Infektionen als Tumorursache: Bakterien und Darmkrebs
Verfasst von: Olivia I. Coleman und Dirk Haller
Das mikrobielle Ökosystem (auch Mikrobiota genannt) im Darm des Menschen spielt eine wichtige Rolle in der Regulation physiologischer Prozesse. Verschiebungen in der Zusammensetzung und Funktion der Mikrobiota (Dysbiose) stehen in Zusammenhang mit der Pathogenese von Darmkrebs. Metagenomweite Assoziationsstudien beim Menschen identifizierten mikrobielle Risikoprofile, und Studien in Mausmodellen konnten Mechanismen mikrobieller Interaktion mit Wirtszellen identifizieren. Die kausale Rolle einer dysbiotischen Mikrobiota bzw. einzelner Pathobionten bei der Tumorentstehung konnte in gnotobiotischen Mausmodellen nachgewiesen werden. Erkenntnisse solcher Studien bilden die Grundlage für klinische Prognosetests und hypothesengetriebene Interventionen. Das Wissen über die Wechselwirkungen zwischen Wirt und Mikrobe sollen zu einer präzisen und personalisierten Therapie beitragen.
Bakterien dominieren dieses komplexe Ökosystem (auch als Mikrobiota bezeichnet), und die mikrobielle Zusammensetzung der verschiedenen Abschnitte entlang des Gastrointestinaltrakts (GIT) wird durch die lokalen physiologischen Eigenschaften, Nahrungsbestandteile, Medikamente und Erkrankungen beeinflusst.
Die Bakterienlast ist im Dickdarm mit 1012–1013 Bakterien am höchsten (Sender et al. 2016).
Die Mehrzahl (>95 %) der Bakterien lassen sich in 2 Phyla(BacteroidetesundFirmicutes) einteilen, wobei
Proteobacteria,
Actinobacteria,
Verrucomicrobia oder
Tenericutes
zur Diversität der intestinalen Mikrobiota beitragen.
Durchschnittlich lassen sich zwischen 100 und 500 verschiedene Bakterienarten im Darm des Menschen nachweisen (alpha-Diversität), wobei die Zusammensetzung individuell sehr verschieden ist und auf der Stammebene wahrscheinlich für jeden Menschen einzigartig ist (beta-Diversität).
Funktionalität der Mikrobiota
Die Funktionalität der Mikrobiota wird durch die hohe Zahl an Genen (>10 Mio.) bestimmt, wobei das metabolische Potenzial eines individuellen Metagenoms (Gesamtheit aller mikrobiellen Genome) noch immer nicht vollständig erfasst ist und durch „Multi-omics“-Technologien (Metatranskriptom, Metaproteom und Metametabolom) derzeit beschrieben wird (Metwaly und Haller 2019).
Neben der metabolischen Kapazität des Mikrobioms wird der Wirt auch über direkte Interaktionen mit dem Immunsystem, dem Nervensystem und dem Darmepithel funktional beeinflusst, wobei unser Verständnis der genauen Mechanismen, mit denen die intestinale Mikrobiota die Gesundheit bzw. Erkrankungen des Menschen beeinflusst, noch weitgehend unbekannt ist.
Dysbiose und CRC
Die Pathogenese von Darmkrebs (CRC) ist ein mehrstufiger Prozess, der nicht nur durch den Wirt gesteuert wird (Anhäufung von Mutationen und Entzündungsprozesse), sondern auch von Faktoren aus dem Darmlumen, insbesondere dem Mikrobiom, beeinflusst wird (Abb. 1).
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Infektionen, Dysbiose und eine aberrante Mikrobiota-Wirt-Kommunikation durch Pathobionten spielen eine wichtige Rolle bei der Pathogenese von CRC.
Erste metagenomweite Assoziationsstudien beim Menschen konnten bakterielle Risikoprofile (Onkobiome) identifizieren, jedoch sind kausale Wechselwirkungen der Mikroben-Wirt-Interaktion nur für wenige Beispiele näher bekannt (Thomas et al. 2019; Wirbel et al. 2019).
Driver-Passenger-Modell
Das Driver-Passenger-Modell zur Rolle der Mikrobiota bei CRC schlägt vor, dass einzelne Bakterien als „driver“ eine direkte pro-karzinogene Wirkung auf den Wirt ausüben, jedoch andere Vertreter der Mikrobiota als Folge der Tumorentstehung in Abundanz und Prävalenz zunehmen („passenger“). Noch unklar ist, ob diese Trittbrettfahrer einen pathophysiologisch relevanten Einfluss auf den weiteren Verlauf der Tumorerkrankung haben (Tjalsma et al. 2012).
Ein Beispiel für Driver-Bakterien sind bestimmte Escherichia coli-Stämme, die das genotoxisch wirksame Colibactin exprimieren (pks), DNA-Einzelstrangbrüche induzieren und dadurch die Mutationsrate infizierter Zellen erhöhen (Cuevas-Ramos et al. 2010).
Darüber hinaus kann das Enterotoxin-bildende Bacteroides fragilis (ETBF) über die Induktion entzündlicher Prozesse das Tumorwachstum fördern (Wu et al. 2009).
Veränderungen der Schleimhautstruktur kann Kollagenfasern in der Basalmembran der Tumoren freilegen und so den Zugang für Bakterien wie S. gallolyticus subsp. gallolyticus („passenger“) ermöglichen. Entsprechend ist die Prävalenz von S. gallolyticus subsp. gallolyticus in der Allgemeinbevölkerung viel niedriger als bei CRC-Patienten (Boleij et al. 2011; Marchesi et al. 2011).
Beispiele für Pathobionten
Ein weiteres Beispiel für mögliche Pathobionten sind Fusobakterien, insbesondere Fusobacterium nucleatum, das in erhöhter Abundanz und Prävalenz bei CRC-Patienten nachgewiesen werden konnte (Castellarin et al. 2012). Das erhöhte Vorkommen dieses Mundkeims im Dickdarm ist zumindest partiell auf die Bindung an membranständige Polysaccharide auf Epithelzellen zurückzuführen, die im Tumorgewebe überexprimiert sind und vom fusobakteriellen Lektin Fap2 gebunden werden (Abed et al. 2016).
Peptostreptococcus anaerobius wurde ebenfalls im Stuhl und der Schleimhaut von Patienten mit CRC identifiziert (Nakatsu et al. 2015; Yu et al. 2017). Für diesen Pathobionten konnte gezeigt werden, dass er seine Wirkungen über die Interaktion mit Toll-like-Rezeptoren (TLR 2/4) auf Wirtszellen vermittelt (Tsoi et al. 2017).
Bakterien und Tumorentstehung: CRC-Mausmodelle und Humanstudien
Weitere Belege für die kausale Beteiligung von Bakterien an der Tumorentstehung stammen von CRC-Mausmodellen mit Defekten in Signalwegen zur bakteriellen Mustererkennung, wie z. B. TLR4- oder MyD88-defiziente Mäuse (Fukata et al. 2007; Rakoff-Nahoum und Medzhitov 2007).
Barrierestörungen in frühen Adenomen sind mit einer bakteriellen Infiltration der Mukosa verbunden und führen in MyD88-abhängiger Weise zur Aktivierung von NFAT („nuclear factor of activated T-cells“) im intestinalen Epithel (Peuker et al. 2016). Die Aktivierung solcher Transkriptionsfaktoren fördert die Proliferation von Tumorzellen sowie deren Überleben.
Mutationen im menschlichen Apc-Gen tragen erheblich zur Karzinogenese im Dickdarm des Menschen bei. ApcMin/+-Mäuse sind deshalb ein häufig verwendetes Modell für CRC, jedoch entwickeln sich die murinen Tumoren meist im Dünndarm. Die Gabe von chemischen Entzündungsaktivatoren, wie Dextran-Natriumsulfat (DSS), verstärken das Auftreten von Dickdarmtumoren in diesem Modell. Eine kürzlich durchgeführte Studie im ApcMin/+-Mausmodell verwendete den kaudalen Homöobox-Transkriptionsfaktor-CDX2P-Promotor, um Apc selektiv in Kolonozyten zu inaktivieren und damit AOM-induzierte Tumorentwicklung auf den Dickdarm zu beschränken. (Souris et al. 2019).
Keimfreie Mausmodelle (Chu et al. 2004; Uronis et al. 2009; Li et al. 2012) oder die experimentelle Gabe von Antibiotika (Zackular et al. 2013) unterstreichen die Bedeutung von Pathobionten bzw. einer dysbiotischen Mikrobiota für die Tumorgenese im Darm.
In unserem neu generierten transgenen Mausmodell, das die aktive p50-Form des Transkriptionsfaktors Atf6 („activating transcription factor 6“) in intestinalen Epithelzellen exprimiert (nATF6IEC), beobachteten wir eine spontane Tumorentstehung im Dickdarm. Atf6 ist Teil einer proteostatischen Stressantwort des endoplasmatischen Retikulums (ER) und ist in 10 % der CRC-Patienten aktiviert. Im keimfreien Tiermodell konnte gezeigt werden, dass die Mikrobiota essenziell für die Tumorentstehung ist und der Transfer einer dysbiotischen Mikrobiota in keimfreie nATF6IEC-Mäuse wieder zur Tumorentstehung führt (Coleman et al. 2018).
Die Bedeutung einer tumorassoziierten dysbiotischen Mikrobiota konnte durch den Transfer von Stuhlmikrobiota von Patienten in präklinischen Modellen verifiziert werden (Wong et al. 2017). Die Transplantation von Stuhlmaterial der CRC-Patienten in Mausmodelle erhöhte die Anzahl der Polypen sowie das Ausmaß der Dysplasie und Zellteilungsrate im Darmepithel und zeigte verstärkte Th1/Th17-abhängige Entzündungsprozesse im Dickdarm der Tiere (Wong et al. 2017). Diese Befunde unterstreichen die Hypothese, dass das mikrobielle Milieu einen kausalen Einfluss auf die Tumorentstehung im Darm hat.
In 2 kürzlich durchgeführten Metaanalysen zu metagenomischen Profilen bei CRC-Patienten wurden Mikrobiomsignaturen als Biomarker validiert (Thomas et al. 2019; Wirbel et al. 2019). Es wurde gezeigt, dass das Cholin-Trimethylamin-Lyase-Gen im Stuhl von CRC-Patienten signifikant angereichert war (p = 0,001) (Thomas et al. 2019). Eine funktionelle Analyse der CRC-Metagenome ergab darüber hinaus, dass Protein- und Mucin-Katabolismusgene vermehrt und Kohlenhydrat-Abbaugene vermindert im Mikrobiom von CRC-Patienten zu finden waren (Wirbel et al. 2019). Wirbel et al. schlussfolgerten daraus, dass eine erhöhte Produktion von sekundären Gallensäuren als Folge einer fett- und fleischreichen Ernährung eine krebsassoziierte Dysbiose erzeugt (Wirbel et al. 2019). Diese Erkenntnisse bilden die Grundlage für klinische Prognosetests und hypothesengetriebene mechanistische Studien.
Nejman et al. führten eine umfassende Analyse des Tumormikrobioms durch und untersuchten mikrobielle Signaturen und bakterielle Funktionseigenschaften in 1526 Tumoren und deren angrenzenden Normalgeweben in 7 Krebsarten (Nejman et al. 2020). Die Autoren identifizierten, dass Tumoren aus tumortypspezifischen intrazellulären Bakterien bestehen, und validierten deren Anwesenheit sowohl in Krebs- als auch in Immunzellen. Obwohl Dickdarmkrebs nicht zu den untersuchten Tumorarten gehörte, ist es sehr wahrscheinlich, dass diese Erkenntnisse auch für diese Krebsform gelten. Offen bleibt die Frage, ob intratumorale Bakterien eine kausale Rolle bei der Krebsentstehung spielen, jedoch konnte eine Korrelation zwischen intratumoralen Bakterien und dem Tumortyp sowie dem Ansprechen auf eine Immuntherapie beobachtet werden. Eine Manipulation des Tumormikrobioms könnte daher die Tumorimmunität und das Ansprechen auf eine Immuntherapie beeinflussen.
Therapeutische Implikationen
Eine zunehmende Zahl von Studien belegen, dass die intestinale Mikrobiota mit dem Erfolg der Chemotherapie und der Reaktion und Wirksamkeit der Immuntherapie in Verbindung steht.
Eine reduzierte Antitumorimmunität führt bei vielen Krebspatienten zu einer Tumorprogression und kann durch Immuncheckpoint-Inhibitoren (ICI) reaktiviert werden.
Beispiele hierfür sind Antikörper gegen das programmierte Zelltod-Protein 1 (PD1) oder dessen Liganden PDL-1 und zytotoxisches T-Lymphozyten-assoziiertes Protein 4 (CTLA-4), die sowohl Antitumoraktivität bei Versuchstieren als auch klinische Wirksamkeit bei Krebspatienten gezeigt haben (Couzin-Frankel 2013; Sharma und Allison 2015).
Einfluss der intestinalen Mikrobiota auf die ICI-Behandlung
Die Zusammensetzung der intestinalen Mikrobiota kann die Wirksamkeit der ICI-Behandlung beeinflussen und zur Vorhersage der Wirksamkeit der ICI-Therapie dienen. Bei Mäusen mit unterschiedlichen mikrobiellen Ökosystemen im Darm (Jackson Laboratory [JAX] versus Taconic Farms [TAC]) konnten Unterschiede bei der spontanen Entwicklung autoimmuner Reaktionen beobachtet werden (Sivan et al. 2015). Die Gabe bestimmter Bifidobakterien konnte die Tumorgenese verringern und in Kombination mit der Anti-PDL-1-Therapie das Tumorwachstum nahezu vollständig hemmen (Sivan et al. 2015). In ähnlicher Weise konnte eine Wirksamkeit für Vertreter der Ordnung Bacteroidales nach CTLA-4-Blockade gezeigt werden (Vetizou et al. 2015).
In diesem Kontext untersuchten Gopalakrishnan et al. die Darmmikrobiota bei Melanompatienten und fanden eine signifikante Reduktion der alpha-Diversität und einzelner Bakterienarten (z. B. Faecalibacterium) bei therapieresistenten Patienten (Gopalakrishnan et al. 2018).
In einer kürzlich durchgeführten Studie wurden 3 Bakterienspezies, Bifidobacterium pseudolongum, Lactobacillus johnsonii und Olsenella species, isoliert und deren Wirksamkeit als Therapieadjuvans bei der Behandlung mit ICI in 4 Mausmodellen gezeigt (Mager et al. 2020). Die Studie zeigte, dass B. pseudolongum die Immuntherapieantwort durch die Produktion des Metaboliten Inosin verstärkt, das durch T-Zell-spezifische Adenosin-A2A-Rezeptor-Signalisierung wirkt.
Mikrobiota und Chemotherapie
Die Beteiligung der Mikrobiota an der Wirksamkeit einer Chemotherapie wurde auch für Platinverbindungen verifiziert. In Mausmodellen, die Cisplatin erhielten, wurde die Ursache des Therapieversagens auf eine verringerte Mikrobiota-abhängige ROS-Produktion zurückgeführt (Iida et al. 2013).
Ein verstärktes Tumorwachstum und eine verringerte Überlebensrate wurden ebenfalls im Mausmodell für Lungenkrebs nach Gabe von Cisplatin in Kombination mit Antibiotika nachgewiesen (Gui et al. 2015). Umgekehrt zeigten Mäuse, denen Cisplatin in Kombination mit Lactobacillus acidophilus verabreicht wurde, ein besseres Ansprechen auf die Therapie (Gui et al. 2015).
Diese Befunde sind im Konzept der Pharmakomikrobiomik eingegangen und unterstreichen die Notwendigkeit, die Wechselwirkungen zwischen Arzneimitteln und dem Mikrobiom weiter zu untersuchen. Obwohl noch wenig klinisch relevante Ergebnisse zur Wirksamkeit einer gezielten Modulation des Mikrobioms für die Krebstherapie zur Verfügung stehen, so werden
als mögliche Interventionen vorgeschlagen (ElRakaiby et al. 2014; Zitvogel et al. 2015).
Abschließende Bemerkungen
Die in diesem Kapitel behandelten Studien zeigen deutlich, wie die Zusammensetzung und Funktion der Mikrobiota die Krebsentstehung und -progression, die Komorbidität und das Ansprechen auf die Therapie modulieren und/oder steuern können. Das Wissen über die Wechselwirkungen zwischen Wirt und Mikrobiota im Darm machen die Mikrobiologie zu einem immer wichtiger werdenden Feld für die Krebsforschung. Es ist vorstellbar, dass die präzise und personalisierte Modulierung der intestinalen Mikrobiota ein zentrales Ziel für Krebstherapie werden wird.
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