Einleitung
Wer Krebserkrankungen behandelt, muss sich nicht nur Gedanken über die Beseitigung des Tumors und möglicher Metastasen sowie die Verlängerung des Gesamtüberlebens machen. Das Ziel der Behandlung ist vielmehr umfassend: Es gilt, eine Balance zu finden zwischen der Aggressivität der notwendigen Maßnahmen einerseits und der Schonung von Gewebe und Funktionalität andererseits. Mit anderen Worten geht es darum, die
Lebensqualität der Patienten so gut es geht zu erhalten oder wiederherzustellen. Im medizinischen Bereich ist damit praktisch immer die
gesundheitsbezogene Lebensqualität gemeint, auch wenn man verkürzt von „Lebensqualität“ spricht.
Wichtig dabei ist, sich klar zu machen, dass nur der Patient sagen kann, wie seine
Lebensqualität im Moment ist. Per definitionem ist dies ein
subjektives Konstrukt. Das heißt, dass weder Angehörige noch Ärzte, noch Pflegende, noch Psychoonkologen für den Patienten sagen können, wie es ihm geht. Das kann nur er oder sie selbst.
Für Patienten hat ihre
Lebensqualität eine hohe Bedeutung. Ein gesunder Mensch kann nur schwer einschätzen, was es bedeutet, bestimmte Funktionen des Körpers nicht mehr oder nicht mehr voll zur Verfügung zu haben. Wir nehmen etwas für gegeben und selbstverständlich, dessen Abwesenheit wir nicht oder kaum kennen. Ein
Beispiel sind Schluckprobleme, die nach einer Kehlkopfteilresektion oder nach Bestrahlungen im Kopf-Hals-Bereich auftreten können. Im Alltag nutzen wir unsere Schluckfunktion
permanent und sind uns dessen kaum bewusst. Erst, wenn wir nicht mehr schlucken können, wird uns klar, dass wir sie nicht nur für das Essen benötigen, sondern auch zwischen den Mahlzeiten Speichel schlucken, der wiederum für die Gesundheiterhaltung der Mundflora wichtig ist. Dieses Beispiel mag genügen, um zu zeigen, dass es unerlässlich ist, die Krebserkrankten selbst nach der Einschätzung ihrer Lebensqualität zu fragen.
Lebensqualität vs. Allgemeinzustand
Vor Einleitung einer hämatologischen oder onkologischen Therapie ist es wichtig, die Therapiefähigkeit des Patienten zu bestimmen. Seit Jahrzehnten geschieht dies meist durch die Bestimmung
Karnofsky Performance Status Scale: Die Karnofsky Performance Status Scale
wurde 1949 entwickelt, um die
Lebensqualität sowie Einschränkungen in Aktivität und Versorgung bei onkologischen Patienten bewerten und somit die Therapiefähigkeit einschätzen zu können. Die Skala reicht von 100 (keine Einschränkungen) bis 0 % (Tod).
ECOG Performance Status: Neben dem Karnofsky Performance Status wird im klinischen Alltag der ECOG Performance Status
verwendet, der 1960 von der Eastern Cooperative Oncology Group eingeführt wurde. Der ECOG Performance Status umfasst 6 Punkte von 0 (normale uneingeschränkte Aktivität wie vor der Erkrankung) bis 5 (Tod) (Oken et al.
1982).
Eine
Umrechnung des Karnofsky Performance Status in den ECOG Performance Status und umgekehrt ist nicht ohne Weiteres möglich (Verger et al.
1992). Dennoch gilt für beide, dass ein schlechter Performance-Status mit einem erhöhten Risiko für therapiebedingte Nebenwirkungen und einem schlechteren Therapie-Outcome (u. a. progressionsfreies Überleben, Gesamtüberleben) im Vergleich zu Patienten mit einem guten bis sehr guten Performance-Status assoziiert ist.
In diversen Publikationen früherer Zeiten wurde der Karnofsky oder ECOG Performance Status mit der
Lebensqualität der Patienten gleichgesetzt. Ein schlechter Performance-Status wurde mit einer schlechten Lebensqualität assoziiert, eine Zunahme oder Abnahme des Performance-Status bedeutete eine Zunahme oder Abnahme der Lebensqualität. Allerdings sind beide Skalen nur eine sehr oberflächliche und fremdbestimmte Einschätzung der patientenbezogenen Lebensqualität. Sie sind nicht annähernd in der Lage, die Lebensqualität in ihrer Multidimensionalität widerzuspiegeln, und sie geben nicht die Sicht des Patienten wieder.
„
Patient-Reported Outcomes“: Im Gegensatz zum Performance-Status gehört die gesundheitsbezogene
Lebensqualität zu den so genannten „Patient-reported Outcomes
“ (PRO) und wird durch den Patienten selbst angegeben und nicht durch den Arzt, Pflegepersonal oder Angehörige (Deshpande et al.
2011).
Um die
Lebensqualität zu evaluieren, stehen verschiedene
Messinstrumente, wie z. B. Interviews und Fragebögen, zur Verfügung (Velikova et al.
2012). Zu den in klinischen Studien am häufigsten verwendeten Fragebögen gehört der Core Questionnaire
der European Organisation for Research and Treatment of Cancer (EORTC) und seine entitäten- und therapiespezifischen Module (Aaronson et al.
1993). Mithilfe von standardisierten, validierten Fragebögen ist es möglich, die Lebensqualität des Patienten zu messen, zu objektivieren und vergleichbar zu machen. Im Gegensatz zum Karnofsky und ECOG Performance Status wird die Lebensqualität nicht durch den Untersucher (Arzt, Pflege etc.) angegeben. Durch die standardisierte Erfassung in Form von Fragebögen, mit festgelegten Instruktionen und Antwortalternativen, können die Antworten und damit die Ergebnisse auch wenig von Externen beeinflusst werden. Das bedeutet, diese Bögen erfüllen das Testgütekriterium der „Objektivität“. Damit sind sie gut geeignet, das tatsächliche Befinden des Patienten, im Sinne eines subjektiven Gesundheitsstatus, zu erfassen.
Die
Lebensqualität wird durch sehr unterschiedliche
Parameter beeinflusst. Nicht jede Funktionseinschränkung des Patienten oder Nebenwirkung der Therapie wirkt sich negativ auf die Lebensqualität aus. Das liegt daran, dass Patienten ihre Vorstellungen von ihrer eigenen Lebensqualität in verschiedenen Lebenssituationen unterschiedlich bewerten. Diese Differenzierung und Berücksichtigung der Wandelfähigkeit der Lebensqualität kann durch die Performance-Stati nicht wiedergegeben werden.
Exemplarisch für die Diskrepanz zwischen Einschätzung durch Arzt und Einschätzung durch den Patienten selbst ist eine multizentrische Studie an Patienten mit
kolorektalem Karzinom zu nennen. 44 % der Patienten, die vom Arzt als beschwerdefrei mit einem guten Gesundheitsstatus eingeschätzt wurden, gaben Beschwerden und Symptome an, die eindeutig der Tumorerkrankung zuzuschreiben waren (Glimelius et al.
1992). In einer anderen Studie, in der
Tomudex (Raltitrexed) mit
5-FU plus Leucovorin verglichen wurde, wurde kein statistisch signifikanter Unterschied bezüglich Übelkeit und Erbrechen Grad 3–4 zwischen den beiden Armen festgestellt. Die Lebensqualitätsuntersuchungen ergaben aber ein signifikant höheres Auftreten von starker Übelkeit und Erbrechen bei Patienten, die mit Tomudex behandelt wurden (Cunningham et al.
1996).
Ergebnisse der Lebensqualitätsmessungen helfen, das wahre subjektive Befinden des Patienten zu erfassen und tragen zum besseren Verständnis tumorbedingter und therapiebedingter Symptome bei. Es ist dem Arzt oder der Pflege nicht immer möglich, das wahre Befinden und die Symptomlast der Patienten zu erahnen, wie im vorherigen Abschnitt dargestellt. Da diese aber durchaus Auswirkungen auf Therapieentscheidungen, Adhärenz und Prognose haben können, ist es sehr wichtig, die reale Symptomlast zu bestimmen.
Lebensqualität vs. Toxizität
Common Terminology Criteria for Adverse Events (CTCAE): International werden sämtliche Nebenwirkungen in der Onkologie unabhängig von vermuteter Ursache und Zeitpunkt des Auftretens nach den Common Terminology Criteria for Adverse Events (CTCAE)
klassifiziert, die vom National Cancer Institute der USA herausgegeben werden und seit November 2017 in der Version 5.0 vorliegen (CTCAE
2018). In deutscher Sprache ist zunächst noch die Version 4.03 aus 2016 verfügbar. Das umfangreiche Regelwerk ermöglicht die Klassifikation von Toxizitäten innerhalb von Systemorganklassen nach Schweregrad auf einer Skala von 1 bis 5. Die Einteilung nach CTCAE wird primär durch medizinisches Fachpersonal vorgenommen und als objektives Bewertungssystem angesehen, beinhaltet aber vielfach eine subjektive Bewertung einer Beschwerde (z. B. „leichter Schmerz“, „mäßiger Schmerz“) sowie die von Patienten zu beurteilende Beeinträchtigung der Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL bzw. im Englischen „Activities of Daily Living“, ADL).
„
Patient-reported Outcomes“: Dem Konzept der CTCAE steht die subjektive Einschätzung von
Lebensqualität und Symptomen in Form von „Patient-reported Outcomes“ (PRO) gegenüber, die auf einer ungefilterten Einschätzung von Beeinträchtigungen aus der Patientenperspektive – in der Regel anhand validierter Fragebögen, z. B. der EORTC Quality of Life Group – beruht. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass die Einschätzung von Lebensqualität, Funktionen und Symptomen durch medizinisches Fachpersonal diskrepant von der Einschätzung durch Patienten sein kann (siehe auch vorheriger Abschnitt). Auch in Studien unterscheiden sich berichtete „Patient-reported“- und „Physician-reported“-Toxizitäten. Ein systematisches Review von Studien zu
Nebenwirkungen der präoperativen Therapie des Rektumkarzinoms zeigte beispielsweise, dass in Berichten zu objektiven Toxizitäten Baseline-Symptome und -Funktionen nicht beschrieben wurden (denn diese stellten ja keine therapiebedingten Nebenwirkungen dar), häufig nur höhergradige Toxizitäten berichtet wurden (z. B. ≥ Grad 3) und in der CTCAE-Systematik distinkte Nebenwirkungen häufig gepoolt ausgewertet wurden (z. B. „Darmtoxizitäten Grad 3“) (Gilbert et al.
2015). Studien mit Präsentation von PRO- bzw. Lebensqualitätsdaten berichteten hingegen häufiger über prätherapeutische Symptome und Funktionen und dokumentierten auch leichtgradige Nebenwirkungen.
Konzept der PRO-CTCAE: Eine Synthese aus beiden Vorgehensweisen stellt das Konzept der PRO-CTCAE dar. Um eine reliablere Klassifikation symptomatischer Ereignisse zu ermöglichen und eine Unterschätzung von Toxizitäten zu vermeiden, wurden aus dem CTCAE-System 78 Toxizitäten ausgewählt, deren Klassifikation mit insgesamt 124 von den Patienten zu beantwortenden Fragen zu Häufigkeit, Schweregrad und Beeinträchtigung eindeutig ermittelt werden kann (Basch et al.
2014). In deutscher Sprache wurde bisher ein Kerndatensatz aus PRO-CTCAE mit 31 Fragen zu 14 Nebenwirkungen validiert (Hagelstein et al.
2016). Obwohl die ursprüngliche Motivation der Entwicklung von PRO-CTCAE die Gewinnung valider Daten zu Toxizitäten in klinischen Studien war, hat die Nutzung von PRO-CTCAE in der onkologischen Routineversorgung bereits eine große Bedeutung erlangt. So konnte in einer randomisierten Studie an ambulanten Chemotherapiepatienten gezeigt werden, dass die Teilnahme an einem
„Symptom-Tracking-and-Reporting“-Programm mit elektronischer Beantwortung von Fragen zu 12 CTCAE-Symptomen durch die Patienten sowie Mitteilung auffälliger Befunde an das Behandlungsteam im Vergleich zur Routineversorgung ungeplante Krankenhausaufnahmen reduzierte sowie die
Lebensqualität und in der Langzeitauswertung auch das Gesamtüberleben verbesserte (Basch et al.
2016,
2017).
Messung von Lebensqualität
Methoden zur Messung der
Lebensqualität, sei es in klinischen Studien, sei es in der Routineversorgung, wurden von Holzner et al. im Kap. „Patient-reported Outcomes zur Lebensqualitätserfassung in der Onkologie“ dargestellt.
In Ergänzung hierzu sei noch auf die Besonderheiten in der Bundesrepublik Deutschland eingegangen. Hier gibt es seit 2011 das
Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG), das unter anderem die Preisentwicklung bei den Arzneimittelneuentwicklungen kontrollieren soll. Für ein neues Medikament kann seitdem nach der Zulassung nur dann ein höherer Preis verlangt werden, wenn ein Zusatznutzen nachgewiesen werden kann. Ein solcher Zusatznutzen liegt dann vor, wenn sich das Überleben verbessert, die Morbidität sinkt oder die
Lebensqualität besser ist im Vergleich zur bisherigen Standardtherapie. Um dies nachzuweisen, müssen die Hersteller umfangreiche Dossiers erarbeiten, die vom IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) und bei seltenen Erkrankungen vom G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss) geprüft werden.
In diesem Zusammenhang stellt sich nun die Frage, ab wann man von einer Verbesserung der
Lebensqualität sprechen kann. Dies betrifft die Größe des Effekts, aber auch die Güte der Messung. Sowohl IQWiG als auch G-BA prüfen also auch die Qualität der eingesetzten Messinstrumente. Dabei achten sie unter anderem auf die Reliabilität, die Inhaltsvalidität, die Konstruktvalidität und die Änderungssensitivität. Hier ist nun zu klären, ab wann ein Fragebogen eigentlich reliabel, valide und änderungssensitiv genug ist. Dafür gibt es nur für einzelne Gütekriterien klare Festlegungen oder auch nur Expertenkonsense. Beispielsweise ist man sich weitgehend einig, dass die interne Konsistenz einer Skala bei mindestens 0,70 liegen sollte. Darüber hinaus wird es oft schwammig, entweder weil sich keine Kriterien festlegen lassen oder weil es bislang einfach noch nicht erfolgt ist. Einen wesentlichen Schritt in Richtung Konsensus hat die
International Society for Quality of Life (ISOQOL) getan. Sie hat aufgrund eines Delphi-Verfahrens unter Experten und evidenzbasiert eine Liste erarbeitet, welche Gütekriterien ein Instrument erfüllen sollte und in welchem Ausmaß (Reeve et al.
2013).
Empfehlenswerte Fragebögen im Bereich Onkologie sind in Kap. „Patient-reported Outcomes zur Lebensqualitätserfassung in der Onkologie“ zusammengestellt. Wichtig zu erwähnen scheint darüber hinaus, dass der EQ-5D, ein häufig eingesetztes Instrument für gesundheitsökonomische Fragestellungen, kein Lebensqualitätsinstrument ist. Es wird vom G-BA als solches auch nicht akzeptiert.
Anwendungsbereiche
Der klassische Anwendungsbereich für Lebensqualitätsmessungen sind klinische Studien. Hierfür wurden die meisten Instrumente gezielt entwickelt. Sie erfassen daher vor allem akute Lebensqualitätsbeeinträchtigungen und sind änderungssensitiv. Darüber hinaus wurden und werden die Fragebögen sehr häufig auch in Beobachtungsstudien eingesetzt, zunehmend auch in klinischen Registern, in der Routineversorgung zum klinischen Monitoring und teilweise auch zu Qualitätssicherungszwecken (für eine Übersicht siehe Kap. „Patient-reported Outcomes zur Lebensqualitätserfassung in der Onkologie“). Gerade in der Routineversorgung findet die Datenerhebung zunehmend computer- und/oder webbasiert statt, das heißt mit so genannten ePROs. Dafür existieren mehrere gut entwickelte Softwarelösungen, sodass es sich nicht empfiehlt, für die eigene Klinik oder Praxis erneut ein eigenes System zu entwickeln.