Psychomotorische Entwicklungsstörungen von ehemaligen Frühgeborenen
Zerebralparese
Während die einer Zerebralparese zugrunde liegende Hirnläsion stationär ist, „entwickelt“ sich die neurologische Störung im Laufe der zunehmenden Kortikalisierung der Bewegungssteuerung während der ersten beiden Lebensjahre, sodass spätestens im Alter von 2 Jahren die Diagnose einer Zerebralparese gestellt werden kann. Der bei Frühgeborenen vorherrschende Lähmungstyp ist die beinbetonte bilaterale spastische Parese, dystone und ataktische Zerebralparesen machen zusammen weniger als 10 % aller Zerebralparesen bei Frühgeborenen aus.
Der Schweregrad der motorischen Beeinträchtigung der unteren Extremität (Gehfähigkeit) wird mithilfe der GMFCS-Skala (Gross Motor Function Classification System) beschrieben (Kap. „Zerebralparesen“), der Schweregrad der motorischen Beeinträchtigung der oberen Extremität (alltägliche Verrichtungen) mit der MACS-Skala (Motor Ability Classification System).
Kognitive Störungen
Kognitive Störungen werden vor allem bei Schuleintritt für das betroffene Kind und seine Familie zum Problem. Das Risiko für Schulschwierigkeiten steigt linear mit sinkendem Gestationsalter an, etwa die Hälfte aller Frühgeborenen mit einem Gestationsalter von 24 Wochen bedarf bei oder nach der Einschulung besonderer Hilfe (bei reifgeborenen Kindern liegt der Anteil bei weniger als 5 %). Die Mehrzahl der späteren Schulschwierigkeiten ist nicht auf einen umschriebenen Gewebeuntergang zurückzuführen, der sich sonografisch erfassen ließe, sondern liegt in Störungen der postnatalen Hirnentwicklung begründet. Bei sehr unreifen Frühgeborenen sind Jungen deutlich schwerer betroffen als Mädchen. Kognitive Entwicklungsstörungen bedürfen zu ihrer Erfassung einer standardisierten Testung (in den ersten beiden Lebensjahren, z. B. mit den Griffiths- oder Bayley-Skalen, später Kaufman-ABC, ab 5 Jahren Intelligenztests für Kinder; Kap. „Entwicklungsstörungen und Behinderungen“). Solche Untersuchungsverfahren helfen einerseits, ein Kind vor Überforderungen nach der Einschulung zu bewahren. Andererseits schützen normale oder fast normale Testergebnisse vor Trugschlüssen, bei allfälligen Schulschwierigkeiten vorschnell die Frühgeburtlichkeit verantwortlich zu machen, statt nach anderen Ursachen für Konflikte und Versagen in der Schule zu suchen. Insgesamt benötigen ehemalige extrem unreife Frühgeborene rund 1 Jahr länger bis zur Erlangung eines berufsqualifizierenden Abschlusses, ihr Einkommen liegt als Erwachsene rund 25 % niedriger als das von reifgeborenen Kindern aus einer vergleichbaren sozialen Schicht.
Affektive Störungen
Ehemalige Frühgeborene weisen ein erhöhtes Risiko für
Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität auf (vor allem Jungen; Kap. „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“), andererseits sind ehemalige Frühgeborene (vor allem Mädchen) oft scheuer und vorsichtiger als gleichaltrige Kinder. Die geringere Risikobereitschaft wirkt sich in der
Pubertät durchaus positiv aus (weniger unerwünschte Schwangerschaften, weniger Alkohol- und Drogenprobleme). In Kohortenstudien berichten Erwachsene, die als Frühgeborene vor der Einführung der Känguruh-Pflege geboren wurden, vermehrt über Schwierigkeiten mit sexuellen Kontakten und romantischen Beziehungen. Trotz des schwierigen Starts sind Familien mit einem extrem unreifen Frühgeborenen nicht stärker von Zwist und Zerfall bedroht als andere Familien.
Geburtstraumatische Schäden
Hypoxisch-ischämische Enzephalopathie
Das Ausmaß einer hypoxisch-ischämischen Enzephalopathie kann zum einen klinisch abgeschätzt werden (Thomsen-, Sarnat-Score), zum anderen lässt sich die Funktionseinschränkung mithilfe des amplitudenintegrierten EEGs verfolgen. Während normalerweise die Amplitude des EEGs beim Neugeborenen sich in einem Band von 5–10 μV bewegt, kommt es bei einer schweren Asphyxie zunächst zum Absinken der unteren Bandgrenze, später auch der oberen Bandgrenze, bis sich ein Burst-Suppression-Muster ausbildet (Bandbreite nahe 0 mit einzelnen höheren Entladungen).
Plexusparesen
Vor allem bei makrosomen Kindern kann es während der Geburt zu einer Zerrung oder Zerreißung von Nervenfasern des Plexus brachialis kommen. Bei der oberen Plexuslähmung (Erb-Lähmung, C4–C5) wird der Arm innenrotiert in Adduktion gehalten und kann nicht mehr über die Horizontale gehoben werden (asymmetrischer Mororeflex). Bei Beteiligung von C4 kann eine Zwerchfellparese auftreten. Die untere Plexuslähmung (Klumpke-Lähmung, C7–C8) ist durch die Einschränkung des Greifreflexes charakterisiert. Bei zusätzlicher Schädigung des Ramus communicans des zervikalen Sympathikus besteht ein ipsilateraler Hornerkomplex (Ptosis, Miosis, Enophthalmus). Liegt eine Zerrung zugrunde, kommt es zu einer spontanen Rückbildung der Symptomatik, bei einer Zerreißung von Nervenfasern oder einem Ausriss im Zervikalmark nicht. In diesen Fälllen kann im Alter von ca. 3 Monaten versucht werden, durch mikrochirurgische Umsetzung von Nervenfasern und Muskelansätzen eine funktionelle Verbesserung zu erreichen.
Zerebrale Krampfanfälle
Die überwiegende Mehrzahl von Krampfanfällen bei Neugeborenen treten im Rahmen einer hypoxisch-ischämischen Enzephalopathie auf. Die Krampfanfälle beginnen dabei im Allgemeinen 8–12 h nach der Geburt, die Krampfbereitschaft hält mehrere Tage an, die Kinder zeigen in Abhängigkeit von der Schwere der Asphyxie weitere neurologische Auffälligkeiten.
Die zweithäufigste Ursache sind perinatale Infarkte und intrakranielle Blutungen. Auch dabei manifestieren sich die Krämpfe nach einem freien Intervall meist am Ende des 1. Lebenstags, oft mit einer charakteristischen Seitenbetonung, die Neugeborenen sind aber zwischen den Anfällen neurologisch wenig oder gar nicht auffällig. Diagnostisch wegweisend ist eine kraniale Kernspintomografie mit diffusionsgewichteten Sequenzen. Die Kernspintomografie erlaubt darüber hinaus auch die Diagnose seltener kongenitaler Ursachen, etwa einer neuronalen Migrationsstörung (Kap. „Entwicklungsstörungen des Nervensystems“), und kann Residualschäden nach intrauterinen Infektionen (CMV,
Toxoplasmose, Zika) dokumentieren, die ebenfalls als Ursache zerebraler Krampfanfälle infrage kommen.
Hypoglykämien und
Hypokalzämien, wie sie nach einer Asphyxie, aber auch z. B. bei Kindern diabetischer Mütter auftreten können, sind einfach zu behebende Ursachen zerebraler Krämpfe. Die bettseitige Bestimmung der Blutglukosekonzentration und des Serumkalziums gehören deshalb zur standardmäßig durchgeführten Akutdiagnostik bei zerebralen Krampfanfällen von Neugeborenen. Demgegenüber ist eine
Hypomagnesiämie eine seltene Ursache eines zerebralen Krampfanfalls, z. B. bei chronischen enteralen Verlusten aus einem Stoma oder (sehr selten) bei Kindern mit einem hereditären Magnesiumtransportdefekt (
TRPM6-Defekt).
Jede
Meningitis oder
Enzephalitis kann mit Krampfanfällen einhergehen. Bei Neugeborenen können bei entzündlichen ZNS-Erkrankungen
Glukose und Eiweiß im Liquor normal sein, beweisend ist jeweils nur der Erregernachweis mittels Kultur oder PCR. Enterovirus-Enzephalitiden können bereits in der 1. Lebenswoche auftreten, eine perinatal erworbene Herpes-simplex-Infektion manifestiert sich meist in der 2. Lebenswoche. Wenn eine Herpes-simplex-Enzephalitis vermutet wird, ist eine antivirale Therapie mit Aciclovir bis zum Vorliegen eines negativen Liquorergebnisses indiziert.
Nach mütterlichem Opiatkonsum in der Schwangerschaft kann es als Ausdruck eines neonatalen Drogenentzugs zu Krampfanfällen kommen, die gut auf Morphin, nicht aber auf Phenobarbital ansprechen. Diagnostisch wegweisend sind die Anamnese und der Nachweis von
Opiaten im Mekonium.
Krampfanfälle, die in den ersten Lebenstagen zusammen mit einer progredienten neurologischen Symptomatik auftreten, sind verdächtig auf eine angeborene Störung im Aminosäurestoffwechsel, die fast immer mit einer metabolischen Azidose und/oder einem erhöhten Ammoniakspiegel im Blutplasma einhergehen (Kap. „Differenzialdiagnose und Notfallbehandlung von Intermediärstoffwechselkrankheiten“). Ausnahmen sind die
nichtketotische Hyperglycinämie und der Molybdänkofaktormangel, die sich beide mit einer rasch progredienten neurologischen Symptomatik manifestieren, ohne dass sich dabei frühzeitig eine Azidose oder Ammoniakerhöhung zeigt (Kap. „Aminoazidopathien“).
Ein spezielles Krankheitsbild sind Störungen im Pyridoxalphosphat-Stoffwechsel (Kap. „Vitaminresponsive Enzephalopathien bei Kindern und Jugendlichen“), die zu heftigen, mit antiepileptischen Medikamenten schlecht beherrschbaren Krampfanfällen führen, welche aber auf Gabe von Pyridoxin (Vitamin B
6) oder in bestimmten Fällen Pyridoxalphosphat sistieren (Vitamin-B
6-responsive Krampfanfälle). Bei partiellem Ansprechen kann die Wirkung durch die Gabe von Folinsäure gesteigert werden. Diesem Krankheitsbild können Mutationen in bis zu zehn verschiedenen Genen zu Grunde liegen, die entweder zu einer beeinträchtigten Pyridoxalphosphat-Synthese oder zu einer Sequestrierung von Pyridoxalphosphat durch toxische Metabolite führen. Letzteres gilt für Mutationen im
ALDH7A1-Gen, das für die α-Aminoadipin-Semialdehyddehydrogenase Antiquitin kodiert. Das klinische Spektrum eines genetisch bedingten intrazellulären Pyridoxalphosphatmangels beschränkt sich nicht auf Vitamin-B
6-responsive Krampfanfälle in der Neonatalperiode. Die Störungen können sich sowohl früher (pränatal diagnostizierte
Ventrikulomegalie) als auch später (Krampfanfälle und autistische Wesensveränderungen am Ende der Säuglingszeit) manifestieren. Zudem kann es zu perinatalen Störungen kommen, die fälschlicherweise mit den auftretenden Krampfanfällen in Zusammenhang gebracht werden (
Hypokalzämie,
Hypomagnesiämie,
Diabetes insipidus,
Hypothyreose, niedrige Apgar-Werte).
Krampfanfällen, die bei ansonsten neurologisch unauffälligen Neugeborenen mit normalem MRT auftreten, können Mutationen,
Deletionen oder Duplikationen in Genen zugrunde liegen, die für zerebral exprimierte Kalium- oder Natriumionenkanäle kodieren (
KCNQ2,
KCNQ3,
KCNT1, KCNA1, KCNA2, SCN2A, SCN8A, SCN1A SCN1B, SCN9A; Kap. „Epilepsien bei Kindern und Jugendlichen“, Abschn. „Genetik der Epilepsien“). Die Diagnose ist letztendlich nur durch Sequenzierung der betreffenden Gene zu stellen. Das interiktale
EEG kann unauffällig sein. Die Krampfanfälle sprechen bisweilen gut auf niedrig dosiertes
Carbamazepin oder Oxacarbazepin an, die als Na
+-Kanal-Antagonisten fungieren. Gegen Ende der Neugeborenenperiode kann es zu einer Spontanremission kommen (sog. benigne familiäre
Neugeborenenkrämpfe, v. a. bei bei
KCNQ2- und
KCNQ3-Defekten). Trotz der Bezeichnung werden bei einem Teil der Patienten mit diesen Diagnosen im weiteren Verlauf erneut Krampfanfälle und eine verzögerte psychomotorische Entwicklung beobachtet (frühe myoklonische Enzephalopathie, Ohtara-Syndrom,
epileptische Enzephalopathie mit Entwicklungsdefiziten).
Veränderungen im
SLC2A1-Gen, das für den
Glukosetransporter Glut1 kodiert (Kap. „Genetische Defekte des Monosaccharidstoffwechsels“, Abschn. „Angeborene Störungen des Glukosetransports“), können am Ende der Neugeborenenperiode oder später zu zerebralen Krampfanfällen führen, die auf Antikonvulsiva schlecht ansprechen. Diagnostisch wegweisend sind niedrige Glukosekonzentrationen im Liquor (< 45 mg/dl [2,0 mmol/l] bzw. < 45 % der gleichzeitig gemessenen Blutglukosekonzentration). Die Therapie besteht in einer ketogenen Diät.
Neonatales Abstinenzsyndrom
Eine pharmakologische Therapie ist indiziert bei Finnegan-Scores über 12 Punkten bzw. drei ‚Eat – sleep – console‘-Punkten, sowie unabhängig davon bei Auftreten von Krampfanfällen. Sie beruht in erster Linie auf dem Einsatz von oral gegebenen
Opiaten (vorzugsweise
Buprenorphin, unter Morphin oder
Methadon längere Entzugssymptomatik), zusätzlich kann die Gabe von Clonidin oder Phenobarbital nötig werden. Bei Rückgang der Symptome (Finnegan-Scores ≤ 8 Punkten bzw. ein ‚Eat – sleep – console‘-Punkt) wird die Therapie schrittweise ausgeschlichen.
Eine Entzugssymptomatik wird auch bei fortgesetzter Einnahme anderer psychoaktiver Substanzen in der Schwangerschaft beobachtet, wie
Benzodiazepinen oder
Antidepressiva vom Typ der selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer, allerdings ist die Symptomatik deutlich schwächer ausgeprägt. Bei
Kokain steht nicht die Entzugssymptomatik im Vordergrund, sondern das erhöhte Risiko für arterielle ischämische
Hirninfarkte. Neonatale Symptome nach intrauteriner Amphetamin-Exposition (
Crystal Meth) sind uncharakteristisch, einige Kinder werden zunächst als ausgesprochen ruhig beschrieben.