Erbliche Disposition beim Retinoblastom: ein untypischer Prototyp
Das
Retinoblastom ist ein bösartiger Tumor der Netzhaut, der im frühen Kindesalter auftritt. Die Inzidenz der Erkrankung ist niedrig und zeigt keine Unterschiede, die auf einen möglichen Einfluss der Umwelt hinweisen könnten. In den Familien der meisten Patienten ist keine weitere Erkrankung an einem Retinoblastom bekannt (sporadische Erkrankung).
Eine familiäre Häufung von
Retinoblastom wurde erstmals 1821 und, im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts, dann mehrfach berichtet. In den ersten Berichten zeigte sich die familiäre Häufung als Erkrankung mehrerer Geschwister gesunder Eltern. Erst ab dem Ende des 19. Jahrhunderts gab es dann zunehmend Berichte von betroffenen Eltern-Kind-Paaren (vertikalen Transmissionen).
Aufgrund des Musters der Erkrankungsfälle in Familien wurde ein dominant monogener Erbgang vermutet (Griffith und Sorsby
1944). Zur Erklärung des Überwiegens sporadischer Fälle wurde von Vogel (
1954) vermutet, dass ein großer Anteil der sporadischen
Retinoblastome eine nicht erbliche Ursache hat (Vogel
1954).
Ausgehend von der Annahme, dass die Krebsentstehung wesentlich von
somatischen Mutationen abhängt, entwickelte Knudson (
1971) nach Analyse der Tumorzahl und des Diagnosealters bei Patienten mit
Retinoblastom seine
Zwei-Schritt-Hypothese (Moolgavkar und Knudson
1981). Danach wird das Retinoblastom durch 2 Mutationsereignisse verursacht:
Dies erklärt, warum bei der erblich dominanten Form, bei der nur ein Mutationsereignis für die Tumorinitiation erforderlich ist, meist mehrere Tumorherde entstehen (oft in beiden Augen) und bei Patienten mit der nicht erblichen Form, bei der 2 Ereignisse erforderlich sind, hingegen nur ein Tumorherd entsteht.
Die
Knudson-Hypothese war richtungsgebend für die Aufklärung der genetischen Ursache des
Retinoblastoms. Die Erkennung konstitutioneller chromosomaler Veränderungen am langen Arm des
Chromosoms 13 bei Patienten mit Retinoblastom, die genetische Kopplung (gemeinsame Vererbung in familiären Fällen) mit Varianten auf Chromosom 13 und die Analyse somatischer Veränderungen in Tumoren führten zur Identifikation der genomischen Lokalisation des Gens, das durch diese 2 Mutationsereignisse krankheitsursächlich verändert wird. Der Nachweis einer Veränderung eines isolierten Abschnitts auf Chromosom 13 in Retinoblastomen führte dann zur Bestimmung der Gensequenz des krankheitsursächlichen Gens (
RB1). Die Entdeckung des
RB1-Gens ermöglichte die genetische Diagnostik bei Patienten mit Retinoblastom. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen bekräftigten die Gültigkeit der Knudson-Hypothese (Übersicht in (Lohmann und Gallie
2004)). Veränderungen des
RB1-Gens
in Retinoblastomen führen meist zum Verlust des pRb-Proteins. Inaktivierende Veränderungen beider Allele des
RB1-Gens werden auch als
somatische Mutationen in anderen Tumorentitäten gefunden. Das
RB1-Gen ist somit ein typisches Beispiel eines
Tumorsuppressorgens (Stanbridge
1990).
Das
Retinoblastom ist der Prototyp einer Neoplasie, die sowohl als erbliche als auch als nicht erbliche Erkrankung auftreten kann. Die besondere Konstellation beim Retinoblastom, insbesondere der hohe Anteil erblicher Erkrankungen (nahezu 50 %) und das sehr frühe Erkrankungsalter bei zugleich meist vollständiger
Penetranz, erleichtert es, das Vorliegen einer erblichen Disposition zu erkennen. Diese Voraussetzungen, familiäre Häufung und seltene Erkrankung, sind bei vielen anderen erblichen Tumordispositionen jedoch nicht gegeben. Zusätzlich betreffen bei vielen familiären Krebserkrankungen die krankheitsursächlichen Veränderungen unterschiedliche Genorte (Locusheterogenität). Dies erschwert die Identifikation der für die erbliche Disposition ursächlichen Gene.
Die erbliche Disposition zu Krebs durch eine Veränderung eines Gens (monogen) mit hoher
Penetranz ist ein Extrem im Spektrum des Einflusses genetischer Unterschiede auf das Krebsrisiko. Am anderen Ende dieses Spektrums ist ein erhöhtes Krebsrisiko die Folge eines Zusammenwirkens vieler erblicher Risikofaktoren (polygen determinierte Disposition
) und ggf. zusätzlich erforderlicher Umwelteinflüsse (multifaktorielle Disposition
).
Autosomal dominant erbliche Disposition zu Brustkrebs
Der Brustkrebs
ist die häufigste bösartige Erkrankung bei Frauen weltweit. Die Inzidenzrate in Abhängigkeit vom Alter bei Diagnose ist variabel, und dies ist auch bei dem um etwa den Faktor 100 selteneren Brustkrebs bei Männern erkennbar. Das Auftreten der Erkrankung zeigt große Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern. Die Analyse der regionalen Variation unter Berücksichtigung der ethnischen Herkunft und Änderungen nach
Migration lassen darauf schließen, dass die beobachteten geografischen Unterschiede teils auf unterschiedliche Lebensstile und teils auf genetische Unterschiede zurückgeführt werden können.
Beschreibungen familiärer Häufung von Brustkrebs gab es schon in der Antike (Übersicht in (King
2014)). Im 19. Jahrhundert berichtete Paul Broca über Familien mit Brustkrebs in mehreren Generationen. Die Bestimmung des familiären relativen Risikos zeigte, dass erstgradige weibliche Angehörige von Patientinnen mit früh (prämenopausal) aufgetretenem Brustkrebs gegenüber Kontrollen (Familien mit anderen Krebserkrankungen) ein etwa zweifach erhöhtes Brustkrebsrisiko haben (Anderson
1972). Angehörige von Patientinnen mit beidseitigem Brustkrebs zeigten ein etwa fünffach erhöhtes und bei prämenopausal beidseitigem Brustkrebs ein neunfach erhöhtes Erkrankungsrisiko (Anderson
1972). Die Ergebnisse der Familienanalyse bekräftigen also, dass es genetische Risikofaktoren gibt. Sie geben jedoch keine Auskunft über die genetischen Modelle der Wirkung dieser Faktoren (ein oder mehrere Hauptgene mit hoher
Penetranz oder viele Gene mit je geringem Beitrag zur Risikoerhöhung).
Die Arbeitsgruppe um King nutzte eine komplexe Segregationsanalyse, um verschiedene Modelle mit genetischen und nicht genetischen Komponenten an Daten von 18 Stammbäumen mit familiärem Brustkrebs zu testen (Go et al.
1983). Sie konnte zeigen, dass die familiäre Häufung der Erkrankung in 16 dieser Familien am besten unter Annahme eines autosomal dominanten Erbgangs mit hoher
Penetranz erklärt werden kann (Go et al.
1983).
Durch
Kopplungsanalysen wurde die Lokalisation der für diesen Erbgang ursächlichen genetischen Veränderungen bestimmt. Dazu untersuchte King Familien, die nach den Kriterien frühes Diagnosealter, häufige beidseitige Erkrankung und vergleichsweise häufiges Auftreten von Brustkrebs bei Männern ausgewählt waren (Hall et al.
1990). In einigen dieser Familien zeigte das Brustkrebsrisiko Kosegregation mit einem Locus auf
Chromosom 17q21. Durch die Kopplungsanalyse konnte also die genomische Lokalisation eines für die Disposition zu Brustkrebs ursächlichen Hauptgens eingegrenzt werden.
Dieses Ergebnis war die Grundlage für die Identifikation des Gens, das in mutierter Form für das dominant erbliche Brustkrebsrisiko ursächlich ist (
BRCA1; (King
2014)). Die Veränderungen führen überwiegend zu einem Funktionsverlust dieses Allels, und im Zuge der Tumorentstehung kommt es durch eine zweite Mutation, so wie beim erblichen
Retinoblastom – zu einem Funktionsverlust auch des anderen Allels.
In Brustkrebsfamilien, in denen der monogene Erbgang nicht durch Mutationen im
BRCA1-Gen erklärt werden konnte, wurde durch
Kopplungsanalyse ein zweiter Genort bestimmt und ein weiteres Brustkrebsgen mit hoher
Penetranz identifiziert (
BRCA2).
Mutationen in den
BRCA1- und
BRCA2-Genen können 5–10 % der Erkrankungen an Brustkrebs bei Frauen erklären. Neben einer hohen
Penetranz für das Merkmal Brustkrebs haben Mutationsträger auch ein erhöhtes Risiko für andere Tumoren, insbesondere für
Ovarialkarzinom („hereditary predisposition to breast and ovarian cancer“, HBOC). Es gibt viele verschiedene krankheitsursächlich veränderte Allele des
BRCA1- und des
BRCA2-Gens (allelische Heterogenität). Im Vergleich zum erblichen
Retinoblastom ist der Anteil von Patientinnen mit Neumutationen jedoch gering. Zudem weisen geografische und populationsbezogene Unterschiede im Spektrum krankheitsursächlicher Allele auf eine rezente gemeinsame Abstammung identisch veränderter Allele hin („identity by descent“).
Genetische Einflussfaktoren des Risikos für Prostatakarzinom
Das
Prostatakarzinom ist in Europa, Nordamerika und Teilen Afrikas die häufigste Krebserkrankung bei Männern (Übersicht in (Grönberg
2003)). Die Diagnose wird selten vor dem 50. Lebensjahr gestellt, und etwa 85 % der Patienten sind zum Zeitpunkt der Diagnose älter als 65 Jahre. Die Inzidenzrate ist international sehr variabel, und zwischen Populationen wurden bis zu 90-fache Unterschiede berichtet – mit niedrigen Raten in Ostasien und hohen Raten bei Afroamerikanern in Nordamerika. Nach
Migration nach Nordamerika steigt bei Menschen ethnisch japanischer Herkunft das Risiko, erreicht aber dennoch nur 25 % der Rate von dort lebenden Afroamerikanern. Dies weist auf eine Mitwirkung polymorpher Varianten hin, die mit unterschiedlichen Allelfrequenzen in den verschiedenen Populationen vorkommen.
Erhebungen zur Konkordanz von Merkmalen bei eineiigen im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen können zur Schätzung der Heritabilität eines Merkmals genutzt werden ((Polderman et al.
2015) – zum Konzept der Heritabilität
siehe Visscher et al.
2008). Analysen in verschiedenen Populationen zur Konkordanz von
Prostatakarzinom bei Zwillingen ergaben, dass das Risiko für Prostatakrebs die höchste Heritabilität im Vergleich zu anderen häufigen Krebserkrankungen aufweist (Hjelmborg et al.
2014; Lichtenstein et al.
2000; Polderman et al.
2015). Familienanalysen zum relativen Risiko zeigten eine Verdopplung des Risikos bei Männern mit einem erkrankten Vater oder einem erkrankten Bruder (Steinberg et al.
1990). Das relative Risiko war darüber hinaus noch erhöht, je mehr in erstem und zweitem Grad verwandte Männer zusätzlich erkrankt waren sowie bei frühem Alter bei Diagnose des Probanden (Carter et al.
1992). Eine familiäre Häufung über mehrere Generationen ist hingegen sehr selten (Carter et al.
1993). Ganz allgemein muss bei der Bewertung entfernter Erkrankungsfälle in einer Familie gegen zufällig gemeinsames Auftreten korrigiert werden, das bei einem häufigen Tumor wie dem Prostatakarzinom auch ohne Annahme erblicher Faktoren zu erwarten ist.
Durch Segregationsanalysen wurde die familiäre Häufung von
Prostatakarzinom auch unter Berücksichtigung des Alters bei Diagnose untersucht (Carter et al.
1992; Schaid et al.
1998). Ein Model zur Erklärung der Daten wurde für die Untergruppe der Probanden mit einem Diagnosealter unter 60 Jahren gefunden. Hier passten die Beobachtungen zu einer autosomal dominanten Wirkung eines seltenen Allels mit hoher
Penetranz.
Eine genomweite
Kopplungsanalyse in 91 Familien mit je 3 oder mehr an Prostatakrebs erkrankten Angehörigen ersten Grades zeigte in einigen dieser Familien Kosegregation zu einer Region auf
Chromosom 1 (1q24-25, „hereditary prostate cancer 1“, HPC1
(Smith et al.
1996)).
Die Suche nach Genveränderungen, die für die beobachtete Kopplung in Familien ursächlich ist, führte zur Identifikation des
RNASEL-Gens (Carpten et al.
2002). Veränderungen dieses Gens können das Risiko für
Prostatakarzinom erhöhen (Fesinmeyer et al.
2011), sie erklären jedoch nicht die Beobachtungen von familiärem Prostatakarzinom mit hoher
Penetranz (Maier et al.
2005). Durch genomweite
Kopplungsanalysen in Familien wurden weitere Kandidatengenorte identifiziert, die jedoch nicht zuverlässig repliziert werden konnten (Easton et al.
2003). Eine autosomal dominant erbliche Disposition zu Prostatakarzinom, die – analog zur Situation bei familiärem
Retinoblastom oder Brustkrebs – die familiäre Häufung dieses Tumors erklärt, ist bislang nicht bekannt.
Ein erhöhtes Risiko für
Prostatakarzinom wird jedoch im Kontext einiger autosomal dominant erblicher Tumordispositionssyndrome beobachtet (Übersicht in (Lynch et al.
2016)). In Familien mit HBOC besteht ein erhöhtes Risiko bei Trägern einer Mutation des
BRCA2-Gens. Konstitutionelle Mutationen in diesem Krebsgen wurden auch bei 1,2 % der Patienten mit sporadischem Prostatakarzinom und frühem Alter bei Diagnose (≤65 Jahre) identifiziert (Kote-Jarai et al.
2011). Insgesamt kann das erhöhte familiäre Risiko bei Prostatakarzinom jedoch nur zu einem kleinen Teil (etwa 5 %) durch Veränderungen einzelner Gene erklärt werden (Übersicht in (Attard et al.
2016)).
Durch genomweite Assoziationsanalysen (GWAS)
wurden mehrere Regionen im Genom identifiziert, in denen Allele polymorpher Loci häufiger bei Erkrankten als bei Gesunden zu finden sind. Es wurde geschätzt, dass etwa 100 dieser Risikoregionen („risk loci“) etwa 33 % des familiären Risikos für
Prostatakarzinom in Populationen mit europäischer Herkunft erklären (Al Olama et al.
2014). Eine dieser Risikoregionen wurde auf
Chromosom 8q24 lokalisiert. In dieser Region wurden verschiedene genetische Varianten identifiziert, die unabhängig voneinander das Risiko für Prostatakarzinom beeinflussen (Haiman et al.
2007). Unter diesen Polymorphismen ist der
SNP („single nucleotide polymorphism“) rs6983267, dessen G-Allel mit einem erhöhten Risiko für Prostatakarzinom und andere Krebserkrankungen assoziiert ist. Eine direkte Auswirkung dieses SNP auf die Funktion eines für ein Protein kodierenden Gens ist nicht erkennbar. Das in dieser Region nächst benachbarte proteinkodierende Gen, c-
MYC, ist 335kb entfernt. Diese Region ist somit eine sog. Genwüste („gene desert“). Der SNP rs6983267 ist jedoch Teil einer regulatorisch aktiven Region, eines „enhancers“. Die beiden Allele des rs6983267 zeigen unterschiedliche „Enhancer“-Aktivität (Wright et al.
2010). Insbesondere sind die Allele mit unterschiedlicher Expression von CARLo-5 assoziiert, einer langen nicht kodierenden RNA (lncRNA) mit
onkogener Wirkung (Kim et al.
2014). Es ist typisch für polymorphe Varianten mit geringem Effekt, dass sie keine direkte Auswirkung auf die Funktion eines proteinkodierenden Gens erkennen lassen (Eyre-Walker
2010; Hazelett et al.
2014). Hingegen ist bei den meisten genetischen Veränderungen, die ein hohes Risiko bedingen, ein Einfluss auf die Funktion eines Proteins offensichtlich: Mutationen in
Tumorsuppressorgenen (
RB1,
BRCA1/2) führen zum Verlust des Proteins (meist durch vorzeitige Stopp-Codons), Mutationen in Onkogenen verursachen eine konstitutionelle Aktivierung (
RAS bei Noonan,
c-KIT bei
GIST).
Die in GWAS erfassten Polymorphismen sind überwiegend häufige Varianten mit einer Allelfrequenz für das seltenere Allel („minor allele frequency“, MAF) von ≥1 % (Mancuso et al.
2016). Es wird angenommen, dass ein Teil der durch diese Varianten nicht erklärten Heritabilität („missing heritability“) auf seltene Varianten (MAF <1 %) zurückzuführen ist. In Bezug auf das Risiko für
Prostatakarzinom konnte durch Resequenzierung von Risikoregionen gezeigt werden, dass die dort identifizierten seltenen Varianten einen erheblich größeren Teil der Heritabilität bei Personen afrikanischer Herkunft erklären können, als es durch die häufige Variation in diesen Regionen möglich ist (Mancuso et al.
2016). Allgemein gilt die Vermutung, dass genetische Varianten aufgrund von Selektion umso seltener sind, je nachteiliger sie sich auf die reproduktive Fitness auswirken (Eyre-Walker
2010). Daher ist es plausibel, dass in Bezug auf das Krebsrisiko seltene Varianten einen höheren Effekt haben als häufige Polymorphismen, und diese Beziehung sollte bei Tumoren mit frühem Erkrankungsalter besonders ausgeprägt sein (Mancuso et al.
2016).