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Klinische Neurologie
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Publiziert am: 10.09.2019

Toxische Myelopathien

Verfasst von: Albert C. Ludolph
Wie bei anderen toxischen Erkrankungen sind die quantitativ wichtigsten toxischen Myelopathien durch exogene Substanzen verursacht, die in Teilen der Welt und in geschichtlichen Perioden eine Rolle spielen, in denen Reservenahrungsmittel während Phasen der Unter- und Mangelernährung benutzt werden müssen. In den industrialisierten Ländern spielen Drogenmissbrauch, Industrietoxine und iatrogene Intoxikationen die entscheidende Rolle. Schon der Erstbeschreiber der spastischen Spinalparalyse – Strümpell – erhoffte sich vom Studium identischer klinischer Bilder mit bekannter Ätiologie die Erklärung der selektiven Vulnerabilität im motorischen System. In diesem Kapitel werden zwei häufige Myelopathien beschrieben, die heute klinisch in der industrialisierten Welt zwar eine untergeordnete Rolle spielen, in der Dritten Welt aber weiter von Bedeutung sind und die Modellcharakter für das Verständnis selektiver Vulnerabilität im Bereich der pyramidalen Motorik haben. Dann wird abschließend eine Übersicht über andere toxische Myelopathien gegeben.
Wie bei anderen toxischen Erkrankungen sind die quantitativ wichtigsten toxischen Myelopathien durch exogene Substanzen verursacht, die in Teilen der Welt und in geschichtlichen Perioden eine Rolle spielen, in denen Reservenahrungsmittel während Phasen der Unter- und Mangelernährung benutzt werden müssen. In den industrialisierten Ländern spielen Drogenmissbrauch, Industrietoxine und iatrogene Intoxikationen die entscheidende Rolle. Schon der Erstbeschreiber der spastischen Spinalparalyse – Strümpell – erhoffte sich vom Studium identischer klinischer Bilder mit bekannter Ätiologie die Erklärung der selektiven Vulnerabilität im motorischen System. Im Folgenden sind zwei häufige Myelopathien beschrieben, die heute klinisch in der industrialisierten Welt zwar eine untergeordnete Rolle spielen, in der Dritten Welt aber weiter von Bedeutung sind und die Modellcharakter für das Verständnis selektiver Vulnerabilität im Bereich der pyramidalen Motorik haben. Dann wird abschließend eine Übersicht über andere toxische Myelopathien gegeben.

Neurolathyrismus

Strümpell meinte Ende des 19. Jahrhunderts konkret den Neurolathyrismus, eine neurotoxische Erkrankung, die seit Hippokrates bekannt ist und klinisch der spastischen Spinalparalyse gleicht (Ludolph et al. 1987). Im Jahre 1671 verbot der Herzog Georg von Württemberg seinen Untertanen den Genuss von Kichererbsen, da sie eine lähmende Wirkung auf die Beine hätten. Die Erkrankung wird also durch den chronischen Konsum der Gras- oder Kichererbse, L. sativus, verursacht. Der Neurolathyrismus war noch vor 50 Jahren auch in Europa endemisch, sein Auftreten ist aber heute auf Teile der Welt beschränkt, wo Menschen zu Notzeiten noch immer auf Reservelebensmittel wie L. sativus zurückgreifen müssen. Die Erkrankung wurde letztmalig in Deutschland in den Nachkriegsjahren vereinzelt bei Kriegsgefangenen, die in Frankreich interniert worden waren, beobachtet und von dem langjährigen Würzburger Lehrstuhlinhaber Georg Mertens beschrieben. Eine klinisch bemerkenswerte Beschreibung geht auf den jüdischen Arzt Dr. Arthur Kessler zurück, der während eines Ausbruchs der Erkrankung im Konzentrationslager Wapniaka in der Ukraine im Jahre 1942 beobachtete, wie 800 seiner Mitgefangenen und er selbst vom Krankheitsbild befallen wurden. Heute sind in Teilen von Bangladesh, Indien, Äthiopien und China noch bis zu 2 % der Bevölkerung betroffen. Der Verlauf des Neurolathyrismus ist – wie bei allen bekannten neurotoxischen Erkrankungen – selbstlimitiert, d. h. nach Absetzen des toxischen Faktors kommt es zum Sistieren der Symptomatik oder einer Besserung.
Klinisch imponiert das klassische Bild einer spastischen Paraparese mit erhöhtem Tonus der Adduktoren und der Gastroknemii, positivem Babinski-Zeichen sowie unerschöpflichen Achillessehnenreflex(ASR)- und Patellarsehnenreflex(PSR)-Kloni. Schwer betroffene Patienten können nicht mehr ohne Hilfe gehen („crawler stage“ in Indien), ihre Armeigenreflexe sind gesteigert, der Trömner- und Knipsreflex sind sehr lebhaft, nur selten kommt es zur Einschränkung der Feinmotorik oder einer Tonuserhöhung der oberen Extremitäten. Zeichen der Pseudobulbärparalyse sind vereinzelt beschrieben worden. Blasenstörungen sind im chronischen Stadium nicht bekannt, Störungen der Tiefensensibilität, insbesondere des Vibrationssinns, können auftreten. Leicht betroffene Kranke weisen häufig eine nur milde Gangstörung auf: Beim schnellen Laufen schlagen die Knie aufgrund des erhöhten Adduktorentonus aneinander.
Die Erkrankung betrifft aus unbekannten Gründen praktisch nur Männer, das Ausmaß der Läsion ist dosisabhängig. Dies bedeutet für den klinischen Phänotyp, dass bei geringer Exposition nur die unteren Extremitäten, bei höherer Exposition auch die Arme und die kortikobulbären Trakte betroffen sind. Neurophysiologische Untersuchungen zeigen Äquivalente einer Läsion des Axons und des Zellsomas der Pyramidenbahn und in geringerem Ausmaß bei Schwerbetroffenen auch eine Läsion der Hinterstränge und vereinzelt auch der Vorderhornzellen.
Fallbeispiel
Der jetzt 84-jährige emeritierte Professor berichtete, dass er sich am Ende des 2. Weltkriegs im Rahmen seiner Kriegsgefangenschaft in Frankreich über Wochen und Monate von Kichererbsen ernähren musste. Er habe dann erstmals beim Arbeitseinsatz, als er auf Lastwagen klettern musste, bemerkt, dass er eine Schwäche und Steifigkeit der Beine entwickelt habe. Diese Symptomatik sei dann fortgeschritten, sodass er sich kaum mehr fortbewegen konnte. Er könne sich an spontane rhythmische Bewegungen beider Beine, die bei kleinsten exogenen Reizen auftraten, erinnern. In seiner Gruppe seien viele weitere Mitgefangene erkrankt. Man habe dann die Ursache in der Ernährung gefunden und – nachdem die Ernährung geändert wurde – habe sich der Zustand der meisten aus der Gruppe gebessert. Er könne sich auch daran erinnern, dass ein großer Teil seiner Mitgefangenen nach der Entlassung von der Universitätsklinik Bonn untersucht worden seien. Heute leide er immer noch unter einer Gangstörung, obwohl sie sich weitgehend gebessert habe. Er habe vor 20 Jahren zwei Stöcke gebraucht, um sich fortzubewegen, heute genüge ein Stock zur Fortbewegung. Bei der klinisch-neurologischen Untersuchung fanden sich die Residuen einer symmetrischen spastischen Paraparese mit unerschöpflichen Achillessehnenkloni sowie lebhaften PSR. Aufgrund eines Spasmus der Gastroknemii lief der Patient auf den Zehenspitzen und der Adduktorentonus war erhöht.

Neurocassavaismus

Der Neurocassavaismus („Konzo“) ist eine Erkrankung, die in bemerkenswertem Gegensatz zum klinisch praktisch identischen Krankheitsbild des Neurolathyrismus Frauen und Kinder (nicht Männer) in Ostafrika epidemisch während Notzeiten erfasst und durch den Konsum der mangelhaft detoxifizierten bitteren Cassava (Manihot esculenta) verursacht wird (Howlett et al. 1990). Toxisches Prinzip ist hier ein Glykosid, in welchem an das Glukosemolekül ein Inhibitor des Komplex IV der Atmungskette, Cyanid, gebunden ist. Obwohl die klinische Symptomatik ansonsten identisch mit der spastischen Spinalparalyse oder dem Neurolathyrismus ist, fällt das gelegentliche Auftreten von Optikusatrophien und Hörstörungen doch aus dem Bild. Nach Beendigung der Exposition persistiert die spastische Paraparese oder bessert sich, ohne dass es jedoch zu einer vollständigen Restitution kommt.

Organophosphatintoxikationen

Eine weitere Ursache toxischer Myelopathien, die ihren Schwerpunkt im Bereich der Pyramidenbahn haben, sind einige Organophosphate (Lotti 2000). Von Vergiftungen mit Triorthocresylphosphaten (TOCP) oder Chlorpyrifos ist der klassische Verlauf bekannt: Nach der akuten Aufnahme einer Einzeldosis kommt es mit Durchfällen, Übelkeit und Erbrechen zunächst zu gastrointestinalen Reizerscheinungen, die auf eine cholinerge Stimulation des autonomen Nervensystems zurückzuführen sind. Nach einer Latenz von 1–4 Wochen und Verschwinden der cholinergen Symptomatik tritt dann eine vorwiegend motorische distale Neuropathie mit initialen Wadenkrämpfen auf, ohne dass jedoch Zeichen der sensiblen Axonopathie mit Parästhesien und distalen Sensibilitätsausfällen fehlen. Bereits in dieser frühen Phase können ein pathologisches Babinski-Zeichen oder vergleichsweise lebhafte Patellarsehnenreflexe bei fehlenden Achillessehnenreflexen auf eine zusätzliche Läsion der Pyramidenbahn hinweisen. Diese Zeichen der Myelopathie werden dann bei zunehmender Restitutionstendenz der peripheren Neuropathie im Verlauf von Monaten immer deutlicher: Es stellt sich eine spastische Tonuserhöhung der Beine mit erhöhtem Adduktorentonus ein, auch eine ataktische Komponente kann hinzukommen. Wenn nach Beendigung der Exposition die Zeichen der Läsion des peripheren Neurons aufgrund von Restitutionsvorgängen verschwinden, bleiben Zeichen der Läsion des ersten Motoneurons bestehen.

Clioquinolmyelopathie

Seit Ende der 1950er-Jahre wurde in Japan ein neues klinisches Syndrom beobachtet, die subakute Myelooptikoneuropathie (SMON). Untersuchungen führten zu dem Schluss, dass das Syndrom durch Clioquinol (5-Chlor-7-Iod-8-Hydroxychinolin), ein halogeniertes Hydroxychinolin, das weltweit zur Behandlung von Darminfektionen benutzt wurde, verursacht worden ist (Schaumburg 2000). Das klinische Syndrom umfasste:
  • akutes oder subakutes Auftreten einer Schwäche und Parästhesien und Taubheitsgefühl an den Beinen,
  • Sphinkterstörungen,
  • Störungen des autonomen Nervensystems und
  • bilaterale Sehstörungen, die sich bei gering Betroffenen allein auf das Farbensehen bezogen.
Die Reflexe an den unteren Extremitäten waren bei der Mehrzahl der Patienten gesteigert, ein Babinski-Zeichen konnte bei einem geringen Anteil der Erkrankten beobachtet werden. Inzwischen scheint es gesichert, dass die initial vermutete Neuropathie nicht Teil des klinischen Bildes der Clioquinol-Intoxikation ist. Offen ist die Frage geblieben, warum es zu einem so massiven Ausbruch in Japan gekommen ist, während in anderen Teilen der Welt das Syndrom nur bei einer sehr kleinen Anzahl von Patienten vermutet wurde. Möglicherweise ist die Häufung dadurch erklärt, dass clioquinolhaltige Präparate in Japan in sehr großen Mengen eingenommen wurden; eine Rolle genetischer Faktoren ist nicht ausgeschlossen.

Myelopathie nach Lachgasabusus (NO2)

Die wiederholte Exposition zu hohen Lachgaskonzentrationen kann die Ursache einer toxischen Myelopathie sein (Ludolph und Spencer 1995; Scelsa 2000). Die euphorisierende Wirkung des Anästhetikums und sein Abhängigkeitspotenzial wurden bereits von Sir Humphrey Davy, der die chemische Synthese der Substanz vor 200 Jahren durchführte, beschrieben. Heute wird ein Lachgasabusus v. a. von medizinischen Berufsgruppen, wohl mit Schwerpunkt in den Vereinigten Staaten, betrieben. Lachgas inaktiviert die cobalaminabhängigen Enzyme Methioninsynthetase und Methylmalonyl-CoA-Mutase. Dies führt biochemisch und klinisch zum Bild des Vitamin-B12-Mangels: einer Akkumulation der toxischen Metabolite Methylmalonsäure und Homocystein und zum klassischen neurologischen Bild der sensomotorischen axonalen Neuropathie und Myelopathie, aber auch einer hirnorganischen Leistungseinschränkung und Affektstörung. Die megaloblastäre Anämie scheint nicht Teil des Bildes zu sein, und die Therapie besteht aus der Beendigung der Exposition. Möglicherweise haben auch eine Vitamin-B12- und Methioningabe einen positiven Effekt.

Andere toxische Myelopathien

Bei der gelegentlich bei Heroinabhängigen zu beobachtenden Myelopathie sind neben einem direkten toxischen Effekt auf das Rückenmark eine ischämische und eine entzündliche Reaktion zu bedenken (Mahoney et al. 2018). Die klinische Symptomatik ist durch eine akute Paraparese und eine Blasenstörung gekennzeichnet. Typischerweise hat der Kranke gerade nach einer kurzen Phase der Abstinenz den Missbrauch wieder aufgenommen (Brust 2000). Im Liquor kann das Glial fibrillar acidic protein (GFAP) als Verletzungsmarker deutlich erhöht sein (Sveinsson et al. 2017). Ein Therapieversuch mit hoch dosierten Kortikoiden ist sinnvoll.
Toxische Paraparesen sind auch im Rahmen der Ciclosporin-Intoxikation, der intrathekalen Cytarabin-Applikation, seltener der intrathekalen Methotrexat- und Thiotepa-Gabe beschrieben worden, wobei individuell der Differenzialdiagnose einer toxischen Leukenzephalopathie nachgegangen werden muss (Spencer et al. 2000).

Facharztfragen

1.
Welche Drogen können zu einer akuten Myelopathie führen?
 
2.
Beschreiben Sie das klinische Bild des Neurolathyrismus bzw. Neurocassavaismus.
 
3.
In welchem Teil der Welt wurde die Clioquinolmyelopathie beschrieben?
 
4.
Zu welcher metabolischen Erkrankung hat die Myelopathie nach Lachgasabusus einen klinischen und pathogenetischen Bezug?
 
Literatur
Brust (2000) Heroin. In: Spencer PS, Schaumburg HH, Ludolph AC (Hrsg), Experimental and clinical neurotoxicology, 2. Aufl. Oxford University Press, Oxford, S 623–626
Howlett WP, Brubaker GR, Mlingi N, Rösling H (1990) Konzo, an epidemic upper motor neuron disease studied in Tansania. Brain 113:223–235CrossRef
Lotti M (2000) Organophosphorus compounds. In: Spencer PS, Schaumburg HH, Ludolph AC (Hrsg), Experimental and clinical neurotoxicology, 2. Aufl. Oxford University Press, Oxford, S 898–925
Ludolph AC, Spencer PS (1995) Toxic neuropathies and their treatment. Baillieres Clin Neurol 4(3):505–528PubMed
Ludolph AC, Hugon J, Dwivedi MP, Spencer PS, Schaumburg HH (1987) Studies on the aetiology and pathogenesis of motor neuron diseases. I. Lathyrism: clinical findings in established cases. Brain 110:149–165CrossRef
Mahoney KW, Romba M, Gailloud P, Izbudak I, Saylor D (2018) Acute progressive paraplegia in heroin-associated myelopathy. J Clin Neurosci 51:69–71CrossRef
Scelsa SN (2000) Nitrous oxide. In: Spencer PS, Schaumburg HH, Ludolph AC (Hrsg), Experimental and clinical neurotoxicology, 2. Aufl. Oxford University Press, Oxford, S 882–888
Schaumburg HH (2000) Clioquinol. In: Spencer PS, Schaumburg HH, Ludolph AC (Hrsg) Experimental and clinical neurotoxicology, 2. Aufl. Oxford University Press, Oxford, S 396–400
Spencer PS, Schaumburg HH, Ludolph AC (Hrsg), (2000) Experimental and clinical neurotoxicology, 2. Aufl. Oxford University Press, Oxford
Sveinsson O, Herrman L, Hietala MA (2017) Heroin-induced acute myelopathy with extreme high levels of CSF glial fibrillar acidic protein indicating a toxic effect on astrocytes. BMJ Case Rep. pii: bcr-2017-219903. https://​doi.​org/​10.​1136/​bcr-2017-219903