Die Konnektoren dienen primär der Gefahrenabwehr und der Energieregulation
Bevor der Blick zum Tumorgeschehen gelenkt wird, sei eine wichtige allgemeine Betrachtung dieser Konnektoren vorangestellt. Gehirn und Immunsystem haben aus der Perspektive des Überlebenskampfes hierarchisch betrachtet eine dominante und egoistische Rolle, um die Gefahren abzuwehren und die Energieversorgung während einer Bedrohungslage sicherzustellen (Kampf, Flucht, Hitze, Kälte, Durst, Hunger, Verwundung und Blutverlust, Infektion, Verwundung und Infektion). Dabei benutzen sie verschiedene Pfade, um diese Aufgaben zusammen, aber auch unabhängig voneinander zu erfüllen (Straub
2017). Reaktionen dieser egoistischen Organsysteme wurden nicht im Kontext einer Tumorerkrankung positiv selektioniert (wegen des hohen negativen Selektionsdrucks), sondern im Kontext der oben genannten Bedrohungssituationen. Insofern werden bei Tumorerkrankungen Mechanismen benutzt, die in einem anderen Zusammenhang ihre wesentliche Bedeutung erhalten haben – z. B. für Reproduktion und Gefahrenabwehr (Straub und Schradin
2016).
Das Gehirn benutzt einerseits efferente Bahnen zur Beeinflussung peripherer Prozesse (z. B. des Immunsystems), aber es empfängt auch Botschaften aus der Peripherie mittels afferenter Pfade (z. B. vom Immunsystems über den
Nervus vagus und viele sensible Nervenfasern). Zu den
efferenten Bahnen gehören die Stressachsen, die ganz wesentlich an der Umverteilung von energiereichen Substraten von Energiespeichern zum Gehirn und an der Volumenregulation beteiligt sind (Tab.
1) (Straub
2014b). Zu den efferenten Stressachsen
gehören:
Efferent sind auch Anteile des Nervus vagus, aber diese werden nicht zu den Stressachsen gerechnet, denn sie sind an der Energiespeicherung beteiligt.
Tab. 1
Die wichtigsten Konnektoren zwischen Gehirn und Immunsystem und ihre Bedeutung bezüglich des Energiehaushalts und des Immunsystems. (Daten aus Straub
2014a)
Energiespeicherfaktoren | | Energiespeicherung durch Aufnahme von Glukose und Fettsäuren in Speicherorgane und Aufbau von Fett- und Muskelgewebe, Förderung der Insulinsekretion (N. vagus) |
| Direkte Unterstützung von Immunzellen; proinflammatorische Bedeutung der Insulinresistenz; Leukozyten werden nicht insulinresistent, sondern brauchen Insulin als Wachstumsfaktor |
„Insulin-like growth factor 1“ | Unterstützung des angeborenen und adaptiven Immunsystems |
| Breite Hemmung des Immunsystems und der Entzündung |
| |
Nervus vagus | Immunsuppressiv durch Hemmung von TNF via alpha7-nikotinerge Rezeptortypen (andere nikotinerge und muskarinerge Effekte noch nicht ausreichend bekannt – wahrscheinlich bimodale Effekte) |
Energiefreisetzungsfaktoren | | Energiebereitstellung durch Freisetzung von Glukose, Fettsäuren und Aminosäuren aus Speicherorganen (inkl. Muskelgewebe) |
Kortisol | Immunsuppressiv |
| β-adrenerg: suppressiv für angeborene und T Helfer-1/17-Immunität sowie für zytotoxische Aktivität; Unterstützung von B-Lymphozyten und T-Helfer-2-Immunität α-adrenerg: Unterstützung der Entzündung |
Wachstumshormon | Immunstimulierend |
Schilddrüsenhormon (T3) | Immunstimulierend |
RAAS (Angiotensin II) | Immunstimulierend – besonders Angiotensin II (Volumenregulation) |
Vasopressin (ADH) | Bimodale Effekte (Volumenregulation) |
| Immunstimulierend |
TNF, IL-1β, IL-6, IFN | Immunstimulierend |
Andere Faktoren | | Nozizeptive Fasern setzen eine Stressreaktion in Gang und tragen so zu einer Energiefreisetzung bei, Opioide hemmen Nozizeption |
| Immunstimulierend (breite Unterstützung verschiedener Immunpfade) |
Nozizeptive Nervenfaser (CGRP) | Immunsuppressiv |
Endogene Opioide (am μ-Opioid-Rezeptor) | Immunsuppressiv |
Zu den
afferenten Bahnen in Richtung Gehirn gehören lösliche Faktoren im Blut (Hormone,
Neurotransmitter,
Zytokine) und vor allen Dingen sensible Nervenfasern aus allen Körperarealen (z. B. nozizeptive Nervenfasern). Nozizeptive Nervenfasern sezernieren in einer efferenten Art und Weise
Substanz P und Calcitonin-Gen-reguliertes Peptid (CGRP; auch Galanin und
Glutamin), während gleichzeitig ein afferentes Signal zum Gehirn übertragen wird. Die efferenten Signale haben bimodale Funktion auf das Immunsystem (Substanz P ist stimulierend, Tab.
1). Die afferenten Signale zum Gehirn haben vielfältige Funktionen wie Vermittlung von Schmerz, Temperatur, Druck, aber auch von Entzündung. Die Ausstattung einer sensiblen Nervenendigung mit vielfältigen Rezeptoren ist die Voraussetzung dafür. Es werden
Prostaglandine, Bradykinin, Toll-like-Rezeptorliganden, körpereigene Capsaicin-ähnliche Faktoren, Protonen, Substanz P, Nervenwachstumsfaktoren,
Immunglobuline über Fc-Rezeptoren, proinflammatorische Zytokine wie TNF oder IL-6, aber auch
Histamin,
Noradrenalin,
Tryptase, schmerzhafte Hitze und Kälte sowie schmerzhafter Druck erkannt.
Hinsichtlich des Immunsystems kann man auch in efferente und afferente Faktoren unterscheiden. Afferente Faktoren beeinflussen Immunzellen im Sinne der Aktivierung oder Hemmung (Agonisten an „pathogen/danger-associated molecular pattern receptors“, T-Zellrezeptor, B-Zellrezeptor, Fc-Rezeptor, NK-Zellrezeptoren, Zytokinrezeptoren, Hormonrezeptoren, Neurotransmitterrezeptoren u. a.).
Efferente Faktoren
benutzt das Immunsystem bei der Bedrohungslage der Infektion wie Gefahrensignale abgestorbener Zellen (Toll-like-Rezeptorfaktoren u. a.),
Zytokine,
Immunglobuline, DNA-Netze und andere sowie leukozytäre Hormone wie
Kortisol,
Noradrenalin,
Wachstumshormon, Schilddrüsenhormone,
Vasopressin,
Östrogene (nicht
Androgene) u. a., die lokal freigesetzt und systemisch verteilt werden. Viele Faktoren dienen der unmittelbaren Beseitigung der Infektionsgefahr und wirken in einem efferenten Sinne auf die Umgebung oder auf den gesamten Körper. Andere dagegen sind notwendig, um energiereiche Substrate freizusetzen, die vom aktivierten Immunsystem dringend benötigt werden. Zu den letzteren gehören neben den Zytokinen auch die leukozytären Hormone und
Neurotransmitter (Tab.
1). Da das Immunsystem diese Hormone und Neurotransmitter selbst herstellen kann, macht es sich von der Mithilfe des Gehirns und seiner Stressachsen unabhängig, was besonders bei chronischen Prozessen mehr und mehr eine Rolle spielt (Straub
2017).
Zentral für die benötigte Energiefreisetzung ist die Hemmung der Insulinwirkung (Insulinrezeptorresistenz z. B. durch
Kortisol,
Vasopressin, Angiotensin II oder TNF, aber auch durch viele andere) und der Insulinsekretion, aber auch der direkte Abbau von Energiespeichern durch z. B. Kortisol und
Noradrenalin (Straub
2014a). Ähnlich verhält es sich, wenn wir über die Hemmung des „insulin-like growth factor 1“ (IGF 1) sprechen, dessen Wirkung im Entzündungsgeschehen typischerweise nachlässt (Verlust von IGF 1 = Kachexie-Faktor). Bedeutend ist auch die Abschaltung der adrenalen und gonadalen Androgen-Produktion, sodass der Muskelaufbau unterbleibt (Verlust von
Androgenen = Kachexie-Faktor). Schließlich ist das parasympathischen Nervensystem oft gebremst, sodass die efferente Funktion des
Nervus vagus sistiert, die Digestion daniederliegt und die Insulinsekretion unterbleibt (Tab.
1).
Die Konnektoren werden von Tumoren angeschaltet und selbst produziert
Tumoren zeigen
oft eine proentzündliche Aktivität, und sie induzieren im Sinne einer Fernwirkung die Bereitstellung von energiereichen Substraten. Insofern werden die in Tab.
1 genannten Elemente oftmals auch direkt durch den Tumor angeschaltet oder produziert. Tumoren werden oft als stressvoll empfunden und führen zu Ängsten, Trauerarbeit,
Schlafstörungen u. Ä. (siehe Kap. „Psychoonkologische Diagnostik der Belastungen und der psychischen Komorbidität“). Die Therapie inkl. Operation kann oft stressvoll sein. Diese Faktoren können die Stressachsen wie das sympathische Nervensystem, die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-(HPA-)Achse und andere dauerhaft aktivieren. Manchmal produzieren Tumoren aber auch sehr unmittelbar Faktoren, die energiereiche Substrate direkt aus den Speichern freisetzen können (z. B.
Noradrenalin/
Adrenalin aus
Phäochromozytom,
Kortisol aus Tumoren der adrenalen Zona fasciculata, proentzündliche
Zytokine).
Des Weiteren können im lokalen Entzündungs- und Tumorgebiet Hormon- oder Neurotransmittervorstufen in aktive Hormone umgewandelt werden, da Tumorzellen, lokale Immunzellen, aber auch nicht-tumoröse Stromazellen die apparative Ausstattung mit entsprechenden Konvertierungsenzymen besitzen. Das biologisch aktiv
Kortisol kann lokal aus Kortison gebildet werden (immunsuppressiv), Mammakarzinomzellen produzieren aus Vorstufen wie Östronsulfat biologisch aktive
Östrogene (proliferativ), aus diesen Östrogenen können besonders die 16-hydroxylierten Östrogene entstehen (mitogen, proliferativ und immunstimulierend), Prostatakarzinomzellen generieren lokal
Androgene aus biologisch inaktiven Prohormonen (proliferativ und immunsuppressiv in der Prostata), aus Angiotensin-Vorstufen kann das Angiotensin II hervorgehen (proinflammatorisch und proliferativ), das biologisch aktive Triiodthyronin kann aus dem biologisch inaktiven Thyroxin lokal im Tumor entstehen (proliferativ), ebenso kann lokal
Prolaktin in Immunzellen gebildet werden (proliferativ), und Tumoren können vielfältige
Wachstumshormone herstellen, die auch das Nervenwachstum von sympathischen und sensiblen Nervenfasern begünstigen (Cirillo et al.
2017; Clevenger et al.
2009; Cole et al.
2015; De Sibio et al.
2014; Ferraldeschi et al.
2013; Radin et al.
2018; Sepkovic und Bradlow
2009; Szpunar et al.
2016; Volden und Conzen
2013). So kann es zum Einwachsen von Nervenfasern und damit einem höheren Niveau an entsprechenden
Neurotransmittern kommen.
Somit bedienen sich Tumorzellen oft der genannten Konnektoren, die ursprünglich für einen anderen biologischen Zweck im Laufe der Evolutionsgeschichte positiv selektioniert wurden. Diese Konnektoren spielen dann eine proliferative Rolle, sie sind an der immunsuppressiven Wirkung auf zytotoxische Immunzellen beteiligt, oder sie mobilisieren die Freisetzung energiereicher Substrate aus lokalen und fernen Speichern. Alle Mechanismen fördern das Tumorwachstum.
Tumoren sind selbst Ergebnis eines schnellen evolutionären Entwicklungsprozesses innerhalb der Lebensspanne des betroffenen Patienten. Dieser evolutionäre Prozess selektioniert im ungünstigen Fall Rahmenbedingungen eines besseren Tumorwachstums, einer intensiveren lokalen Suppression der zytotoxischen Immunantwort und einer ausgeprägteren Metastasierung. Dabei spielen nicht nur tumorzelleigene Faktoren oder das Tumorimmunsystem eine Rolle, sondern auch die oben geschilderten Konnektoren. Auf dieser Basis wird verständlich, dass die Aktivierung der Stressachsen – z. B. das sympathische Nervensystem und die HPA-Achse – auf unterschiedliche Weise an der Tumorprogression beteiligt sein können:
-
Proliferativ
-
Immunsuppressiv
-
Energiebereitstellend
Das Beispiel des sympathischen Nervensystems – Konnektor fördert Tumorprogression
Epidemiologische Studien ab circa 2010 zeigten den Zusammenhang zwischen der vorausgegangenen Einnahme von β-adrenergen Rezeptorblockern (Beta-Blocker) und der reduzierten Tumorprogression (10 verschiedene Literaturstellen: Übersicht in Cole et al.
2015; Beispiel: Chang et al.
2015). Allein diese Tatsache hätte wahrscheinlich diesen speziellen Konnektor in den Fokus der psychoimmunologisch onkologischen Wissenschaft gebracht, wären da nicht schon frühere tumorproliferative Effekte des sympathischen Nervensystems
und seiner
Neurotransmitter beobachtet worden (Ben-Eliyahu et al.
2007).
Dabei können β-adrenerge Signalpfade
-
die DNA-Reparatur behindern,
-
p53-induzierte Antworten auf chromosomale Schäden beeinträchtigen,
-
-
Zytokine wie TNF, IL-12 und Interferone hemmen und damit die zytotoxische Immunität und die Präsentation von
Tumorantigenen behindern,
-
neutrophile Granulozyten und NK Zellen hemmen,
-
chemotaktische Faktoren wie IL-8, CCL2, CCL4 und CXCL2 stimulieren,
-
Wachstumsfaktoren wie TGFβ induzieren,
-
die epitheliale-mesenchymale
Transition begünstigen,
-
das Gefäßwachstum befördern (VEGF),
-
den Anoikis-abhängigen programmierten Zelltod verhindern u. v. m. (Übersicht in Cole et al.
2015; Kamiya et al.
2019).
In einer neueren Arbeit an Mäusen wurde die wichtige Bedeutung des sympathischen Nervensystems auf die Reorganisation des peritumorösen Lymphgefäßnetzwerks dargestellt. Dabei spielten die sympathisch induzierte Bildung von VEGF und COX2-abhängigen
Prostaglandinen eine wichtige Rolle. Die Blockade des sympathischen Nervensystems verminderte die lymphatische Metastasierung (Le et al.
2016).
Diese β-adrenergen Pfade können bei gleichzeitig vorhandenem
Kortisol in einem
additiven oder synergistischen Sinne verstärkt werden. Beispielsweise ist die immunsuppressive Wirkung auf TNF bei gleichzeitigem Einwirken von
Noradrenalin und Kortisol deutlich stärker (Literatur in Straub et al.
2002). So könnte das gleichzeitige Vorhandensein von endogenem Kortisol oder therapeutisch applizierten
Glukokortikoiden die Tumorprogression fördern (Ma et al.
2020; Volden und Conzen
2013).