Bei den symptomatischen Ataxien sind nichtdegenerative Ursachen, wie z. B. Tumoren, zerebrovaskuläre Erkrankungen oder entzündliche Erkrankungen (z. B. Encephalomyelitis disseminata), von Kleinhirndegenerationen auf der Basis von z. B. toxischen, metabolischen oder paraneoplastischen Erkrankungen zu unterscheiden. Thema dieses Kapitels sind die symptomatischen Ataxien, die durch eine Kleinhirndegeneration charakterisiert sind; und, wegen der teilweisen Ähnlichkeit, die Zerebellitis. Am häufigsten ist die alkoholtoxische Kleinhirnvorderlappenatrophie, an zweiter Stelle stehen medikamentös-toxische Kleinhirnschädigungen, z. B. durch
Antiepileptika. Die Therapie bei diesen symptomatischen
degenerativen Ataxien besteht in der Behandlung der Grundkrankheit bzw. in der Vermeidung der toxischen Schädigung.
Alkoholtoxische Kleinhirnvorderlappenschädigung
Neben der durch eine akute
Alkoholintoxikation bedingten Ataxie kann es bei chronischem
Alkoholismus zu einer Degeneration der Kleinhirnrinde, insbesondere im Bereich des Oberwurmes und medialer Anteile des Kleinhirnvorderlappens, mit dann auf Dauer bestehender ataktischer Symptomatik, kommen. Pathogenetisch spielt neben der direkten alkoholtoxischen Wirkung auch eine mit chronischem Alkoholismus vergesellschaftete Mangelernährung, insbesondere der
Thiaminmangel, eine Rolle. Zum Symptomspektrum einer
Wernicke-Enzephalopathie gehört deshalb auch in aller Regel eine zerebelläre Ataxie
. Die Ursache für die topografische Betonung des degenerativen Prozesses im Bereich des Oberwurmes ist nicht klar. Dies erklärt jedoch die in typischen Fällen recht charakteristische klinische Symptomatologie. Im funktionellen MRT findet sich für Beinbewegungen eine Repräsentation im rostralen Oberwurm, während Armbewegungen weiter dorsokaudal und lateral im Lobus simplex des Kleinhirns repräsentiert sind (Nitschke et al.
1996). Eine alkoholtoxische Kleinhirnschädigung führt dementsprechend zu einer deutlich an den Beinen betonten Ataxie.
Medikamentös-toxische Kleinhirnschädigung
Eine persistierende Ataxie aufgrund einer Degeneration der Kleinhirnrinde kann durch eine Reihe von Medikamenten verursacht sein. Die meisten der genannten Medikamente führen bei akuter Intoxikation zu einer vorübergehenden Ataxie; bei langjähriger Einnahme kann es zu einer irreversiblen Kleinhirnrindendegeneration mit auf Dauer fortbestehender Ataxie kommen. Hierbei zeigen CT und MRT oft keine relevante Kleinhirnatrophie, auch wenn deutliche klinische Symptome bestehen.
Antiepileptika
Am häufigsten kommt dies bei Anfallskranken nach chronischer Einnahme von Phenytoin vor.
Die Umstellung der antiepileptischen Therapie von
Phenytoin auf ein anderes Präparat ist dann in jedem Fall indiziert. Da selten auch
Carbamazepin eine Kleinhirnschädigung hervorrufen kann, sollte eine Umstellung von Carbamazepin auf ein anderes, z. B. neues Antiepileptikum erfolgen, wenn der zeitliche Zusammenhang zwischen einer progredienten Ataxie und einer chronischen Carbamazepineinnahme klar ist.
Zytostatika
Zu irreversibler Kleinhirnschädigung mit meist bleibender Ataxie kann es durch Zytostatika wie Fluorouracil, Vincristin und insbesondere durch Zytosin-Arabinosid kommen. Charakteristischerweise stellt sich subakut innerhalb der ersten Tage (2–7 Tage) nach Beginn der Chemotherapie mit Zytosin-Arabinosid ein z. T. schweres zerebelläres Syndrom ein. Nach Absetzen der Zytosin-Arabinosid-Gabe kann sich die Ataxie innerhalb einiger Wochen bessern, meist bleibt jedoch ein mehr oder weniger deutliches Residuum bestehen.
Der neurotoxische Effekt auf das Cerebellum scheint mit zunehmendem Alter der Patienten zuzunehmen.
Neuropathologisch kommt es vorwiegend zu einer Purkinje-Zellschädigung. Die Purkinje-Zellen sind das vulnerabelste Element im Cerebellum und werden deshalb durch die hier abgehandelten toxischen, metabolischen, immunologischen und physikalischen Einflüsse ganz besonders geschädigt. Der neurotoxische Effekt von Zytosin-Arabinosid auf das Cerebellum ist von der kumulativen Gesamtdosis abhängig; die meisten Fälle sind bei einer Gesamtdosis von 36 mg/m2 oder mehr beschrieben, wir haben aber auch Fälle gesehen, bei denen kumulative Gesamtdosen von knapp unter 20 mg/m2 eine Kleinhirnschädigung hervorgerufen haben.
Lithium
Ein weiteres Medikament mit neurotoxischer Wirkung auf die Kleinhirnrinde ist
Lithium. Aufgrund der relativ geringen therapeutischen Breite kommen immer wieder akute oder chronische Lithiumintoxikationen vor. Persistierende Schädigungen in Form einer zerebellären Ataxie sind aber selten. Ein Zusammenhang mit Lithiumdosis und Lithiumspiegel besteht oft nicht, sodass eine individuelle Empfindlichkeit oder andere Faktoren wie fieberhafte Infekte, Dehydratation mit
Elektrolytstörungen und Nierenfunktionsstörungen eine Rolle zu spielen scheinen. Nach Absetzen des Lithiums kann das zerebelläre Syndrom rückläufig sein, häufig verbleibt jedoch eine persistierende Ataxie. Neuropathologisch steht eine schwere Purkinje-Zellschädigung ganz im Vordergrund. In den bildgebenden Verfahren wie CT und MRT muss dabei keine deutliche Kleinhirnatrophie nachweisbar sein.
Antibiotika
Nitrofurantoin, das in der Therapie und zur Prophylaxe von Harnwegsinfekten teilweise als Langzeittherapie gegeben wird, kann ebenfalls zu einer toxischen Kleinhirnschädigung führen. Auch intravenöse Gabe von Co-Trimoxazol (z. B. Bactrim) in der Dosierung von 20 mg Trimethoprim/kg KG/Tag und 100 mg Sulfamethoxazol/kg KG/Tag führt in seltenen Fällen als Nebenwirkung zu einer Ataxie. In den wenigen mitgeteilten Fällen war diese neurotoxische Nebenwirkung nach Absetzen der Therapie weitgehend reversibel.
Weitere Medikamente
Eine chronische Bromeinnahme kann ein schweres, z. T. irreversibles zerebelläres Syndrom bedingen, bei einigen dieser Fälle war im CT eine deutliche Kleinhirnatrophie nachweisbar.
Auch Ciclosporin und Amiodaron können eine toxische Kleinhirnschädigung verursachen.
Toxische Kleinhirnschädigung durch Lösungsmittel und Schwermetalle
Der Frage einer neurotoxischen Schädigung durch Lösungsmittel kommt in letzter Zeit zunehmende Bedeutung zu. Neben psychoorganischen Beeinträchtigungen und einem Polyneuropathiesyndrom sind seltener auch Kleinhirnschädigungen mit Ataxie nach Exposition insbesondere gegenüber
Dioxin,
Benzol und
Trimethyltin (TMT) beschrieben. Bei den Schwermetallen, die zu einer toxischen Kleinhirnschädigung führen können, ist insbesondere
Quecksilber zu nennen. Weiterhin ist
Thallium toxisch für das Cerebellum. Für alle der hier genannten Substanzen sind der Nachweis des engen zeitlichen Zusammenhangs zwischen Exposition und Schädigung sowie der Ausschluss anderer Ursachen für eine Kleinhirnschädigung, wie z. B.
Alkoholismus, erforderlich.
Ataxie bei Hypothyreose
Eine
Hypothyreose kann selten zu einer meist gering ausgeprägten zerebellären Ataxie führen. Bei den wenigen autopsierten Fällen wurden keine pathomorphologischen Veränderungen am Kleinhirn gefunden. Die Ataxie ist nach Behandlung der Hypothyreose reversibel. Die Sicherung der Diagnose erfolgt durch den Nachweis der hypothyreoten Stoffwechsellage und aufgrund des therapeutischen Ansprechens auf Substitution.
Ataxie mit Malabsorptionssyndrom/Immunvermittelte Ataxien
Ataxien mit Malabsorptionssyndrom bzw. immunvermittelte Ataxien (außer der paraneoplastischen zerebellären Degeneration) beziehen sich auf die sog. Gluten-Ataxien (Ataxie assoziiert mit Antigliadin-Antikörpern), auf die mit Schilddrüsenantikörpern assoziierte Ataxie (Hashimoto-Ataxie) sowie auf die mit Glutaminsäure-Decarboxylase(GAD)-Antikörpern assoziierte Ataxie.
Gluten-Ataxie
Bei diesen Patienten ist neben der zerebellären Ataxie eine sensorische Neuropathie vorhanden. Das Erkrankungsalter liegt um das 40. Lebensjahr. Es wird eine kryptische Glutensensitivität ohne
Zöliakie mit chronischen Durchfällen vermutet. Bei duodenalen Biopsien sind bei etwa der Hälfte der Patienten aber Mukosaveränderungen vorhanden, die mit einer Zöliakie vereinbar sind. Antigliadin-Antikörper zeigen eine Kreuzreaktion mit
Epitopen von Purkinje-Zellen. In der Behandlung werden eine glutenfreie Diät und
Immunglobuline vorgeschlagen, kontrollierte Studien dazu gibt es nicht.
Steroidresponsive Enzephalopathie bei Autoimmunthyreoiditis (SREAT, früher Hashimoto-Ataxie)
Relativ aktuell wurde über Patienten mit Ataxie und Schilddrüsenantikörpern als Zeichen einer Hashimoto-Thyreoiditis
berichtet (Hashimoto-Enzephalitis, Kap. „Endokrine und Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie“). Der Symptomenkomplex ähnelt der Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung und besteht aus Ataxie,
Demenz, Myoklonien, Pyramidenbahnzeichen,
Epilepsie, Bewusstseinstrübungen und psychotischen Episoden.
Unter einer hochdosierten Kortisontherapie kommt es meist innerhalb weniger Tage zur dramatischen Besserung der Beschwerden.
Ataxie mit GAD-Antikörpern
Sehr selten kann eine Ataxie im Rahmen eines polyglandulären endokrinen Autoimmunsyndroms bei Patienten mit hohen GAD-Antikörpertitern im
Serum auftreten. In einem Einzelfall wurde über Besserung durch die Gabe intravenöser
Immunglobuline berichtet.
Paraneoplastische zerebelläre Degeneration (PCD)
Eine paraneoplastische Ataxie geht auf eine Kleinhirnrindendegeneration mit im Vordergrund stehendem Verlust von Purkinje-Zellen bei
Bronchial- und
Ovarialkarzinomen, seltener auch bei
Lymphomen oder
Mammakarzinom zurück. Klinisch entwickelt sich rasch innerhalb von Wochen bis wenigen Monaten ein generalisiertes zerebelläres Syndrom. Selten tritt zusätzlich ein letztlich aber nicht spezifischer Opsoklonus (rasche, konjugierte, vorwiegend horizontale Sakkaden unterschiedlicher Amplitude ohne intersakkadisches Intervall) mit „chaotischen“ Augenbewegungen auf. Es gibt Befunde, die dafür sprechen, dass sich bei mehr als einem Drittel der Patienten mit Bronchialkarzinom im Erkrankungsverlauf langsam und schleichend ein leichtes zerebelläres Syndrom einstellt und dass bei der Mehrzahl dieser Fälle autoptisch ein signifikanter Verlust von Purkinje-Zellen in der Kleinhirnrinde nachweisbar ist. Es ist unklar, ob es sich hierbei um ein sehr häufiges und nur leicht ausgeprägtes paraneoplastisches Syndrom oder um eine unspezifische Folge der malignen Grunderkrankung handelt (Wessel et al.
1988). Dies macht jedoch deutlich, dass beim Auftreten eines zerebellären Syndroms ohne sonst erkennbare Ursache an eine zugrunde liegende neoplastische Erkrankung gedacht werden muss. Eine paraneoplastisch bedingte Ataxie kann der Manifestation des zugrunde liegenden Tumorleidens um Jahre vorausgehen. Bei der typischen, subakut auftretenden paraneoplastischen zerebellären Degeneration fällt häufig eine Diskrepanz zwischen der sehr deutlichen Ataxie und den fehlenden oder nur sehr geringen Atrophiezeichen im Bereich des Kleinhirns im CT oder MRT auf. Histopathologisch sind zwei Typen der paraneoplastischen zerebellären Degeneration zu unterscheiden: ein Typ mit rein degenerativen und ein zweiter mit sowohl degenerativen als auch entzündlichen Veränderungen. Der teilweise inflammatorische Charakter im akuten Krankheitsstadium wird auch im Liquorbefund mit häufig erhöhtem Liquoreiweiß und pathologischen Immunglobulinkonzentrationen (intrathekale IgG-Produktion) deutlich, gelegentlich ist auch eine leichte lymphozytäre Pleozytose nachweisbar. Vieles spricht dafür, dass eine Autoimmunpathogenese zugrunde liegt. Ein Teil der paraneoplastischen Ataxien ist mit dem Auftreten von
Autoantikörpern verbunden; bei gynäkologischen Tumoren in erster Linie
Anti-Yo, bei kleinzelligem Bronchialkarzinom
Anti-Hu und bei Mamma- und Bronchialkarzinom mit Ataxie und Opsoklonus
Anti-Ri. Meist bleibt das zerebelläre Syndrom im Verlauf weitgehend unverändert; es sind allerdings Fälle beschrieben, bei denen die Ataxie nach der erfolgreichen Behandlung des zugrunde liegenden Tumors weitgehend regredient war.
Ataxie mit physikalischer Genese
Es gibt Hinweise dafür, dass eine Erhöhung der Körperkerntemperatur auf über 41 °C zu einer Kleinhirnschädigung führen kann. So wurden reversible und irreversible Ataxien nach Hitzschlag,
Sepsis und malignem neuroleptischem Syndrom beobachtet. Pathogenetisch liegt wahrscheinlich eine Schädigung der hitzeempfindlichen Purkinje-Zellen zugrunde. Da die Purkinje-Zellen jedoch auch gegenüber anderen Noxen wie z. B.
Hypoxie ganz besonders empfindlich sind, muss letztlich offenbleiben, ob es sich hierbei um einen spezifischen Hitzeeffekt oder um einen eher unspezifischen Effekt der zugrunde liegenden schweren Erkrankung handelt.
Zerebellitis/zerebelläre Enzephalitis
Eine Zerebellitis kann als Komplikation unterschiedlicher viraler Infektionen auftreten. In typischen Fällen besteht ein zweigipfeliger Verlauf: Einige Tage oder wenige Wochen nach einem grippalen oder gastrointestinalen Infekt kommt es mehr oder weniger akut zum Auftreten des zerebellären Syndroms. Symptome von Seiten des Hirnstamms, das Bild einer
Enzephalitis oder Hirnnervenausfälle können hinzukommen.
Häufigkeit und Ätiologie
Symptomatische Ataxien bei weiteren seltenen entzündlichen neurologischen Erkrankungen
Ataxie kann Symptom eines CLIPPERS-Syndroms
(„chronic lymphocytic inflammation with pontine perivascular enhancement responsive to steroids“) und
Autoimmunenzephalitiden sein (Kap. „Autoimmunenzephalitiden“). Insbesondere in Zusammenhang mit
Demenz, Myoklonien und extrapyramidalmotorischen Symptomen ist bei zusätzlicher Ataxie an eine Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung
(CJD) zu denken (Kap. „Prionerkrankungen“).
Facharztfragen
1.
Welche Extremitäten sind typischerweise bei der alkoholtoxischen Kleinhirnschädigung von der Ataxie betroffen?