Einleitung: Aktueller Stand
Die
Neuerkrankungen an Krebs sind
in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. Jeder zweite Mann und über 40 % aller Frauen müssen während ihres Lebens damit rechnen, an Krebs zu erkranken (Robert Koch Institut
2016). Dieser Trend wird sich vermutlich auch im Jahr 2018 weiter fortsetzen. Während im Jahr 2007 ca. 460.000 Männer und Frauen eine Krebserkrankung erlitten, werden im Jahr 2020 über 500.000 Menschen davon betroffen sein (Robert Koch Institut
2016). Zwar liegt das mittlere Erkrankungsalter bei Frauen und Männern bei derzeit ca. 68 Jahren. Dennoch treten vor dem 65. Lebensjahr bei den Männern 45 % und bei den Frauen bereits 57 % aller Krebserkrankungen auf (Robert Koch Institut
2016).
Während die absolute Neuerkrankungsrate in den letzten Jahrzehnten eindeutig zugenommen hat, hat die
altersstandardisierte Mortalität in den letzten 20 Jahren abgenommen. Die Abnahme der Mortalität ist geschlechtsunspezifisch, zeigt aber bei den Unter-65-Jährigen – und damit bei den Patientinnen und Patienten im erwerbsfähigen Alter – den größten Effekt (Robert Koch Institut
2016).
Bei abnehmender Krebsmortalität
ist im Umkehrschluss von einer Zunahme der Heilung beziehungsweise einer Verlängerung des Gesamtüberlebens in Bezug auf alle Krebsfälle auszugehen. Bei den Frauen liegt die
10-Jahres-Überlebensrate über alle Tumorentitäten hinweg bei derzeit 61 % und bei den Männern bei 57 % (Robert Koch Institut
2016). Zurzeit leben in Deutschland ca. 4 Mio. Menschen 5 Jahre nach ihrer Krebsdiagnose (Schilling
2017). Die Gruppe der Krebslangzeitüberlebenden nimmt stetig zu.
Wenn man eine Fortsetzung dieser an sich positiven Entwicklung postuliert, werden sich die Heilungsraten, insbesondere bei Menschen im erwerbsfähigen Alter, weiter verbessern, die Zahl der Langzeitüberlende weiter deutlich steigen und somit Maßnahmen zur Reintegration ins Berufsleben an Bedeutung zunehmen. Zudem werden die Verlängerung der Lebensarbeitszeit und die Verschiebung des Renteneintrittsalters auf das 67. Lebensjahr sowie der bereits manifeste Fachkräftemangel Maßnahmen zum Erhalt der Erwerbsfähigkeit bei Tumorpatienten weiter forcieren.
Den Daten der Deutschen Rentenversicherung (DRV) zufolge kehren ca. 70 % aller Patienten in Voll- oder Teilzeit ins Erwerbsleben zurück.
Jahre nach Ende der onkologischen Rehabilitation sind noch 73 % der Patient*Innen im Erwerbsleben verblieben (Deutsche Rentenversicherung 2021)
Diese Analysen sind allerdings selektioniert, da sie nur Patienten betreffen, die eine onkologische Rehabilitation durchlaufen haben. Valide Daten der deutschen Gesamtbevölkerung im erwerbsfähigen Alter mit der Diagnose Krebs liegen nicht vor. Diesbezüglich kann nur auf internationale Daten zurückgegriffen werden.
In einer großen internationalen
Metaanalyse konnte gezeigt werden, dass nahezu zwei Drittel aller Tumorpatienten im erwerbsfähigen Alter (63,5 %;
Spannweite: 24–94 %) ihren ehemaligen oder einen anderen Beruf wieder ausüben können (Mehnert et al.
2011). In diese Metaanalyse gingen 64 Studien ein, die von Januar 2000 bis November 2009 publiziert wurden. Im Mittel lag die
Zeit der Arbeitsunfähigkeit bei ca. 5 Monaten. 26–53 % der Patienten verloren über einen Zeitraum von 6 Jahren nach Diagnosestellung ihren Arbeitsplatz oder gaben ihre berufliche Tätigkeit auf.
Im Vergleich zu gesunden Probanden wechselten viele Tumorpatienten ihren Arbeitsplatz, arbeiteten in reduzierter Stundenzahl und mussten eine geringere Entlohnung hinnehmen (Mehnert et al.
2011). Im Rahmen einer
Metaanalyse unter Einschluss von 36 Studien – insbesondere aus den USA, Europa und anderen Ländern – wurden 20.366 Langzeitüberlebende nach Krebserkrankung mit 157.603 gesunden Menschen hinsichtlich der Berufstätigkeit nicht-gematcht verglichen. Während 15,2 % der gesunden Probanden arbeitslos waren, fand sich eine Arbeitslosenrate bei den Langzeitüberlebenden von 33,8 %, was einem relativen Risiko von 1,37 (95 %-Konfidenzintervall [95 %-KI]: 1,21–1,55) entspricht (de Boer et al.
2009). Daraus resultierte ein um 37 % höheres Risiko für Arbeitslosigkeit bei den Tumorpatienten im Vergleich zu gesunden Probanden.
Prognosefaktoren
Prognostisch ungünstige und fördernde Faktoren zur beruflichen Reintegration sind in Tab.
1 zusammengestellt. Aus dieser Zusammenstellung geht hervor, dass nicht nur die Art der Tumorerkrankung, die onkologische Therapie und die dadurch bedingten physischen und psychischen Schädigungen eine Rolle spielen, sondern auch soziodemografische und arbeitsbezogene Faktoren (Rick et al.
2012). Keine statistisch signifikanten Unterschiede im Hinblick auf den Anteil der Patienten, die wieder ins Berufsleben integriert werden, finden sich bei Patienten mit
Hodentumoren und malignen
Melanomen im Vergleich zu Nichttumorpatienten (Syse et al.
2008).
Tab. 1
Faktoren, die die Rückkehr ins Erwerbsleben beeinflussen können (aus Rick et al.
2012)
jüngeres Lebensalter | endokrine Therapie |
höherer Bildungsstand | ausgedehnte Operation |
keine Operation | fortgeschrittenes Tumorstadium |
keine krankheitsbedingte Abwesenheit | Chemo- und Radiotherapie |
geringe körperliche Symptome | höheres Lebensalter |
männliches Geschlecht | weibliches Geschlecht |
kontinuierliche Behandlung | geringerer Bildungsstand |
urologische Tumoren | Leberkrebs, Bronchialkarzinom, Blutkrebs, ZNS-Tumoren, Gl-Tumoren, Pankreaskarzinom |
| HNO-Tumoren, gynäkologische Tumoren |
Die unmittelbaren Verhältnisse am Arbeitsplatz und die Hilfestellung bei der Rückführung ins Erwerbsleben sind ein wesentlicher fördernder Faktor. Wenn eine gute Einbindung in das soziale Gefüge am Arbeitsplatz besteht, durch den Arbeitgeber zuträgliche Arbeitsbedingungen geschaffen werden und professionelle Hilfe bei der Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit angeboten wird, ist die Wahrscheinlichkeit für eine dauerhafte Erwerbsfähigkeit höher als wenn diese Faktoren nicht vorliegen oder sogar das Gegenteil davon anzutreffen ist (Rick et al.
2012).
Instrumente zur Reintegration ins Erwerbsleben
Leistungen zur Teilhabe Arbeitsleben (LTA)
Wenn
eine unmittelbare Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit nach der Krebserkrankung nicht möglich ist, kommen Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) in Betracht
. Die LTA lassen sich einteilen in:
-
Finanzielle Leistungen an den Arbeitgeber
-
Hilfe für den Umbau eines Fahrzeugs (z. B. Einstiegshilfen, Automatikgetriebe, Lenkradschaltung)
-
Leistungen zur beruflichen Bildung und Berufsvorbereitung
-
Maßnahmen zur Erhaltung beziehungsweise Erlangung eines Arbeitsplatzes
Im Jahr 2016 entfielen 40 % aller LTA auf Leistungen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes, während Leistungen zur beruflichen Bildung einen Anteil von 22 % aufwiesen. 6 Jahre zuvor war das Verhältnis noch 24 % zu 30 %, was zeigt, dass die DRV zunehmend das Ziel verfolgt, mit den Instrumenten der beruflichen Rehabilitation vorhandene Arbeitsplätze zu erhalten (Erbstößer et al.
2008; Deutsche Rentenversicherung
2021).
Stufenweise Wiedereingliederung
Ein schon lange und gut etabliertes Instrument ist die stufenweise Wiedereingliederung (STW)
. Sie dient dazu, arbeitsunfähige Patienten nach längerer schwerer Erkrankung schrittweise wieder an die volle Arbeitsbelastung an ihrem bisherigen Arbeitsplatz heranzuführen und zu integrieren (Bürger et al.
2011).
Im Rahmen der onkologischen Rehabilitation ist eine Information der Patienten, die noch über einen Arbeitsplatz verfügen und diesen aus medizinischen Gründen auch in absehbarer Zeit wieder wahrnehmen können, über die Möglichkeit der STW wichtig. Berücksichtigt man nur diese Patienten, folgen laut den Ergebnissen einer Versichertenbefragung insgesamt 86 % der Versicherten den Empfehlungen zur STW. Mit der begründeten Indikationsstellung für eine STW werden im Wesentlichen die Patienten erreicht, die selbst auch den Wunsch auf eine STW äußern. Darüber hinaus spielt die Haltung des Arbeitgebers zur Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit eine wichtige Rolle. Unterstützt der Arbeitgeber diese, steigt die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Inanspruchnahme deutlich an. Als Gründe, eine empfohlene STW nicht in Anspruch zu nehmen, nennen die Patienten vor allem (Bürger et al.
2011; Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation
2004):
-
Gesundheitliche Ursachen
-
Eine fehlende Eigenmotivation
-
Arbeitsorganisatorische Hemmnisse (z. B. lange Anfahrten zur Arbeitsstelle)
-
Fehlende Befürwortung der STW durch den Arbeitgeber
Daten aus kontrollierten randomisierten Studien liegen zur STW allerdings nicht vor. Daher ist derzeit unklar, ob dieses Instrument bei onkologischen Patienten überhaupt effektiv ist.
Medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation
Die medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation (MBOR)
ist eine diagnostisch und therapeutisch erweiterte Form der medizinischen Rehabilitation. Ziel von MBOR ist es, eine Wiedereingliederung ins Erwerbsleben bzw. in die noch vorhandene berufliche Tätigkeit zu erreichen bzw. zu erleichtern (Bethge
2017). Eine Zusammenfassung der Maßnahmen im Rahmen von MBOR zeigt Tab.
2. Ein zentrales Element dabei ist ein individualisiertes Trainings- und Testprogramm, wobei eine Bewertung der Leistungsfähigkeit der Patienten im Abgleich mit ihrem vorhanden Arbeitsplatz vorgenommen wird. Sollte der Patient aus der Arbeitslosigkeit heraus erkrankt sein oder den Arbeitsplatz währenddessen verloren haben, wird eine Leistungsbeurteilung anhand des allgemeinen Arbeitsmarktes vorgenommen. Als Testinstrumentarium kann entweder ein nicht standardisiertes klinikinternes Verfahren oder auch die 29-teilige Testbatterie zur Evaluation funktioneller Leistungsfähigkeiten (EFL) verwendet werden (Schmielau und Seifart
2017).
Tab. 2
Aspekte der medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation (aus Schmielau und Seifart
2017)
• Leistungsfähigkeit beurteilen – in Deutschland meist mithilfe einer Testbatterie aus 29 Teiltests zur Evaluation funktioneller Leistungsfähigkeit (EFL) • Übungen zu arbeitsplatzrelevanten Bewegungsabläufen, wie Heben, Tragen, Schieben – besten-falls realitätsnah an Modellarbeitsplätzen • Berufsbezogene psychosoziale Gruppen – Vermitteln von Strategien für den beruflichen Wieder-einstieg • Sozial- und Berufsberatung – Planung der Wiedereingliederung unter Einbindung des Arbeitgebers und anderer Institutionen |
Darüber hinaus kann ein realitätsnahes Training an Modellarbeitsplätzen die tatsächlichen Arbeitsaufgaben nachbilden, um Diskrepanzen zwischen Fähigkeiten und Anforderungen aufzudecken und ggf. kompensieren zu lernen. Zusätzlich werden in berufsbezogenen psychosozialen Gruppen Strategien für den beruflichen Wiedereinstieg vermittelt. In der
Sozialberufsberatung wird der Wiedereingliederungsprozess unter Einbindung des Arbeitgebers und anderer Institutionen geplant und der Patient bezüglich weiterer Maßnahmen beraten und diese ggf. bereits in die Wege geleitet (Schmielau und Seifart
2017).
Hinsichtlich der Wirksamkeit von MBOR zeigte eine Cochrane-Analyse moderate Effekte durch eine multidisziplinäre Intervention (de Boer et al.
2015). In Deutschland gibt es bisher für die Wirksamkeit von MBOR bei Krebserkrankungen nur wenige Daten und Erkenntnisse. Die bisher vorliegenden nicht randomisierten Studien zeigen allesamt keinen sicheren Hinweis auf eine Verbesserung der Erwerbsfähigkeit oder eine höhere Rate bezüglich der Rückkehr an den Arbeitsplatz. Lediglich in der Nachbeobachtung nach 3 Monaten konnte die subjektive Leistungsfähigkeit signifikant verbessert und die beruflichen Sorgen reduziert werden (Böttcher et al.
2013; Kähnert et al.
2016; Leibbrand et al.
2017). Die einzige Cluster-randomisierte Studie zu MBOR an 4 deutschen Rehabilitationskliniken stellt die derzeit größte Untersuchung bei Krebspatienten dar. Die mittelfristigen Ergebnisse wurden zuletzt auf dem rehawissenschaftlichen Kolloquium 2018 präsentiert und waren ernüchternd, da sie für das Gesamtkollektiv keine verbesserte Rückkehr ins Erwerbsleben im Vergleich zu den Patienten ohne MBOR zeigten. Nur bei Vorliegen eines hohen Frühberentungsrisikos zeigten sich positive Effekte von MBOR im Hinblick auf die Rückkehr ins Erwerbsleben (Wienert et al.
2016; Fauser et al.
2018).
Die langfristigen Teilhabeeffekte sollen nach 12 Monaten erneut überprüft werden. Eine weitere Studie in einem anderen Studiendesign ist geplant und bleibt bei der endgültigen Beurteilung von MBOR in der Onkologie abzuwarten. Bis dahin erscheinen außerhalb von Studien Maßnahmen im Rahmen von MBOR, die über die Basisversorgung hinausgehen, als nicht indiziert.