Wie bei anderen toxischen Erkrankungen sind die quantitativ wichtigsten toxischen Myelopathien durch exogene Substanzen verursacht, die in Teilen der Welt und in geschichtlichen Perioden eine Rolle spielen, in denen Reservenahrungsmittel während Phasen der Unter- und Mangelernährung benutzt werden müssen. In den industrialisierten Ländern spielen Drogenmissbrauch, Industrietoxine und iatrogene
Intoxikationen die entscheidende Rolle. Schon der Erstbeschreiber der spastischen Spinalparalyse – Strümpell – erhoffte sich vom Studium identischer klinischer Bilder mit bekannter Ätiologie die Erklärung der selektiven Vulnerabilität im motorischen System. Im Folgenden sind zwei häufige Myelopathien beschrieben, die heute klinisch in der industrialisierten Welt zwar eine untergeordnete Rolle spielen, in der Dritten Welt aber weiter von Bedeutung sind und die Modellcharakter für das Verständnis selektiver Vulnerabilität im Bereich der pyramidalen Motorik haben. Dann wird abschließend eine Übersicht über andere toxische Myelopathien gegeben.
Neurolathyrismus
Strümpell meinte Ende des 19. Jahrhunderts konkret den Neurolathyrismus, eine neurotoxische Erkrankung, die seit Hippokrates bekannt ist und klinisch der spastischen Spinalparalyse gleicht (Ludolph et al.
1987). Im Jahre 1671 verbot der Herzog Georg von Württemberg seinen Untertanen den Genuss von Kichererbsen, da sie eine lähmende Wirkung auf die Beine hätten. Die Erkrankung wird also durch den chronischen Konsum der
Gras- oder Kichererbse,
L. sativus, verursacht. Der Neurolathyrismus
war noch vor 50 Jahren auch in Europa endemisch, sein Auftreten ist aber heute auf Teile der Welt beschränkt, wo Menschen zu Notzeiten noch immer auf Reservelebensmittel wie
L. sativus zurückgreifen müssen. Die Erkrankung wurde letztmalig in Deutschland in den Nachkriegsjahren vereinzelt bei Kriegsgefangenen, die in Frankreich interniert worden waren, beobachtet und von dem langjährigen Würzburger Lehrstuhlinhaber Georg Mertens beschrieben. Eine klinisch bemerkenswerte Beschreibung geht auf den jüdischen Arzt Dr. Arthur Kessler zurück, der während eines Ausbruchs der Erkrankung im Konzentrationslager Wapniaka in der Ukraine im Jahre 1942 beobachtete, wie 800 seiner Mitgefangenen und er selbst vom Krankheitsbild befallen wurden. Heute sind in Teilen von Bangladesh, Indien, Äthiopien und China noch bis zu 2 % der Bevölkerung betroffen. Der Verlauf des Neurolathyrismus ist – wie bei allen bekannten neurotoxischen Erkrankungen – selbstlimitiert, d. h. nach Absetzen des toxischen Faktors kommt es zum Sistieren der Symptomatik oder einer Besserung.
Klinisch imponiert das klassische Bild einer spastischen Paraparese mit erhöhtem Tonus der Adduktoren und der Gastroknemii, positivem Babinski-Zeichen sowie unerschöpflichen Achillessehnenreflex(ASR)- und Patellarsehnenreflex(PSR)-Kloni. Schwer betroffene Patienten können nicht mehr ohne Hilfe gehen („crawler stage“ in Indien), ihre Armeigenreflexe sind gesteigert, der Trömner- und Knipsreflex sind sehr lebhaft, nur selten kommt es zur Einschränkung der Feinmotorik oder einer Tonuserhöhung der oberen Extremitäten. Zeichen der Pseudobulbärparalyse sind vereinzelt beschrieben worden. Blasenstörungen sind im chronischen Stadium nicht bekannt, Störungen der Tiefensensibilität, insbesondere des Vibrationssinns, können auftreten. Leicht betroffene Kranke weisen häufig eine nur milde Gangstörung auf: Beim schnellen Laufen schlagen die Knie aufgrund des erhöhten Adduktorentonus aneinander.
Die Erkrankung betrifft aus unbekannten Gründen praktisch nur Männer, das Ausmaß der Läsion ist dosisabhängig. Dies bedeutet für den klinischen Phänotyp, dass bei geringer Exposition nur die unteren Extremitäten, bei höherer Exposition auch die Arme und die kortikobulbären Trakte betroffen sind. Neurophysiologische Untersuchungen zeigen Äquivalente einer Läsion des Axons und des Zellsomas der Pyramidenbahn und in geringerem Ausmaß bei Schwerbetroffenen auch eine Läsion der Hinterstränge und vereinzelt auch der Vorderhornzellen.
Neurocassavaismus
Der Neurocassavaismus
(„Konzo“) ist eine Erkrankung, die in bemerkenswertem Gegensatz zum klinisch praktisch identischen Krankheitsbild des Neurolathyrismus Frauen und Kinder (nicht Männer) in Ostafrika epidemisch während Notzeiten erfasst und durch den Konsum der mangelhaft detoxifizierten bitteren Cassava
(Manihot esculenta) verursacht wird (Howlett et al.
1990). Toxisches Prinzip ist hier ein Glykosid, in welchem an das Glukosemolekül ein Inhibitor des Komplex IV der
Atmungskette,
Cyanid, gebunden ist. Obwohl die
klinische Symptomatik ansonsten
identisch mit der spastischen Spinalparalyse oder dem Neurolathyrismus ist, fällt das gelegentliche Auftreten von
Optikusatrophien und
Hörstörungen doch aus dem Bild. Nach Beendigung der Exposition persistiert die spastische Paraparese oder bessert sich, ohne dass es jedoch zu einer vollständigen Restitution kommt.
Organophosphatintoxikationen
Eine weitere Ursache toxischer Myelopathien, die ihren Schwerpunkt im Bereich der Pyramidenbahn haben, sind einige
Organophosphate (Lotti
2000). Von
Vergiftungen mit Triorthocresylphosphaten (TOCP) oder Chlorpyrifos ist der klassische Verlauf bekannt: Nach der akuten Aufnahme einer Einzeldosis kommt es mit Durchfällen, Übelkeit und Erbrechen zunächst zu
gastrointestinalen Reizerscheinungen, die auf eine cholinerge Stimulation des autonomen Nervensystems zurückzuführen sind. Nach einer Latenz von 1–4 Wochen und Verschwinden der cholinergen Symptomatik tritt dann eine
vorwiegend motorische distale Neuropathie mit
initialen Wadenkrämpfen auf, ohne dass jedoch Zeichen der sensiblen Axonopathie mit Parästhesien und distalen Sensibilitätsausfällen fehlen. Bereits in dieser frühen Phase können ein pathologisches Babinski-Zeichen oder vergleichsweise lebhafte Patellarsehnenreflexe bei fehlenden Achillessehnenreflexen auf eine zusätzliche Läsion der Pyramidenbahn hinweisen. Diese
Zeichen der Myelopathie werden dann bei zunehmender Restitutionstendenz der peripheren Neuropathie im Verlauf von Monaten immer deutlicher: Es stellt sich eine spastische Tonuserhöhung der Beine mit erhöhtem Adduktorentonus ein, auch eine ataktische Komponente kann hinzukommen. Wenn nach Beendigung der Exposition die Zeichen der Läsion des peripheren Neurons aufgrund von Restitutionsvorgängen verschwinden, bleiben Zeichen der Läsion des ersten Motoneurons bestehen.
Clioquinolmyelopathie
Seit Ende der 1950er-Jahre wurde in Japan ein neues klinisches Syndrom beobachtet, die subakute Myelooptikoneuropathie (SMON). Untersuchungen führten zu dem Schluss, dass das Syndrom durch Clioquinol (5-Chlor-7-Iod-8-Hydroxychinolin), ein halogeniertes Hydroxychinolin, das weltweit zur Behandlung von Darminfektionen benutzt wurde, verursacht worden ist (Schaumburg
2000). Das klinische Syndrom umfasste:
akutes oder subakutes Auftreten einer Schwäche und Parästhesien und Taubheitsgefühl an den Beinen,
Sphinkterstörungen,
Störungen des autonomen Nervensystems und
bilaterale
Sehstörungen, die sich bei gering Betroffenen allein auf das Farbensehen bezogen.
Die Reflexe an den unteren Extremitäten waren bei der Mehrzahl der Patienten gesteigert, ein Babinski-Zeichen konnte bei einem geringen Anteil der Erkrankten beobachtet werden. Inzwischen scheint es gesichert, dass die initial vermutete Neuropathie nicht Teil des klinischen Bildes der Clioquinol-Intoxikation ist. Offen ist die Frage geblieben, warum es zu einem so massiven Ausbruch in Japan gekommen ist, während in anderen Teilen der Welt das Syndrom nur bei einer sehr kleinen Anzahl von Patienten vermutet wurde. Möglicherweise ist die Häufung dadurch erklärt, dass clioquinolhaltige Präparate in Japan in sehr großen Mengen eingenommen wurden; eine Rolle genetischer Faktoren ist nicht ausgeschlossen.
Myelopathie nach Lachgasabusus (NO2)
Die wiederholte Exposition zu hohen Lachgaskonzentrationen kann die Ursache einer toxischen Myelopathie sein (Ludolph und Spencer
1995; Scelsa
2000). Die euphorisierende Wirkung des Anästhetikums und sein Abhängigkeitspotenzial wurden bereits von Sir Humphrey Davy, der die chemische Synthese der Substanz vor 200 Jahren durchführte, beschrieben. Heute wird ein Lachgasabusus v. a. von medizinischen Berufsgruppen, wohl mit Schwerpunkt in den Vereinigten Staaten, betrieben. Lachgas inaktiviert die cobalaminabhängigen
Enzyme Methioninsynthetase und Methylmalonyl-CoA-Mutase. Dies führt biochemisch und klinisch zum Bild des Vitamin-B
12-Mangels: einer Akkumulation der toxischen Metabolite
Methylmalonsäure und
Homocystein und zum klassischen neurologischen Bild der
sensomotorischen axonalen Neuropathie und
Myelopathie, aber auch einer
hirnorganischen Leistungseinschränkung und Affektstörung. Die megaloblastäre
Anämie scheint nicht Teil des Bildes zu sein, und die Therapie besteht aus der Beendigung der Exposition. Möglicherweise haben auch eine Vitamin-B
12- und Methioningabe einen positiven Effekt.
Andere toxische Myelopathien
Bei der gelegentlich bei
Heroinabhängigen zu beobachtenden
Myelopathie sind neben einem direkten toxischen Effekt auf das Rückenmark eine ischämische und eine entzündliche Reaktion zu bedenken (Mahoney et al.
2018). Die klinische Symptomatik ist durch eine
akute Paraparese und eine
Blasenstörung gekennzeichnet. Typischerweise hat der Kranke gerade nach einer kurzen Phase der Abstinenz den Missbrauch wieder aufgenommen (Brust
2000). Im Liquor kann das Glial fibrillar acidic protein (GFAP) als Verletzungsmarker deutlich erhöht sein (Sveinsson et al.
2017). Ein Therapieversuch mit hoch dosierten Kortikoiden ist sinnvoll.
Toxische Paraparesen sind auch im Rahmen der
Ciclosporin-Intoxikation, der
intrathekalen Cytarabin-Applikation, seltener der
intrathekalen Methotrexat- und Thiotepa-Gabe beschrieben worden, wobei individuell der Differenzialdiagnose einer toxischen Leukenzephalopathie nachgegangen werden muss (Spencer et al.
2000).
Facharztfragen
1.
Welche Drogen können zu einer akuten Myelopathie führen?
2.
Beschreiben Sie das klinische Bild des Neurolathyrismus bzw. Neurocassavaismus.
3.
In welchem Teil der Welt wurde die Clioquinolmyelopathie beschrieben?
4.
Zu welcher metabolischen Erkrankung hat die Myelopathie nach Lachgasabusus einen klinischen und pathogenetischen Bezug?