Rechtliche Regelungen
Lebensmittel für Säuglinge (<12 Monate) und gesunde Kleinkinder (1–3 Jahre) gelten lebensmittelrechtlich als diätetische Lebensmittel, deren Zusammensetzung (Tab.
5), Etikettierung und Vertrieb in speziellen EU-Richtlinien geregelt sind. Diese werden in nationales Recht umgesetzt. In Deutschland ist dies die Diätverordnung aus dem Jahre 2017, ferner die Lebensmittelkennzeichnungs- und die Nährwertkennzeichnungs-Verordnung bzw. Lebensmittelinformations-Durchführungsverordnung. In Österreich werden die EU-Richtlinien als Verordnungen im Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich veröffentlicht. Kommentare und Anleitungen für die praktische Umsetzung veröffentlicht die Ernährungskommission der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde.
Tab. 5
Auszüge aus der Delegierten Verordnung (EU) 2016/127 der EU für die Zusammensetzung von Säuglingsanfangsnahrung und Folgenahrung im Vergleich zu Nährstoffgehalten in Muttermilch
Energie (kcal) | 60–70 | 60–70 | 71 |
Protein (g)b | | | 1,13 (1,03–1,43) |
Kuh- oder Ziegenmilchprotein | 1,08–1,75 | Wie Anfangsnahrung | |
Sojaeiweißisolat | 1,35–1,96 | |
Hydrolysiertes Protein | 1,86–2,8 | |
Fett (g) | 2,6–4,2c | 4,03 (3,50–4,62) |
Kohlenhydrate (g)d | 5,4–9,8 | 7,0 |
Laktose (g) | Minimal 2,7–3,15e | 7,0 |
Frukto- und Galakto-Oligosaccharide (g)f | Maximal 0,8 | – |
Inositol (mg) | 2,4–28 | Keine Vorschrift | |
| 15–42 | Wie Anfangsnahrung | 13 (12–19) |
| 48–112 | 47 (46–64) |
| 36–112 | |
Kalzium (mg) | 30–98g | 32 (25–41) |
Phosphor (mg) | 15–63h | 15 (12–17) |
| 3,5–10,5 | 3,1 (2,9–5,0) |
| 0,18–0,91i | 0,36–1,4 | 0,058 (0,026–0,058) |
| 0,3–0,7k | Wie Anfangsnahrung | 0,148 (0,120–0,390) |
| 36–70 | 72 (24–77) |
Jod (μg) | 9–20,3 | 6,3 (4,3–9,0) |
| 1,8–6,02 | |
| 0,06–7,0 | |
| Maximal 8,4–9,8 | |
Fluorid (μg) | Maximal 69–70 | |
| 42–80 | 69 (52–73) |
| 0,36–3,5 | 0,28 (0,15–0,54) |
| 2,4–21 | 4,4 (3,5–5,5) |
Vitamin B1 (μg) | 24–210 | 15 (13–17) |
Vitamin B2 (μg) | 36–280 | 38 (30–44) |
Vitamin B6 (μg) | 12–122 | 14 (9–17) |
| 0,24–1,4 | |
| 0,24–1,05 | 0,17 (0,13–0,20) |
| 9–33 | 8,5 |
| 0,6–5,25 | |
Vitamin B12 (μg) | 0,06–0,35 | |
| 0,6–17,5 | |
| 1,2–2,1 | |
Nukleotide (mg)p | Maximal 3–3,5 | |
In der Tab.
5 sind die Zusammensetzungskriterien genannt, die mit Ausnahme der Vorschriften für Nahrungen auf der Basis von Proteinhydrolysaten ab 22. Februar 2020 in der Europäischen Union gelten (Delegierte Verordnung [EU]
2016/127 der Kommission). Die neue Verordnung weicht insbesondere in Bezug auf die Zusammensetzungskriterien für Folgenahrung von den bisher geltenden Bestimmungen ab, indem sie viele Unterschiede zu Anfangsnahrung entsprechend der Richtlinie 2006/141/EG abschafft. Dies geschah auf Vorschlag der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), die in ihrem Bericht von 2014 hervorhob, dass Säuglingsanfangsnahrung in ihrer derzeitigen Zusammensetzung während des ganzen 1. Lebensjahres für die Ernährung von Säuglingen geeignet ist, die zusätzlich Beikost erhalten und dass hauptsächlich ein höherer Eisengehalt erforderlich sei, um dem höheren Eisenbedarf im 2. Lebenshalbjahr nach Entleerung der Eisenspeicher zu entsprechen. Vergleicht man allerdings die Vorschläge der EFSA mit den Angaben in der zukünftigen Gesetzesregelung fällt auf, dass nicht alle umgesetzt wurden. Abgesehen davon, dass EU-Kommission und -Parlament in ihren Entscheidungen unabhängig sind, braucht es immer eine gewisse Zeitspanne, bis neue Erkenntnisse sich durchsetzen, wie aus der Geschichte der Entwicklung der europäischen Vorschriften, die die Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern betreffen, abzulesen ist.
Säuglingsanfangsnahrungen und Folgenahrungen
Für Säuglinge, die nicht oder nicht voll gestillt werden können, stehen heute industriell hergestellte Muttermilchersatzprodukte zur Verfügung, die eine vollwertige und sichere Ernährung ermöglichen. Säuglingsanfangsnahrung entspricht für sich allein den Erfordernissen von Neugeborenen und Säuglingen in den ersten 4–6 Lebensmonaten und kann als Milch neben der Beikost bis zum Ende des 1. Lebensjahres beibehalten werden. Folgenahrung stellt den flüssigen Milchanteil neben der Beikost dar.
Produkte, die im Proteinanteil ausschließlich aus Kuhmilchprotein hergestellt sind, werden als Säuglingsmilchnahrung bzw. Folgemilch bezeichnet. Bei den in Deutschland und Österreich angebotenen Säuglingsmilchnahrungen lassen sich aufgrund der Kohlenhydratkomponenten Produkte mit Laktose als einzigem Kohlenhydrat („Pre“) und Produkte mit zusätzlichem Gehalt an Stärke und gegebenenfalls weiteren Kohlenhydraten, meist Maltodextrinen („1“) unterscheiden. Der Begriff „adaptiert“, der sich früher auf die Proteinkomponente bezog (Protein <2,5 g/100 kcal, Molkenprotein: Kasein ≥1,0) und auf die Anwesenheit von Laktose als einzigem Kohlenhydrat darf nicht mehr als Nahrungsbezeichnung verwendet werden.
Säuglingsanfangsnahrungen einschließlich „HA“-Nahrungen mit Laktose als einzigem Kohlenhydrat („Pre“) sind für die eventuelle Zufütterung bei gestillten Säuglingen sinnvoll (Zwiemilch) und bei nicht gestillten Säuglingen als ausschließliche Ernährung in den ersten 4–6 Lebensmonaten und anschließend als Milchnahrung neben der Beikost im 1. Lebensjahr geeignet. Sie sind ähnlich dünnflüssig wie Muttermilch. Auch die etwas konsistenteren stärkehaltigen Anfangsnahrungen („1“) sind in den ersten Lebensmonaten vertretbar und im ganzen 1. Lebensjahr geeignet. Mütter sprechen ihnen häufig eine bessere Sättigung zu, ohne dass es dafür Beweise gäbe. In bestimmter Säuglingsanfangsnahrung auf der Basis von Proteinhydrolysaten ist auch Saccharose zugelassen. Bei entsprechenden Symptomen muss deshalb an eine
hereditäre Fruktoseintoleranz gedacht werden. In Folgenahrung sind zusätzlich
Fruktose und Honig zulässig. Clostridium-botulinum-Sporen müssen aus dem Honig entfernt worden sein.
Auf Folgenahrungen (in Deutschland und Österreich mit dem Beisatz „2“ oder gegebenenfalls „3“ versehen) muss darauf hingewiesen werden, dass sie nur zusammen mit Beikost gefüttert werden sollen. Befürchtungen, dass sie mit ihrem derzeit noch etwas höheren Protein- und Mineralstoffgehalt die unreife Niere stärker belasten als Säuglingsanfangsnahrung sind nicht begründet. In der EU wurden Folgenahrungen an die Zusammensetzung der Säuglingsanfangsnahrung weitgehend angeglichen (Tab.
5) Eine ernährungsphysiologische Notwendigkeit für Folgenahrungen besteht nicht.
Nahrungen mit Zusatz von Probiotika und/oder Präbiotika werden zunehmend angeboten. Im österreichischen Handel gibt es fast nur mehr Säuglingsnahrungen und Folgenahrungen mit Zusätzen von Pro- und/oder Präbiotika.
Probiotika sind lebende Mikroorganismen (meist Laktobazillen und Bifidobakterien), die der Nahrung zugesetzt werden, um die Zusammensetzung der Darmflora positiv zu beeinflussen. Ein moderater, aber signifikanter Wirksamkeitsnachweis wurde für wenige definierte Keime bei der Prophylaxe und Therapie der infektiösen Diarrhö nachgewiesen. Dagegen gibt es bisher keinen Nachweis für einen längerfristigen klinischen Nutzen durch die Zugabe von Probiotika zu Säuglingsanfangs- oder Folgenahrung und keine Daten zu potenziellen Langzeiteffekten auf die intestinale Kolonisierung und gastrointestinale und immunologische Funktionen. Säuglingsanfangsnahrung mit Zusatz von Probiotika sollte deshalb nur auf den Markt gebracht werden, wenn Nutzen und Sicherheit nach etablierten Prüfregeln evaluiert wurden. Gegen den Zusatz von Probiotika zu Folgenahrung bestehen weniger Vorbehalte.
Präbiotika (Galakto- [GOS] und Fruktooligosaccharide [FOS],
Inulin, aus pflanzlichen Grundstoffen) sind nicht verdaubare Nahrungsinhaltsstoffe, die selektiv das Wachstum und/oder die Aktivität bestimmter Bakterienstämme (Bifidobakterien, Laktobazillen) im Darm fördern und damit das Ökosystem des Darms positiv beeinflussen sollen. Erlaubt ist der Zusatz von
Oligosacchariden in Säuglingsanfangsnahrung und Folgenahrung (maximal 0,8 g/100 ml, davon 90 % GOS, 10 % FOS). Diese beiden Oligosaccharide sollen ähnliche Effekte auf die Gesundheit hervorrufen wie die zahlreichen Oligosaccharide der Frauenmilch, obwohl sie keine strukturelle Ähnlichkeit aufweisen. Die metabolischen und klinischen Effekte von Präbiotika bei Säuglingen und Kleinkindern, sowie ihre Sicherheit sollten ausreichend untersucht sein bevor sie Säuglings- und Kleinkindernahrung zugesetzt werden. Einzelne kleine Studien mit einzelnen Oligosacchariden, die auch in Frauenmilch nachgewiesen wurden, hatten Effekte auf die Mikrobiota des Darmes, die Stuhlbeschaffenheit und das Risiko für gastrointestinale Infektionen.
Neben Folgenahrungen finden sich mehr und mehr sog. Kindermilchen auf dem Markt, die in der Regel aus modifizierter Kuh- oder Ziegenmilch bestehen (weniger Eiweiß, angepasster Fettkörper durch teilweisen Austausch mit Pflanzenölen, Zusatz von
Vitamin D und von
Eisen). Zu der Zusammensetzung von derartigen Kindermilchen (ab 12 Monaten) hat die Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und
Jugendmedizin im Jahre 2011 ebenso wie die EFSA Vorschläge gemacht.
Auf eine Aufzählung und Beschreibung industriell hergestellter Muttermilchersatznahrungen für Säuglinge in Deutschland und Österreich wird verzichtet.
Die Bewerbung von Säuglingsnahrungen ist in der EU stark beschränkt: Mit Ausnahme der Bezeichnung „HA“ für hypoallergen darf nur auf den Zusatz von DHA und gegebenenfalls auf die Abwesenheit von Laktose hingewiesen werden, während die Verwendung von gesundheits- und ernährungsbezogenen Aussagen auf Anfangsnahrungen generell verboten ist. Dennoch finden sich auf dem Markt sog. Spezialnahrungen, die für Säuglinge mit leichten Befindlichkeitsstörungen allgemein erhältlich vermarktet werden. Sie sind tatsächlich „diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“ (bilanzierte Diäten) und als solche unter ärztlicher Überwachung einzusetzen.
Sie unterliegen damit denselben rechtlichen Vorgaben wie therapeutische Nahrungen, wie z. B. Aminosäuremischungen zur Behandlung angeborener Stoffwechselstörungen oder von nachgewiesenen Lebensmittelallergien. Für letztere können auch extensiv hydrolysierte Eiweiße verwandt werden.
Sojanahrungen
Für Säuglingsnahrungen auf der Basis von Sojaproteinisolaten (isoliertes Sojaprotein) wird zusätzlich zu den Nährstoffanforderungen an Säuglingsmilchnahrungen ein Zusatz von
Methionin und
Carnitin (≥7,5 μmol/100 kcal) vorgeschrieben. Da Sojanahrungen in Deutschland und Österreich üblicherweise keine Laktose enthalten, sind sie bei dem extrem seltenen angeborenen Laktasemangel und bei
Galaktosämie indiziert, ebenso bei Ablehnung von kuhmilchhaltiger Nahrung (z. B. Veganer) aufgrund von religiösen oder ethischen Überzeugungen. Mögliche Nachteile von Sojanahrungen sind eine geringere Proteinqualität sowie ihre Gehalte an Phytat,
Aluminium und Phytoöstrogenen. Sojanahrungen tragen nicht zur Prävention von allergischen Erkrankungen bei. Der Verwendung von Sojanahrungen zur Therapie einer Kuhmilcheiweißallergie steht entgegen, dass hierbei etwa 40 % der Patienten eine kombinierte Kuhmilch-Sojaprotein-Allergie entwickeln. Falls ab dem 2. Lebenshalbjahr Sojanahrung als therapeutische Diät bei Kuhmilcheiweißallergie wegen ihrer geringeren Kosten und besseren Akzeptanz erwogen wird, sollte die
Toleranz durch eine Belastung unter kontrollierten Bedingungen geprüft werden.
Proteinhydrolysate
In Proteinhydrolysaten wurde die Antigenität des nativen Eiweißes (z. B. Molkenprotein, Kasein, Schweinekollagen) durch enzymatische Hydrolyse, Erhitzung und z. T. Ultrafiltration reduziert. In der Praxis werden Proteinhydrolysate meist nach ihrem Hydrolysegrad in extensiv bzw. hochgradig hydrolysierte Produkte und teilweise bzw. schwach hydrolysierte Produkte (im Handelsangebot in der Regel mit „HA“ bezeichnet) eingeteilt, ohne dass eine einhellige Übereinstimmung über die Kriterien besteht. Allergiepräventive Effekte von Proteinhydrolysaten hängen nicht allein vom Hydrolysegrad oder Ausgangsprotein ab, sondern auch von der Ausprägung des genetischen Risikos eines Kindes. Für HA-Nahrungen („Pre“, „1“, „2“) gelten dieselben Nährstoffregelungen wie für Säuglingsmilchnahrungen bzw. Folgemilch (Ausnahme: höheres Proteinminimum, Zusatz von
Carnitin ≥7,5 μmol/100 kcal). Kontrollierte Untersuchungen haben gezeigt, dass bei Säuglingen mit erhöhtem familiären Atopierisiko (ein Elternteil oder Geschwister leiden an Heuschnupfen, Asthma, Ekzem oder Nahrungsmittelallergie ) eine ausschließliche Ernährung mit HA-Nahrung in den ersten 4 Lebensmonaten die Häufigkeit allergischer Krankheiten, ähnlich wie ausschließliches
Stillen, in den ersten Lebensmonaten vermindern kann. Klinische Studien müssen laut EFSA den Nachweis einer Risikoreduktion für die Entwicklung kurz- und langfristiger klinischer allergischer Manifestation durch eine spezifische Proteinhydrolysatnahrung erbringen. Ob die präventive Wirkung von HA-Nahrungen anhält, wenn diese über das 1. Lebenshalbjahr hinaus gegeben werden, ist derzeit nicht ausreichend untersucht noch sehr wahrscheinlich. Allergieprävention ist auch mittels hochgradig hydrolysierter Nahrungen möglich, doch sind diese teuer und schmecken bitter. Vorteile hochgradig hydrolysierter Produkte gegenüber mäßig hydrolysierten Produkten für die Prävention sind strittig. Unbestritten ist jedoch die alleinige Eignung hochgradig hydrolysierter Produkte für die Therapie manifester Kuhmilcheiweißallergien. Generell sollen nur solche Nahrungen für die Prävention und Therapie von
Nahrungsmittelallergien eingesetzt werden, deren Eignung in entsprechenden klinischen Studien nachgewiesen wurde.