Einführung
Die
thrombotischen Mikroangiopathien (TMA) sind mikrovaskuläre Erkrankungen, die sich durch systemische oder renale Thrombozytenaggregation,
Thrombozytopenie, mechanische Schädigung der
Erythrozyten mit hämolytischer
Anämie und mögliche Endorganschädigung durch Okklusionen kleiner Gefäße auszeichnen. Entsprechende Syndrome mit
thrombotischer Mikroangiopathie umfassen die thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura (TTP) mit Ischämien von Gehirn und weiteren Organen, das hämolytisch-urämische Syndrom
(HUS) mit Mikrothromben der Nierengefäße und konsekutiver Nierenfunktionsstörung (Moake
2002), die diffus-intravaskuläre Gerinnung (DIC) mit prominenter
Blutungsneigung und der Kombination aus Hämolyse, erhöhten Lebertransaminasen und Thrombozytopenie (
HELLP). Das Chemotherapie-assoziierte HUS
wird in der Literatur auch angegeben als c-HUS
.
Laborchemisch lassen sich neben der
Thrombozytopenie häufig
Fragmentozyten und eine erhöhte
Laktatdehydrogenase (LDH) als Zeichen der intravasalen Hämolyse feststellen. Histologisch zeigt sich bei den
thrombotischen Mikroangiopathien eine Gefäßwandverdickung, Endothelschwellung, intraluminale Thrombozytenthromben mit möglicher mikrovaskulärer Obstruktion in Arterien, Arteriolen und/oder glomerulären Kapillaren. Kommt es bei einer
thrombotischen Mikroangiopathie zum Auftreten einer prädominanten und klinisch relevanten Nierenfunktionsstörung, wird von einem HUS
gesprochen. Die Unterscheidung zwischen TTP, HUS, DIC und
HELLP ist zuweilen nicht eindeutig. In der onkologischen Literatur werden diese Begriffe nicht selten synonym verwendet.
Im Gegensatz zum Nichtchemotherapie-assoziierten,
klassischen HUS, ausgelöst durch gastrointestinale Infekte mit Shiga-Toxin-produzierenden
Escherichia coli, liegt beim
c-HUS eine
nichtinfektiologische Thrombozytopenie und Nierenfunktionsstörung auf Basis einer unkontrollierten Aktivierung des Komplementsystems vor (Noris und Remuzzi
2009). Das
sporadische, atypische HUS kann durch Organtransplantation, Schwangerschaft,
HIV-Infektion oder medikamentös ausgelöst werden, hier vor allem durch spezifische Chemotherapeutika (c-HUS), immunmodulierende Substanzen (Cyclosporin,
Tacrolimus) und Thrombozyten-hemmende Substanzen wie
Ticlopidin oder
Clopidogrel (Noris und Remuzzi
2009; Dlott et al.
2004).
Unter den onkologischen Substanzen wurde das Auftreten eines HUS beschrieben für Chemotherapeutika wie Gemcitabine, Mitomycin C und Cisplatin, Anti-VEGF-Antikörper und Tyrosinkinaseinhibitoren wie Imatinib oder Sunitinib.
Ein möglicher Zusammenhang zum c-HUS besteht zudem für folgende Substanzen:
5-Fluorouracil (Van Cutsem et al.
2013),
Cytarabin (Arai et al.
2015),
Daunorubicin (Regragui et al.
2012),
Hydroxyurea (Shammas et al.
1997). Differenzialdiagnostisch dient in erster Linie die zeitliche Koinzidenz zwischen dem Auftreten eines HUS und der Exposition gegenüber eines der beschriebenen Onkologika. Laborchemisch sind zwar keine etablierten diagnostischen Marker bekannt, allerdings könnte die Metalloprotease ADAMTS13, die Multimere des
von-Willebrand-Faktors spaltet, zukünftig als diagnostischer Surrogatmarker zur Differenzierung zwischen Arzneimittel-induziertem und idiopathischem HUS dienen. So wurde bei 142 Patienten mit einem TTP/HUS gezeigt, dass eine sehr tiefe Aktivität von ADATS13 (<5 %) in 33 % der Fälle mit idiopatischem TTP/HUS auftritt, nie jedoch in Fällen von Arzneimittel-assoziiertem TTP/HUS (Vesely et al.
2003). Das c-HUS macht nur einen kleinen Teil des gesamten Spektrums möglicher renaler Toxizitäten antineoplastischer Substanzen aus. Letzteres wird im Kap. „Renale Toxizität antineoplastischer Substanzen“ abgehandelt.
Pathophysiologie des atypisch-sporadischen HUS
Dem atypischen HUS
liegt eine unspezifische Komplementaktivierung zugrunde, und es finden sich bei betroffenen Patienten reduzierte Serumspiegel der Komplementfraktion C3 bei normalen Serumspiegeln von C4 (Noris und Remuzzi
2009). Im akuten Krankheitsschub lassen sich granuläre Depots von C3 in Nierenglomeruli und Arteriolen nachweisen (Barre et al.
1977). Lokal führt dies zu einer vollständigen Komplementaktivierung bis hin zum gewebstoxischen Komplex C5b-9. Während
Keimbahnmutationen gewisser Gene (etwa CFH, MCP, CFI, CFB, C3, THBD) für das hereditäre, atypisch-sporadische HUS verantwortlich sind, wurden bis anhin keine solchen hereditären Komponenten bei Tumorpatienten mit Arzneimittel-assoziiertem HUS beschrieben. Dem Chemotherapie-assoziierten HUS (c-HUS) liegt eine primäre Endothelschädigung zugrunde, was zu einem Verlust der physiologischen antithrombogenen Charakteristika des Endothels führt, gefolgt von einer Freisetzung von ultralangen Multimeren des
von-Willebrand-Faktors, Gefäßwandverdickung und intraluminalen Thrombozytenthromben.
Das Auftreten eines Arzneimittel-assoziierten, atypisch-sporadischen HUS ist häufig erst einige Monate nach Start der zytotoxischen respektive antitumorösen Systemtherapie zu beobachten. Ursächlich verantwortlich gemacht werden entweder immunologische Mechanismen oder eine direkte Endotheltoxizität mit nachfolgender Komplementaktivierung (Medina et al.
2001).
Die Prognose eines Arzneimittel-assoziierten HUS lässt sich aufgrund der geringen Fallzahlen nur schwer abschätzen, eine verzögerte Diagnostik und Behandlung sowie eine direkt zytotoxische Endothelschädigung als Ursache sind jedoch mit einer schlechten Prognose verbunden.
Nach dem Auftreten eines c-HUS sollte das entsprechende Onkologikum nicht mehr angewendet werden, auch nach vollständiger Regredienz der klinischen und labaorchemischen Befunde.
Von besonderer Bedeutung ist der Umstand, dass ein atypisches HUS in 6 % aller metastasierten soliden Tumoren auftritt, insbesondere bei Patienten mit Karzinomen des Magens, der Brust und des Pankreas (Lesesne et al.
1989). Dabei muss immer auch die Möglichkeit eines Krankheits-assoziierten HUS in Betracht gezogen werden, das nicht durch die antitumoröse Systemtherapie ausgelöst wurde.
Therapeutische Aspekte
Der
Plasmaaustausch ist die Basisbehandlung des HUS/TTP und muss bei allen Patienten mit einem entsprechenden Syndrom unter antineoplastischer Therapie erwogen werden (Elliott und Nichols
2001). Der Plasmaaustausch ist die einzige etablierte Behandlung mit einem günstigen Effekt auf den klinischen Verlauf (Bell et al.
1991). Er kompensiert primär den Verlust des
von-Willebrand-Faktors unter einem HUS/TTP. Plasmainfusionen sind weniger effektiv als Plasmaaustausch, führen zu Hypervolämie und sind in dieser klinischen Situation keine Alternative zum Plasmaaustausch. Leider ist der Plasmaaustausch bei Chemotherapie-assoziiertem HUS/TTP weniger effektiv als beim nichtmedikamentösen HUS/TTP (Elliott und Nichols
2001).
Patienten ohne ein Ansprechen auf Plasmaaustausch sollten einer
Immunadsorption über eine
Staphylococcus-Protein-A-Säule zugeführt werden (Schifferli und Peters
1983). Komplikationen bedingt durch den zentralvenösen Katheter sind möglich. Die zusätzliche Gabe von Steroiden oder
Thrombozytenaggregationshemmern scheint keinen klinischen Nutzen zu bringen, obschon mindestens Steroide in dieser Situation regelmäßig eingesetzt werden.