antibiotika und andere bekannt (s. Übersicht); die Symptomatik lässt kaum Rückschlüsse auf das auslösende Agens zu. Das Alkohol(entzugs)delir wird nach plötzlicher Abstinenz (z. B. bei Unfällen oder Erkrankungen) oder durch relativen Alkoholentzug bei Infektionskrankheiten nach 2–3 Tagen bei zugrunde liegendem, mindestens monatelangem Alkoholabusus hervorgerufen und es wird von bis zu 15 % aller Alkoholiker einmal durchgemacht.
Während ein unkompliziertes vegetatives Entzugssyndrom auch auf einer Normalstation unter Überwachung medikamentös behandelbar ist, muss das Vollbild eines Delirs stets intensivmedizinisch betreut werden.
Zu den allgemeinen Maßnahmen zählt neben der
Stressulkusprophylaxe die reichliche Flüssigkeitszufuhr, da der Patient durch vermehrtes Schwitzen bei der oft erheblichen Hyperthermie einen stark erhöhten Flüssigkeitsbedarf aufweist. Damit gehen oft
Elektrolytstörungen einher, deren Korrektur behutsam erfolgen sollte (Cave:
zentrale pontine Myelinolyse). Die prophylaktische Gabe von
Magnesium oral oder intravenös unter Serumspiegelkontrolle soll zur Kupierung eines leicht ausgeprägten Delirs bereits ausreichen. Zur Prophylaxe einer Wernicke-Enzephalopathie muss eine parenterale Substitution von Vitamin B
1 erfolgen; bei häufig bestehenden gastrointestinalen Erkrankungen ist die orale Applikation zu unsicher. Tachykardie und Tremor können symptomatisch mit β-Blockern behandelt werden.
Vor allem bei medikamentöser Therapie muss eine ständige EKG-Ableitung sowie die Kontrolle der Atemfunktion gewährleistet sein.
Eine weitere wichtige Nebenwirkung ist die Verstärkung der Bronchialsekretion, sodass wegen der zusätzlichen Atemdepression häufig abgesaugt und frühzeitig die Indikation zur Intubation gestellt werden muss. Insbesondere in dieser Phase droht bei i.v.-Gabe eine Hypotonie, die zusammen mit den Flüssigkeitsverlusten durch Schwitzen und Hyperthermie und der Atemdepression zu
Hypovolämie und kombiniertem Herz-Kreislauf-Versagen führen kann. Bei komplikationslosem Verlauf und rückläufiger vegetativer Symptomatik kann nach 2–3 Tagen auf orale Gabe umgestellt werden.
Wernicke-Enzephalopathie und Korsakow-Psychose
Die Wernicke-Enzephalopathie
(Polioencephalitis haemorrhagica superior) und die Korsakow-Psychose gelten heute als akute bzw. chronische Verlaufsform derselben Krankheitsentität, treten jedoch häufig isoliert auf. Sie können aus einem Delir hervorgehen, aber in der Regel entwickeln sie sich eigenständig bei einem vorbestehenden Alkoholabusus. Die klinische Diagnose wird wegen oligosymptomatischer Formen nur in etwa 20 % gestellt, dementsprechend finden sich noch heute viele schwere und fatale, weil über längere Zeit unerkannte Verläufe.
Zentrale pontine Myelinolyse
Die
zentrale pontine Myelinolyse galt lange Zeit als Erkrankung mit infauster Prognose, heute werden dagegen mit der MRT auch leichtere Verläufe diagnostiziert, sodass therapeutischer Nihilismus nicht mehr angezeigt ist.
Subdurales Hämatom
Alkoholismus ist für die Entwicklung subduraler Hämatome
ebenso wie höheres Lebensalter und Stoffwechsel- oder Gefäßerkrankungen ein Risikofaktor. Zum einen sind Kopftraumata in dieser Gruppe häufiger, zweitens bestehen oft hepatogene Gerinnungsstörungen und nicht zuletzt wird auch dem oft begleitenden Vitamin-B1-Mangel eine pathogenetische Rolle zugesprochen. Es sei insbesondere auf die diagnostischen Schwierigkeiten hingewiesen, die durch die Symptomverschleierung bei gleichzeitigem Delir oder anderen Alkoholfolgekrankheiten entstehen. Gerade beim chronischen bilateralen subduralen Hämatom sind Symptome wie Antriebsmangel lange unspezifisch. Daraus resultiert, dass die Indikation zu einem CT bei einem alkoholisierten oder bei einem alkoholabhängigen Patienten bei unklarer Situation großzügig zu stellen ist. Eine Röntgenaufnahme des Schädels in 2 Ebenen stellt in dieser Situation keine ausreichende diagnostische Maßnahme dar.
Die in älteren Lehrbüchern noch abgegrenzte Pachymeningeosis haemorrhagica interna stellt keine eigenständige nosologische Einheit dar.
Zerebelläre und zerebrale Atrophie
Der chronische Alkoholkonsum kann zu einer Atrophie des Kleinhirns führen, die von großer klinischer Bedeutung ist. Das Kleinhirn kann isoliert oder auch zusammen mit dem Großhirn betroffen sein.
Klinik
Alkoholische Polyneuropathie
An dieser häufigsten Alkoholfolgeerkrankung leiden etwa 15–40 % aller Alkoholiker; neben dem
Diabetes mellitus ist der chronische Alkoholabusus wichtigste Ursache von
Polyneuropathien.
Alkoholmyopathien
Es werden drei Formen der Alkoholmyopathie
unterschieden:
Weitere seltene Alkoholfolgeerkrankungen
Alkoholhalluzinose
Erst nach jahrelangem schwerem Alkoholabusus wird die seltene
Alkoholhalluzinose beobachtet. Meist nach 1- bis 2-wöchiger Abstinenz nach einem Trinkexzess treten v. a. nachts akustische Halluzinationen mit bedrohlichem Charakter (Beschimpfungen, Anklagen, Chöre u. a.) auf, die die Patienten zutiefst verunsichern, sodass sie sich zurückziehen und in Depression, Angst oder Panik verfallen. Wie beim pathologischen Rausch fehlen auch hier alle vegetativen oder zerebellären Symptome. Die Halluzinose dauert zwischen wenigen Tagen und einigen Wochen und nimmt in etwa 20 % einen chronischen Verlauf, bis sie einer chronischen Schizophrenie ähnelt.
Tabak-Alkohol-Amblyopie
Es handelt sich um eine Optikusneuropathie, die isoliert oder in Verbindung mit einer
funikulären Myelose auftreten kann. Hierbei kommt es durch Mangel bzw. unzureichende Resorption von Vitamin B
12 und anderen B-Vitaminen sowie durch noch nicht identifizierte Inhaltsstoffe des Tabaks innerhalb von Tagen bis zu wenigen Wochen zu einer Demyelinisierung der zentralen Fasern des N. opticus, was zu einer Visusabnahme mit Zentralskotom und fundoskopisch temporal abgeblassten Papillen führt. Falls die Symptomatik nicht bereits zu lange besteht, erbringt die parenterale Gabe von Vitamin-B-Komplex eine deutliche Besserung des Visus.
Marchiafava-Bignami-Erkrankung
Die Marchiafava-Bignami-Erkrankung
tritt nach jahrelangem, starkem Konsum von Rotwein auf, womöglich durch Cyanide oder eine Störung im Vitamin-B12-Stoffwechsel. Es kommt zu einer Nekrose von Teilen des Corpus callosum mit einer begleitenden kortikalen Sklerose. Beim akuten Auftreten innerhalb von Tagen zeigt sich eine Vielzahl von Symptomen wechselnden Ausmaßes, sodass die klinische Diagnose schwierig ist: Im Vordergrund stehen Spastik, Tremor, epileptische Anfälle, eine progressive Demenz sowie Dysarthrie und Abasie. Selten kommt es zu Remissionen oder einem schubweisen Verlauf, in der Regel führt die Krankheit mangels adäquater Therapie zum Tod (Brion 1976).
Beeinträchtigung der Immunkompetenz
Chronischer Alkoholabusus führt zu einer Schwächung der Abwehrlage. Dies begünstigt das Auftreten anderer Erkrankungen, ohne dass diese im engeren Sinne zu den Alkoholfolgeerkrankungen gezählt würden. Dennoch ist es wichtig, im Kontext eines alkoholabhängigen Patienten an diese Erkrankungen zu denken: So kann eine Pneumokokken-Meningitis oder eine
tuberkulöse Meningitis häufiger bei Alkoholikern auftreten. Auch der epidurale Abzess ist bei Alkoholikern häufiger. Es handelt sich dabei um Erkrankungen, deren Diagnose im Kontext mit einem Alkoholproblem nicht selten verspätet gestellt wird mit für den Patienten schweren Folgen.
Alkoholembryopathie
Schon bei „mäßigem“ Alkoholkonsum während der Schwangerschaft besteht die Gefahr der intrauterinen Schädigung des Embryos. Bei dieser sehr häufigen, in ihrer Ausprägung sehr variablen Embryopathie (bis zu 60.000 Neugeborene/Jahr) weisen die betroffenen Kinder oft typische Stigmata auf: Neben abfallenden Lidspalten, schmaler Oberlippe und
Epikanthus besteht häufig ein
Mikrozephalus mit einem Hydrocephalus internus. Später zeigen sich ein geistiger und körperlicher Entwicklungsrückstand sowie oft auch kardiale Missbildungen. Die Therapie muss sich symptomatisch auf allgemeine Förderungsmaßnahmen, Ergotherapie und Krankengymnastik beschränken.
Facharztfragen
1.
Was ist die Definition des pathologischen Rausches?
2.
Ist chronischer Alkoholabusus die einzige Ursache für ein
Delir, oder welche anderen Ursachen gibt es noch?
3.
Welches sind die potenziellen Komplikationen einer intravenösen Behandlung mit Clomethiazol?
4.
Mit welchen Maßnahmen kann man das Auftreten einer pontinen Myelinolyse verhindern?
5.
Wie sieht bei der
alkoholischen Kleinhirnatrophie genau das neurologische Syndrom aus? Wie kann man es von anderen Kleinhirnatrophien klinisch differenzieren? Welcher Teil des Kleinhirns ist besonders stark betroffen?