Belastung der Angehörigen
Eine
Krebserkrankung und die medizinische Behandlung stellen nicht nur für die erkrankte Person, sondern auch für das soziale Umfeld der Erkrankten eine große psychische und soziale Herausforderung dar. Erkrankte und ihre Angehörigen erleben häufig ein hohes Ausmaß an psychosozialer Belastung (McClure et al.
2012). Insbesondere die Partner
und Partnerinnen der Erkrankten sind oft die wichtigste Quelle für emotionale und praktische Unterstützung (Manne und Badr
2008). Sie sind somit in einer Doppelrolle. Auf der einen Seite sind sie „Lieferant“ für Unterstützung, auf der anderen Seite benötigen sie selbst auch Unterstützung im Umgang mit den Belastungen und Herausforderungen durch die Erkrankung und Behandlung. Sie sind also Helfer und Hilfsbedürftige.
Galt eine Krebserkrankung lange Zeit noch als individueller Stressor, der auch individuelle Bewältigungsstrategien erfordert, so wird seit einigen Jahren auch die Belastung der Partner und Partnerinnen zunehmend berücksichtigt (Kayser et al.
2007). Die erforderlichen familiären Adaptationsprozesse führen dazu, dass eine Krebserkrankung inzwischen als Stressor für beide Personen und somit als „We-Disease“ betrachtet wird. Beide Personen sind belastet oder leiden, beide verfügen aber auch über Ressourcen, die zur Bewältigung beitragen können (Hagedoorn et al.
2008; Kayser et al.
2007; Manne und Badr
2008; Moser et al.
2013; Stenberg et al.
2010).
Schon früh wurde in der Literatur das Vorhandensein einer Partnerschaft als gesundheitsfördernder Faktor beschrieben (Goodwin et al.
1987). In einer Studie der 10 häufigsten Tumorentitäten wiesen verheiratete Personen seltener Metastasen auf, entschieden sich häufiger für die vorgeschlagene medizinische Behandlung und zeigten eine geringere Mortalitätsrate als unverheiratete Patienten und Patientinnen (Aizer et al.
2013). Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass die Angehörigen emotionale und praktische Unterstützung bieten, die Behandlungsentscheidungen erleichtern und sich positiv auf das Gesundheitsverhalten auswirken (Zimmermann
2018b).
Trotz dieser positiven Effekte geht eine Krebserkrankung auch mit erheblichen Belastungen für die Angehörigen und die Partnerschaft einher. Auch wenn viele Partner und Partnerinnen ihre Unterstützungsrolle als positiv und bedeutsam erleben (Kim et al.
2008), weisen sie doch ein höheres Ausmaß an Ängstlichkeit und Depressivität sowie ein erhöhtes eigenes Mortalitäts- und Morbiditätsrisiko im Vergleich zu nicht pflegenden oder begleitenden Angehörigen auf (Wilz und Meichsner
2017). Studien belegen, dass 20–50 % der Angehörigen von Krebserkrankten psychosozial stark belastet sind (Pitcealthy und Maguire
2003). Häufige Auswirkungen der Belastungen sind
Anpassungsstörungen, Depressionen und Angst, aber auch Rollenkonflikte und Beziehungsprobleme (Popek und Honig
2015). Einige Studien zeigen zudem, dass auch Angehörige ein teilweise vergleichbar hohes Ausmaß an Progredienzangst (Angst vor dem Fortschreiten der Erkrankung) aufweisen wie die Patienten und Patientinnen (Zimmermann et al.
2012). Insbesondere in einer Partnerschaft kann es zu einer Asymmetrie kommen, in der derjenige in der Krankenrolle alle Privilegien erfährt, wohingegen der andere in der Gesundenrolle alle Pflichten im Alltagsleben, der Pflege der innerfamiliären Beziehungen und der Partnerrolle erfüllen muss. Einige Studien zeigen einen teilweise höheren bzw. länger andauernden seelischen Leidensdruck der Angehörigen im Vergleich zum Erkrankten (Moser et al.
2013).
Auch die Partner und Partnerinnen sind häufig mit der Herausforderung langwieriger Behandlungen mit schwankendem Verlauf und Unsicherheit des Therapieerfolgs sowie permanenter, oft rasch und unvermittelt auftretender Lebensbedrohung (u. U. bereits bei Diagnosestellung) konfrontiert. Und häufig sind sie gerade dann auch noch die Kommunikatoren zu den weiteren Familienangehörigen. Dabei vermischt sich die Rolle des Fürsorgenden mit der Rolle des Mitleidenden sowie existenziell Verängstigten (z. B. den Kindern [s. Kap. „Psychoonkologische Begleitung Kinder krebskranker Eltern“] oder alten Eltern gegenüber) mit der Rolle des Schützenden den Dritten gegenüber. Hinzu kommen langandauernde logistische Anforderungen in der Versorgung der Patient*innen und die notwendig gewordene Kompensation der vorherigen familiären und sozialen und gegebenenfalls ökonomischen Funktionen der Erkrankten.
Dies kann die Angehörigen vielfach an ihre eigenen Belastungsgrenzen bringen. Enorme Anforderungen für die Partner und Partnerinnen ergeben sich auch aus den oft starken körperlichen Einschränkungen und den Folgen sichtbarer körperlicher Veränderungen der Erkrankten, die nicht selten mit einem deutlichen Selbstwertverlust auf beiden Seiten einhergehen. Hinzukommen Gefühle wie Ekel oder Scham. Einige Erkrankungen und Behandlungen gehen auch mit einer reduzierten Immunkompetenz des Erkrankten einher, die Lebensstiländerungen notwendig machen und nicht selten zu sozialem Rückzug und einem damit zusammenhängenden Wegfall psychosozialer Verstärker einhergehen. Während rasch progrediente Krankheitsphasen häufig durch ein vorübergehendes Aussetzen der eigenen Berufstätigkeit kompensiert werden können, müssen die gesunden Partner und Partnerinnen bei langen chronischen Verläufen nach Kompromissen suchen, die es ihnen ermöglichen, die Doppelrolle und die Vielfachbelastung durch Verpflichtungen als Partner*in, Familienleitfigur und sozialer Sicherung zu übernehmen und längerfristig physisch wie psychisch auszuhalten.
Neben den psychosozialen Belastungen
kann die Versorgung eines erkrankten Partners oder einer Partnerin auch mit psychophysiologischen Veränderungen wie z. B. erhöhtem Blutdruck, Dysregulationen des autonomen Nervensystems und der Hypothalamus-Hypophysen-Achse sowie immunologischen Veränderungen und einem geringeren Gesundheitsverhalten auf Seiten der Partner und Partnerinnen einhergehen (Teixeira et al.
2018). Dies kann sich als Nervosität, Unruhe, Reizbarkeit,
Schlafstörungen,
Schwindel, Herzrasen,
Kopfschmerzen sowie einer geringeren Immunabwehr, erhöhtem Alkohol- oder Tabakkonsum, ungünstigem Ernährungs- oder Bewegungsverhalten bemerkbar machen (Zimmermann
2018a).
Veränderungen der Partnerschaft
Die Auswirkungen einer Krebserkrankung auf die Partnerschaft
werden in der Forschung schon seit längerer Zeit berücksichtigt (Badr und Krebs
2013; Li und Loke
2014). Während der akuten medizinischen Behandlung betreffen die häufigsten Veränderungen den partnerschaftlichen Alltag. Veränderungen oder eine Umkehr der Rollen und Einschränkungen bisheriger Aktivitäten können belastend sein und zum sozialen Rückzug bis hin zur sozialen Isolation führen. Auch finanzielle Belastungen können die Existenz bedrohen und einen zusätzlichen Stressor darstellen (Zimmermann
2018b). Eine Krebserkrankung wirkt sich auch auf die Lebens- und Zukunftsplanung (z. B.
Kinderwunsch, berufliche Entwicklung, gemeinsame Reisen) des Einzelnen und des Paares aus. Diese Veränderungen können vorübergehend oder aber auch dauerhaft sein.
Die Versorgung eines erkrankten Menschen kann mit neuen Anforderungen an die Organisation und die Gestaltung des Alltags einhergehen. Neben der emotionalen Unterstützung ist möglicherweise auch die Aneignung von neuen Fertigkeiten (z. B. pflegerischer Art oder der bislang rollenverteilten Sorge um die Familienbürokratie) erforderlich. Die Partner und Partnerinnen müssen die Veränderungen beim Erkrankten wahrnehmen, akzeptieren und in die Partnerschaft integrieren. Dies ist ein wichtiger Schritt in der Anpassung eines Paares an ein belastendes Ereignis (Zimmermann
2018b). Gleichzeitig müssen sie auf die bisher vorhandene psychische und organisatorische Unterstützung des Erkrankten verzichten.
Nicht selten erleben Angehörige belastende Emotionen wie Angst, Depressivität, Insuffizienzgefühle, aber auch Wut oder Schuldgefühle (Wilz und Meichsner
2017). Zudem haben sie häufig nur wenig Möglichkeiten, ihre Ängste und Sorgen zu adressieren, da der Fokus auf dem Erkrankten liegt und Angehörige selten systematisch in der Versorgung berücksichtigt werden (Appelbaum und Breitbart
2013). Das Medizinsystem allgemein hat hier Nachholbedarf, lediglich in der soziologischen Betrachtung der Palliativmedizin sprechen wir schon lange von der „unit of care
“ (Litman
1974). Damit ist gemeint, dass neben dem Erkrankten ganz selbstverständlich auch die gesunden Partner und Partnerinnen in den Fokus der medizinischen Wahrnehmung und Fürsorge genommen werden, auch wenn sie gleichzeitig eine wichtige Rolle im Versorgungssystem darstellen.
Ein partnerschaftlich relevanter Bereich ist auch die sexuelle Funktionsfähigkeit. Während der medizinischen Akutbehandlung spielt Sexualität
häufig eine untergeordnete Rolle. Im weiteren Verlauf entsteht jedoch wieder ein Bedürfnis nach Sexualität und Intimität
. Viele medizinische Behandlungen gehen mit temporären oder dauerhaften Beeinträchtigungen der sexuellen Funktionsfähigkeit einher. Die Nichterkrankten sind häufig unsicher, ob und wann sie sich dem Erkrankten wieder annähern sollen. Sie wollen die Angst des anderen nicht verstärken und sind sich auch unsicher bezüglich möglicher Schmerzen. Häufig geraten Paare in einen Teufelskreis beginnend mit dem Bemühen um sexuelle Erregung, einem darauf folgenden Leistungsdruck, Versagensängsten oder einer gespannten Erwartung, die zu einer fehlenden sexuellen Erregung und Verkrampfung führen kann, die somit in Misserfolg gefolgt von Resignation, Vermeidung und vermiedener sexueller Annäherung resultiert (Zimmermann und Heinrichs
2008). Es zeigt sich jedoch, dass Paare, die möglichst bald nach der Erkrankung und Behandlung wieder sexuell aktiv werden, eine bessere Anpassung an die Erkrankung aufweisen (Wimberly et al.
2005). Sexualität stellt somit ein bedeutsames Thema dar, dass auch vom Fachpersonal adressiert werden sollte (s. auch Kap. „Sexualität und Krebs“).
Unterstützung der Angehörigen
Obwohl die Angehörigen psychosoziale Belastungen erleben, werden sie vom sozialen Umfeld hauptsächlich oder ausschließlich in ihrer Rolle als soziale und emotionale Stütze für den Erkrankten wahrgenommen. Dies kann zu einem permanent hohen sozialen Erwartungsdruck einer uneingeschränkten Leistungsbereitschaft gegenüber dem Erkrankten führen. Nicht selten finden sich Angehörige in einem konfliktträchtigen Spannungsfeld zwischen den Erwartungen des Erkrankten, des sozialen Umfeldes und des Behandlungssystems auf der einen Seite sowie der eigenen Belastung, Ohnmacht und Hilflosigkeit auf der anderen Seite wieder (Ernst und Weißflog
2016).
Eine systematische Erfassung ihres psychosozialen Befindens sowie die Entwicklung und Verfügbarmachung professioneller psychosoziale Hilfsangebote und Interventionen erfolgen bisher nur vereinzelt (Northouse et al.
2010; Wootten et al.
2014). Einige psychoonkologische Interventionen
beziehen zwar auch die Partner*innen mit ein (Northouse et al.
2014; Sheinfeld Gorin et al.
2012), sind jedoch meistens nicht auf deren spezifische Anliegen zugeschnitten (O’Toole et al.
2017).
Ein weiteres Problem stellt die Erreichbarkeit der Angehörigen dar. Eine aktuelle Übersichtsarbeit zu Interventionen ausschließlich für Partner*innen von Krebserkrankten identifiziert lediglich 9 Studien, davon 2 randomisiertkontrollierte Studien (Kleine et al.
2019).
Bezüglich der Wirksamkeit partner- oder paarbezogenen Interventionen in Studien zeigen sich mittlere Effekte (d = 0,35–0,45) für die Verbesserung der Kommunikation, der Beziehungsqualität und den Rückgang von Distress innerhalb der Paarbeziehung (Badr und Krebs
2013; Regan et al.
2012). Bei Interventionen, die sich nur an die Partner*innen richten, finden sich signifikante Effekte für posttraumatisches Wachstum, Coping und soziale Unterstützung (Kleine et al.
2019).
Eine
Metaanalyse kommt zu dem interessanten Ergebnis, dass hinsichtlich der Outcomes für den Erkrankten (körperliche und
psychische Gesundheit) die nur partnerbezogenen Interventionsansätze den familienbezogenen als überlegen einzuschätzen sind (Hartmann et al.
2010). Möglicherweise ist der Einbezug des ganzen familiären Systems zu komplex und divers, um die Auswirkungen methodisch belegen zu können.