Physiologie
Die primäre Funktion von Augenbewegungen
(Kömpf und Heide
2000) ist es, durch stabile Positionierung der Abbilder der visuellen Welt auf der Netzhaut einen ungestörten Sehvorgang und eine konstante Raumwahrnehmung zu ermöglichen. Es müssen
zwei Ziele erreicht werden: erstens extrafoveale retinale Bilder von Blickzielen auf die Stelle des schärfsten Sehens, die Fovea (die zentralen 0,8° des Gesichtsfeldes), binokulär zu zentrieren und zweitens sie dort fixiert zu halten, d. h. auch bei Eigen- oder Umweltbewegungen retinale Bildverschiebungen zu vermeiden, die bei mehr als 2–4°/s für die Sehschärfe relevant werden. Dafür stehen zwei prinzipielle Bewegungsmodalitäten – schnelle und langsame Augenbewegungen – sowie 6 okulomotorische Subsysteme zur Verfügung:
Klinik und Diagnostik gestörter Augenbewegungen
Grundsätzlich unterscheidet man
konjugierte von
diskonjugierten Augenbewegungsstörungen. Bei den konjugierten Störungen sind die Bewegungen beider Augen in gleicher Weise und gleichem Ausmaß betroffen, der Patient nimmt keine Doppelbilder wahr, und die verantwortliche Läsion ist supranukleär im ZNS lokalisiert. Diskonjugierte
Augenbewegungsstörungen betreffen beide Augen in unterschiedlichem Ausmaß und führen meist zu Doppelbildwahrnehmungen und Fehlstellungen (Strabismus). Die verantwortliche Läsion ist entweder peripher im Bereich der okulomotorischen Hirnnerven bzw. der Augenmuskeln lokalisiert oder zentral im Hirnstamm bzw. im Vergenzsystem (Huber und Kömpf
1998; Leigh und Zee
2015; Thömke
2016).
Im Einzelnen erfordert der klinische Untersuchungsgang die folgenden Schritte (Heide
1998a; Strupp et al.
2014):
Spontane Augenstellung und allgemeine Bulbusmotilität
Bei der spontanen Augenstellung achtet man auf die Primärposition von Augen- und Kopfhaltung. Zunächst wird beurteilt, ob ein Exophthalmus vorliegt. Dabei steht der Untersucher über dem sitzenden Patienten und beurteilt von oben den Brauen-Wimpern-Abstand (Kap. „Augenbewegungsstörungen“). Die normale Position des Hornhautscheitels in Bezug auf den seitlichen Orbitarand beträgt 14–21 mm, bei der schwarzen Bevölkerung kann sie etwas darüber liegen; eine Seitendifferenz bis zu 2 mm ist noch normal. Etwas genauer und standardisiert erfolgt diese Messung mit dem Exophthalmometer nach Hertel.
An weiteren pathologischen Phänomenen gibt es einerseits konjugierte Blick- oder Kopfdeviationen nach horizontal oder vertikal, andererseits diskonjugierte Augenfehlstellungen im Sinne eines Strabismus divergens (Exotropie) oder convergens (Esotropie). Geringe Strabismen lassen sich auch an der unterschiedlichen Position des kornealen Lichtreflexes der Untersuchungslampe erkennen, ein latenter Strabismus (Esophorie oder Exophorie) an einer Einstellbewegung beim alternierenden Abdecktest. Die allgemeine Bulbusmotilität prüft man mit geführten Fingerfolgebewegungen bis in die 8 möglichen Extrempositionen und achtet dabei einerseits auf Fehlstellungen bzw. ein Zurückbleiben eines Auges, andererseits auf subjektive Doppelbildwahrnehmungen.
Prinzipiell unterscheidet man den frühkindlichen Strabismus concomitans („angeborenes Begleitschielen“), bei dem der Schielwinkel in allen Positionen etwa gleich ist und meist keine Doppelbilder wahrgenommen werden, von dem durch Parese eines Augenmuskels bedingten paretischen Strabismus (Lähmungsschielen), mit Bewegungs- und Blickfeldeinschränkung des paretischen Auges. Dieses Schielen ist nicht komitant: Schielwinkel, Schielabweichung und Abstand der Doppelbilder ändern sich in Abhängigkeit von der Blickrichtung, d. h., sie nehmen in Wirkungsrichtung des paretischen Muskels zu. Zur Zugrichtung der Augenmuskeln siehe Kap. „Augenbewegungsstörungen“, (Tab. 1). Der primäre Schielwinkel – bei Fixation mit dem gesunden Auge – ist kleiner als der sekundäre – bei Fixation mit dem paretischen Auge, da hier nach dem Hering’schen Gesetz der gleichen Innervation synergistischer Muskeln beider Augen der entsprechende Muskel des gesunden Auges einen gesteigerten Innervationsimpuls erhält, der das Auge „in die Ecke treibt“. Beispielsweise steht bei einer Abduzensparese rechts und Rechtsblick mit dem fixierenden rechten Auge das linke Auge durch verstärkten Zug des M. rectus medialis ganz im inneren Augenwinkel.
Das Leitsymptom einer Augenmuskelparese ist die Wahrnehmung von Doppelbildern. Bei geringem Lähmungsschielen lässt sich der betroffene Muskel durch den Abdecktest ermitteln: Werden die Doppelbilder ungekreuzt angegeben, d. h., das rechte Bild wird mit dem rechten Auge wahrgenommen, stehen aufgrund der umgekehrten optischen Abbildung auf der Retina die Sehachsen gekreuzt, also in einem konvergenten Schielwinkel (z. B. bei der Abduzensparese), und vice versa. Hilfreich ist hier die Verwendung eines Farbglases, womit es dem Patienten leichter fällt, Doppelbilder zuzuordnen, z. B. als gekreuzt oder ungekreuzt. Außerdem kommt es beim alternierenden Abdecktest zu einer Einstellbewegung des nicht fixierenden Auges, sobald das andere Auge abgedeckt wird, und zwar sowohl beim paretischen als auch beim konkomitierenden Strabismus. Erfolgt die Einstellbewegung nach innen, liegt eine Exotropie oder Exophorie (latenter Strabismus) vor, erfolgt sie nach außen, eine Esotropie bzw. Esophorie. Am genauesten kann man dies durch Untersuchung mit der Hess-Gardine dokumentieren: Hier wird mit Spiegeln gearbeitet, um die Augen zu trennen und die Position des jeweils nicht fixierenden Auges zu dokumentieren.
Oft erkennt man das Lähmungsschielen an einer kompensatorischen Kopfzwangshaltung in Zugrichtung des gelähmten Muskels (z. B. okulärer Schiefhals bei der Trochlearis-Parese). Als Ausnahme eines läsionell bedingten komitanten Schielens sei die supranukleäre vertikale Divergenz („Skew deviation“) erwähnt: Diese vertikale Fehlstellung ist in allen Blickrichtungen etwa gleich stark ausgeprägt. Ursache ist eine Läsion der Otolithen oder deren zentraler Projektionen, die auch zu einer klinisch nicht sichtbaren Verrollung der Bulbi („ocular torsion“) zur Seite des tiefer stehenden Auges und in der Wahrnehmung zu einer entsprechenden Kippung der subjektiven visuellen Vertikalen (SVV) führt. Besteht zusätzlich eine entsprechende Kopfneigung, bezeichnet man das Syndrom als Ocular tilt reaction (OTR).
Eine Blickparese ist eine Lähmung der konjugierten Wendung beider Bulbi in eine bestimmte Richtung, d. h., beide Augen sind gleichermaßen betroffen, bei einer horizontalen Blickparese gleichzeitig die Abduktion des einen und die Adduktion des anderen Auges, bei einer vertikalen Blickparese entweder die Heber oder die Senker beider Augen (vertikale Blickparese nach oben bzw. unten). Eine Doppelbildwahrnehmung fehlt in aller Regel. Als Ophthalmoplegie wird der komplette Ausfall sämtlicher optomotorischen Hirnnerven einer Seite bezeichnet.
Fixation und Nystagmus
Fixationsstörungen lassen sich in sakkadische Oszillationen und Nystagmusphänomene unterteilen, deren sichere Klassifikation oft eine Elektronystagmografie erfordert. Sakkadische Oszillationen sind durch abnorme Sakkaden initiierte oszillatorische Augenbewegungen. Dazu gehören die auch physiologisch bei Unaufmerksamkeit vorkommenden Gegenrucke, das sind Sakkaden vom Blickziel weg und zurück, getrennt durch ein intersakkadisches Intervall. Makrosakkadische Oszillationen sind repetitive große Gegenrucke, meist Ausdruck einer zerebellären Störung. Beim Ocular flutter handelt es sich um in Serien auftretende horizontale sakkadische Oszillationen ohne intersakkadisches Intervall. Beim Opsoklonus finden die gleichen Oszillationen omnidirektional statt.
Nystagmusphänomene stellen rhythmische, in 2 Phasen ablaufende, unwillkürliche okuläre Oszillationen dar, die in aller Regel aus einer schnellen (Sakkade) und einer langsamen Komponente von etwa gleicher Amplitude bestehen (Rucknystagmus). Der physiologische Nystagmus wird visuell (optokinetisch, OKN) oder vestibulär induziert und dient der stabilen Außenweltwahrnehmung bei Eigen- und Fremdbewegungen. Ein pathologischer Nystagmus bewirkt das Gegenteil: Er stört die Fixation und die visuelle Stabilität. Den Nystagmus auslösend und die nystagmische Aktivität aufrechterhaltend ist jeweils die langsame Komponente als Ausdruck einer neuronalen Imbalance, die im vestibulären, im Folge- und optokinetischen System oder auch im Blickhaltesystem entstehen kann. Die schnelle Komponente ist Ausdruck einer zentral generierten Reflexsakkade, die das Auge in die Ausgangsposition zurückstellt. Da die schnellen Nystagmusphasen einfacher zu erkennen sind, wird die Nystagmusrichtung durch die schnelle Phase definiert.
Bei einem
Pendelnystagmus lassen die sinusähnlichen Oszillationen keine Unterscheidung zwischen einer schnellen und langsamen Phase zu. Er kommt entweder kongenital vor oder als erworbener Fixationspendelnystagmus
bei fortgeschrittener
multipler Sklerose (MS) infolge pontozerebellärer Herde.
Ein vestibulärer Nystagmus ist in allen 3 Raumdimensionen möglich: horizontal, vertikal oder torsionell (rotatorisch). Bei rotatorischen Augenbewegungen drehen sich die Augen um die a.p.-Sehlinie als Achse. Reine Zyklorotationen der Augen sind willkürlich nicht möglich. Physiologisch werden sie optokinetisch durch Anblick einer Rollbewegung der Umwelt oder vestibulär als Augengegenrollung bei Körper- oder Kopfkippung um die Sehachse ausgelöst, Letztere ist Ausdruck eines Otolithenreflexes auf die Augen (otolith-okulärer Reflex).
Im Wesentlichen können
3 Hauptformen eines pathologischen Nystagmus unterschieden werden, die auf Störungen verschiedener okulomotorischer Subsysteme zurückzuführen sind:
Blickrichtungsnystagmus (BRN) durch Störung im Blickhaltesystem: Er besteht aus einer zentripetalen Rückdrift der Augen aus exzentrischer Blickposition und einer Rückstellsakkade in Blickrichtung, seine Intensität nimmt in Blickrichtung zu
vestibulärer Spontannystagmus (SPN) durch Störung im vestibulären System
kongenitale oder erworbene Fixationsnystagmen, durch Störung im Fixations- oder Folgesystem
Ein vestibulärer Spontannystagmus wird insbesondere bei peripherer Genese durch Fixation supprimiert, er kann daher besser hinter den geschlossenen Lidern oder nach Ausschaltung der Fixation durch Untersuchung mit der Frenzelbrille im Dunkeln beobachtet werden, außerdem wird er bei Blick in Richtung der schnellen Phase und bei Blick nach oben aktiviert. Er schlägt in der Ebene des betroffenen Bogenganges.
Sehr auffällig, aber harmlos ist der
kongenitale Nystagmus, der häufig mit frühkindlichen Sehdefekten kombiniert ist. Ursache ist eine Störung des Fixations- und Blickfolgesystems. Es handelt sich um einen Fixationsnystagmus, aktiviert durch den Fixationsimpuls, der meist in horizontaler Richtung schlägt und eine pathologische Schlagform aufweist, d. h., auf einen Rucknystagmus sind bogen-, spitzen- oder pendelförmige Oszillationen aufgelagert, deren genaue Erkennung eine
Okulografie erfordert. Die Intensität dieses Nystagmus verstärkt sich bei Lateralblick und ist meist bei einer paramedianen Blickposition am schwächsten ausgeprägt (Nullphase). Die Patienten versuchen, durch Einnahme einer Kopfzwangshaltung möglichst immer diese Blickposition zu halten. Diagnostisch wegweisend ist neben der pathologischen Schlagform das Fehlen von Oszillopsien (Scheinbewegungswahrnehmungen), die Verstärkung durch Fixation sowie die hochgradige Störung der horizontalen Folgebewegungen und der meist aufgehobene oder in der Richtung invertierte horizontale OKN bei normal auslösbarem vertikalem OKN (Prüfung mit der optokinetischen Handtrommel). Eine Sonderform ist der
latente Fixationsnystagmus, ein Rucknystagmus, der nur während monokulärer Fixation auftritt und dann mit der raschen Phase zur Seite des fixierenden Auges schlägt. Er ist immer mit einer Schielamblyopie assoziiert und auf dem amblyopen Auge stärker ausgeprägt. Bei binokulärer Fixation besteht oft lediglich ein leichter Blickrichtungsnystagmus horizontal. Der
Blindennystagmus tritt oft als Folge visueller Deprivation auf und besteht aus groben, irregulären, ruck- oder pendelförmigen Augenoszillationen mit horizontaler Vorzugsrichtung, konjugiert oder diskonjugiert.