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Pädiatrie
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Publiziert am: 07.05.2019

Rett-Syndrom

Verfasst von: Bernd Wilken und Folker Hanefeld
Das Rett-Syndrom wurde 1966 erstmalig vom Wiener Kinderneurologen Andreas Rett beschrieben. Er fand eine Entwicklungsstörung bei Mädchen mit wieder zu erkennenden Handstereotypien. Zusätzlich beschrieb er eine Hyperammonämie bei diesen Kindern. Die Beobachtungen wurden in der Wiener medizinischen Wochenschrift publiziert, die Hyperammonämie beruhte aber auf einem Messfehler. In der Folge geriet das Krankheitsbild in Vergessenheit und wurde erst 1983 von B. Hagberg „wiederentdeckt“ und bei 30 Mädchen beschrieben. 1999 wurde das ursächliche Gen entdeckt und in der Folge der Pathomechanismus immer weiter aufgeklärt. Im Jahr 2010 wurden die diagnostischen Kriterien überarbeitet und veröffentlicht. Eine kausale Therapie existiert zur Zeit nicht, eine Gentherapie ist aber in Vorbereitung. Eine Zulassung für diese Behandlung ist aber im Augenblick noch nicht erteilt. Weitere Ansätze sind eine Proteinersatztherapie, die aber von der klinischen Anwendung noch entfernt ist.
Das Rett-Syndrom (RTT) wurde 1966 erstmals von dem Wiener Kinder- und Jugendpsychiater Andreas Rett als zerebrale Atrophie mit Hyperammonämie bei Mädchen beschrieben. Da die berichtete Hyperammonämie auf einem Messfehler beruhte, fand das Krankheitsbild kaum Beachtung. Erst 1983 wurde das RTT von Hagberg als eigenständiges Krankheitsbild neu beschrieben und die Besonderheiten bei 30 Kindern publiziert, 1985 wurden in Wien erstmals die klinischen Kriterien für das RTT definiert. Basierend auf der Erstbeschreibung von Andreas Rett, gingen diese „Wiener Kriterien“ davon aus, dass es sich bei dem RTT um eine genetische Erkrankung handelt, die nur Mädchen betrifft und für Jungen einen Letalfaktor darstellt. In nachfolgenden Revisionen wurden 1988 auch Jungen in diese Krankheitsgruppe aufgenommen. Nach der Entdeckung von Mutationen im MeCP2-Gen von Patientinnen mit RTT im Jahre 1999 erfolgte eine nochmalige Überarbeitung der Diagnosekriterien im Hinblick auf ihre klinische Anwendung. Darin erfuhren einige der früheren Kriterien eine andere Gewichtung, insbesondere die Beurteilung des Kopfumfanges. Mikrozephalie, beziehungsweise Dezeleration des Schädelwachstums wurde als zwar häufiges, aber nicht mehr obligates Merkmal aufgeführt. Besondere Betonung erfuhr der Nachweis einer Regression, also dem kompletten oder partiellen Verlust bereits erworbener motorischer Funktionen (Handfunktion/Laufen) und kognitiver Fähigkeiten (Sprache/Kommunikationsmöglichkeiten) sowie die Entwicklung von Stereotypien. Basierend auf den in Datenbanken weltweit gesammelten Erfahrungen bei mehreren tausend Patienten mit RTT, beziehungsweise Kindern und Jugendlichen mit MeCP2-Mutationen erfolgte eine letzte Revision der diagnostischen Kriterien und Nomenklatur 2010. Man unterscheidet zwischen dem klassischen (typischen) RTT und atypischen (Varianten) des RTT.
Definition
Das Rett-Syndrom (RTT, MIM 312750) ist eine geschlechtsgebundene (X-linked) Entwicklungsstörung, die überwiegend nur Mädchen und Frauen betrifft.
Epidemiologie
Das RTT tritt mit einer Häufigkeit von 1:10.000 bei weiblichen Geburten auf. Nach der Trisomie 21 (Morbus Down) ist es die zweithäufigste genetische Ursache einer mentalen Behinderung bei Mädchen.
Ätiologie
Die meisten Fälle (>95 %) von RTT sind durch Mutationen im MeCP2-Gen (MeCP2e2) auf dem X-Chromosom verursacht. Als R. Amir 1999 die Mutation im MeCP2-Gen von Mädchen mit typischem RTT erstmals beschrieb, war das MeCP2-Protein seit seiner Entdeckung 1992 bereits Gegenstand intensiver Forschung. Damit war erstmals ein Zusammenhang zwischen Methylierung der DNA und erblichen Veränderungen der Genexpression nachgewiesen. Neben dem bereits bekannten MeCP2-Protein wurde 2004 eine zweite Isoform (MeCP2e1) beschrieben. Etwa 1 % der menschlichen DNA ist am Kohlenstoff 5 des Cytosinrings methyliert, vorwiegend an den CpG-Dinukleotiden. Durch die Methylierung wird die Genexpression via Transkriptionsfaktor beeinflusst. Derzeit sind bei Säugern 5 Proteine bekannt, die an methyliertes CpG binden, 4 dieser Proteine nämlich MeCP2, MBD1, MBD2 und MBD4 hemmen die Transkription am methylierten Promotor des Genes.
Die MeCP2-Proteine gehören zur Gruppe der Transkriptionsfaktoren, welche die Genexpression regulieren, indem sie an ausgewählte DNA-Sequenzen binden (CPG-Inseln). Das MeCP2-Gen ist auf dem langen Arm des X-Chromosoms in der Position Xq28 und unterliegt der X-Inaktivierung. Es besteht aus 4 Exons, welche die 2 für das RTT relevanten MeCP2-Isoformen kodieren. Sie agieren hauptsächlich als Repressor der Transkription, doch wird auch eine Aktivator-Funktion als relevant beim RTT diskutiert. Die MeCP2-Proteine sind besonders in neuronalen Strukturen im ZNS nachweisbar. Für die Pathogenese, besonders die Regressionsphase, des RTT sind nach neueren Untersuchungen auch die Astroglia und die Mikroglia von Bedeutung. Der Einfluss von MeCP2 auf die Expression und Funktion anderer Gene, beziehungsweise Proteine im Gehirn (z. B. BDNF, brain-derived neurotrophic factor), wird zunehmend erkannt. Die Expression von MeCP2 in den Nervenzellen weist sowohl lokalisatorische wie auch entwicklungsabhängige Schwankungen auf. In Neuronen ist sie besonders während der Maturation und vor der Synaptogenese prominent. Eine Reihe humaner Erkrankungen sind inzwischen als Folge einer Methylierungsstörung der DNA erkannt worden. Man hat deshalb den übergeordneten Begriff der MeCP2-Related-Disorders eingeführt. Dabei handelt es sich nach unserem derzeitigen Wissensstand erstens um Störungen der DNA-Methyltransferasen (DNMTs), die für die DNA-Methylierungsmuster verantwortlich sind und zweitens um Störungen der Methyl-CpG bindenden Proteine (MBDs: MeCp2, MBD1, MBD2, MBD4), welche diese Markierungen ablesen. Zur ersten Gruppe gehören Störungen der genetischen Prägung (Imprinting), wie das Prader-Willi-Syndrom oder das Angelmann-Syndrom und Erkrankungen mit instabilen Sequenzwiederholungen (Repeats), wie der Morbus Huntington und Heredo-Ataxien.
Zur zweiten Gruppe (Störung der Transkription) zählt das klassische RTT. Mehr als 200 verschiedene Mutationen sind im MeCP2-Gen beschrieben worden. Die 8 häufigsten Missense-Mutationen werden bei 70–75 % aller Patienten gefunden, 10–15 % weisen große Deletionen auf. Nach umfangreichen Genotyp-Phänotyp-Studien zeigen die häufigen Mutationen (R133C, R294X) einen milden Phänotyp, andere (R255X, R270X) einen schwereren Phänotyp. Ein milder Phänotyp ist in den seltenen Fällen einer extrem ungleichen X-Inaktivierung beschrieben worden.
Die meisten Mutationen beim RTT sind paternalen Ursprungs. Das bedeutet, sie entstehen während der Spermatogenese. Bereits vor Entdeckung des „Rett-Gens“ wurden Jungen mit dem Phänotyp eines RTT beobachtet. Bei Ihnen wurden die gleichen Mutationen wie bei weiblichen Patienten mit RTT nachgewiesen, der klinische Verlauf ist aber in aller Regel schwerwiegender. Die Diagnose von MeCP2-Mutationen bei Jungen, mit Erkrankungen ohne Ähnlichkeit zum RTT nimmt ständig zu. Erwähnenswert sind klinische Überlappungen mit dem Angelman-Syndrom. Das UBE3A-Gen (Angelman-Syndrom) wird von MeCP2 in der Entwicklung kontrolliert.
Pathologie und Pathophysiologie
Die neuropathologischen Befunde beim RTT sind zwar relativ konsistent, aber unspezifisch. Das Gehirn verstorbener Mädchen ist auf 66–86 % der Norm verkleinert, ohne dass es zu einem generellen Verlust von Neuronen gekommen ist. Die Zahl der Dendriten und ihre Komplexität sind reduziert. Die Volumenreduktion betrifft besonders das Frontalhirn und die Basalganglien ohne sichere Hinweise auf degenerative Prozesse oder einen progredienten Abbau. In der Substantia nigra fallen die Nervenzellen durch eine Hypopigmentation auf. Lediglich im Kleinhirn und Rückenmark sind Zeichen einer Atrophie, eine Gliose und spongiforme Veränderungen beschrieben worden. Die Neuropathologie des RTT spricht zusammen mit den klinischen Beobachtungen eher für eine Störung der Entwicklung als für eine aktive Degeneration des Nervensystems. Die in molekulargenetischen Untersuchungen nachgewiesenen Mutationen auch in der Glia, besonders den Astrozyten und der Mikroglia, finden in neuropathologischen Beschreibungen kaum Erwähnung. (Wie bei vielen anderen progredienten Enzephalopathie-Syndromen ist der Krankheitsprozess bei RTT nicht ausschließlich auf einen Zelltyp des Nervensystems beschränkt.) Für das Verständnis der Pathogenese und Pathophysiologie des RTT ist der Zeitpunkt und Ort entscheidend, an dem die MeCP2-gesteuerten Entwicklungsprozesse ablaufen. Neben den neuropathologischen Veränderungen wurden in neurophysiologischen Untersuchungen am Hirnstamm erhebliche Auffälligkeiten im primären Atemzentrum registriert, die mögliche Ursachen der beim RTT häufigen Störungen der Atmung (Apnoe, Hyperventilation) sind.
Klinische Symptome/Diagnose/Verlauf
Die letzte im Jahre 2010 publizierte Revision und Nomenklatur zum RTT durch das Rett-Research Consortium stellt explizit fest: „Da MeCP2-Mutationen weder notwendig noch ausreichen, um die Diagnose RTT zu stellen, bleibt das RTT eine klinische Diagnose.“ Es scheint deshalb sinnvoll, das RTT bei Mädchen als eine Form der MeCP2-Störungen zu klassifizieren.
Das RTT-Konsortium 2010 formulierte Haupt- und Ausschlusskriterien für das RTT. Dabei wird unterschieden zwischen dem typischen (klassischen) RTT und dem atypischen RTT, von denen weitere Untergruppen als Varianten zu trennen sind. Als wesentliche Änderung wird die postnatale Dezeleration des Schädelwachstums, beziehungsweise die Mikrozephalie nicht mehr als absolut notwendig gefordert.
Die Diagnose RTT sollte beim Nachweis einer postnatalen Dezeleration des Kopfwachstums (sowie bei jedem Mädchen mit unklarer postnataler Entwicklungsverzögerung) erwogen werden. Hierzu sind für das typische RTT Hauptkriterien und zusätzliche supportive Kriterien für das Rett-Syndrom formuliert worden.
Diagnostische Kriterien des Rett-Syndroms
  • Hauptkriterien:
    1.
    Teilweiser oder kompletter Verlust erworbener Handfunktionen
     
    2.
    Teilweiser oder vollständiger Verlust der erworbenen Sprachfähigkeit
     
    3.
    Gangstörungen: eingeschränkte (Dyspraxie) oder Gehunfähigkeit
     
    4.
    Stereotype Handbewegungen: knetend, ringend, reibend, waschend, beißend
     
  • Ausschlusskriterien:
    1.
    Hirnverletzungen oder Traumen (peri- und postnatal), neurometabolische Erkrankungen, schwere Infektionen mit ZNS-Beteiligung
     
    2.
    Deutliche Störung der psychomotorischen Entwicklung in den ersten 6 Lebensmonaten
     
  • Unterstützende Kriterien für das RTT Syndrom:
    1.
    Störung der Atmung im Wachzustand
     
    2.
    Bruxismus im Wachzustand
     
    3.
    Gestörter Schlafrhythmus
     
    4.
    Abnormer Muskeltonus
     
    5.
    Periphere vasomotorische Störungen
     
    6.
    Skoliose/Kyphose
     
    7.
    Wachstumsretardierung
     
    8.
    Kleine kalte Hände und Füße
     
Die betroffenen Mädchen werden nach unauffälliger Schwangerschaft und Geburt, sowie unauffälliger frühkindlicher Entwicklung in den ersten 7–9 Monaten auffällig durch eine Muskelhypotonie und eine langsamere motorische Entwicklung. Vielfach beschreiben die Eltern retrospektiv schon früher kleine Auffälligkeiten, wie z. B. hohes Schlafbedürfnis und ein „ruhiges“ Kind. Erwartete motorische Fähigkeiten entwickeln sich nicht, die Eltern sind leicht beunruhigt. In dieser Phase der Stagnation wird oft noch abgewartet und z. B. Physiotherapie eingeleitet. Es folgt dann der Verlust erworbener Funktionen, besonders im sinnvollen Gebrauch der Hände und der Sprache. In dieser dramatischen Phase wird diagnostisch gehandelt. Es kann zu einer Dezeleration des Kopfumfangwachstums und autistischen Verhaltensmustern kommen. Die charakteristischen waschenden, knetenden Handbewegungen sind zwar sehr typisch, aber nicht spezifisch für das RTT, oft zeigen sich auch andere Stereotypien, z. B. das Führen einer Hand in den Mund. Dysmorphiezeichen sind nur sehr selten vorhanden. 60–80 % der Patientinnen entwickeln epileptische Anfälle. In einer eigenen Studie bei 71 Mädchen mit klassischem RTT, erkrankten 44 Mädchen an einer Epilepsie. Das Alter beim 1. Anfall schwankt zwischen dem 1. und 26. Lebensjahr, im Median im 4. Lebensjahr. Unterschiedlich zu Patienten mit anderen mentalen Behinderungen zeigt sich die Entwicklungsstörung vor Auftreten des 1. Anfalles. Eine kausale Beziehung zu Fieberkrämpfen oder Impfungen besteht nicht. Unter den Anfallstypen überwiegen generalisierte, tonisch-klonische Anfälle, aber auch komplex-partielle Anfälle kommen vor. Eine Trennung von nicht-epileptischen Ereignissen kann schwierig sein, Hyperventilationsattacken und folgende Apnoen, sowie z. B. nächtliches Lachen haben mit epileptischen Anfällen nichts zu tun. Gegebenenfalls sind 24-h-EEG-Ableitungen mit Videometrie zur Klärung notwendig. Eine Ausnahme bilden Kinder mit BNS-ähnlichen Anfällen im 1. Lebensjahr. In diesen Fällen muss eine der in Tab. 1 genannten Varianten gedacht werden und eine Mutation im CDKL5- bzw. FOXG1-Gen ausgeschlossen werden. Diese Kinder können einen, dem Rett-Syndrom sehr ähnlichen Phänotyp haben.
Tab. 1
Varianten des Rett-Syndroms
Variante mit erhaltener Sprache
(Zapella-Variante)
Variante mit Anfällen im frühen Kindesalter
(Hanefeld-Variante)
Angeborenes Rett-Syndrom
(Rolando-Variante)
Klinische Merkmale
Regression im Alter von 1–3 Jahren, Verringerung der Handfertigkeiten, erhaltener Gebrauch der Hände;
Wiedererwerb der Sprache nach Regression mit ca. 5 Jahren, Worte oder Sätze;
leichte intellektuelle Einschränkung (IQ bis 50);
häufig autistische Wesenszüge;
Rett-Merkmale weniger ausgeprägt:
- normaler Kopfumfang
- meist normale Größe und Gewicht
- selten Epilepsie
- selten vegetative Störungen
- leichtere Skoliose und Kyphose
Frühes Einsetzen von Anfällen, oft vor 5 Lebensmonaten;
Anfallsbeginn vor der Regression;
Blitz-Nick-Salaam-Anfälle (BNS);
refraktäre myoklonische Epilepsie
Ab Geburt gestörte Entwicklung;
Gehfähigkeit wird nie erworben;
Mikrozephalie ab 4. Monat;
kein intensives Fixieren;
Rett-typische Störungen ausgeprägt:
- kleine, kalte Hände und Füße
- Atemstörungen im Wachzustand
- typische Bewegungsstereotypien der Zunge
Zuckungen der Extremitäten
Molekulargenetik
In der Mehrheit MECP2-Mutation nachweisbar
MECP2-Mutationen selten nachweisbar;
Analyse von CDKL5-Mutationen sollte durchgeführt werden;
evtl. MEF2C
 
Ein Teil der Patientinnen erlernt nie das freie Laufen. Typischerweise erlernen die Kinder nicht die Lautsprache (Ausnahme bei der Zappella-Variante können einige Wörter gesprochen werden). Es müssen daher andere Wege der Kommunikation entwickelt werden. Im Schulalter oder später kann sich eine ausgeprägte Skoliose entwickeln. Der Pubertätsbeginn ist nicht anders als bei anderen Mädchen, bei etwa 50 % der Mädchen setzt die Pubertät altersgerecht ein, bei 25 % früher und bei weiteren 25 % beginnt die Pubertät verspätet. Viele Mädchen mit RTT sind kleinwüchsig, bedingt durch den Einfluss von MeCP2 auf das IGFBP3 und zeigen eine Akromikrie, besonders der Füße. Nach der Stagnation und dann Regression kann ein über viele Jahre anhaltendes stationäres Stadium folgen, in dem auch Entwicklungsfortschritte in einzelnen Bereichen möglich sind. Das 4. Stadium im Adoleszentenalter ist gekennzeichnet durch sekundäre Probleme, z. B. rezidivierende pulmonale Infekte, Verlust der Gehfähigkeit durch eine massive Skoliose oder eine Osteoporose. Mit zunehmendem Alter können vermehrt extrapyramidale, besonders dystone Bewegungsstörungen auftreten, auch Parkinson-ähnliche Symptome sind möglich. Das periphere Nervensystem ebenso wie Visus und Gehör sind in aller Regel nicht betroffen.
In allen Stadien des RTT sind autonome Störungen möglich, eine hartnäckige Obstipation, ebenso Schreiattacken und Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus. Bei den jungen erwachsenen Frauen bestehen häufig Antriebsmangel und depressive Verstimmungen. Häufig besteht ein gastroösophagealer Reflux. Wegen Schluckstörungen mit erhöhter Aspirationsgefahr kann zur Sicherstellung einer ausreichenden kalorischen Ernährung die Anlage einer PEG-Sonde notwendig sein. Die Lebenserwartung ist beim RTT nicht regelhaft verkürzt. Selten gibt es aber leider den unerwarteten, plötzlichen Tod bei Mädchen mit Rett-Syndrom, ohne das eine kausale Ursache gefunden wird. Tarquinio et al. haben 2015 neue Zahlen vorgelegt, in der Auswertung der Daten von 1189 betroffenen Patientinnen ist das Erreichen der 5. Lebensdekade eher die Regel. In dieser Studie verstarben 3,9 % der Kinder vorzeitig. Bei den Mädchen mit klassischem Rett-Syndrom (924 Patientinnen) verstarben in einem Beobachtungszeitraum von 5 Jahren 4 im Rahmen der Epilepsie, 9 Kinder im Rahmen einer Infektion, 4 Mädchen im Rahmen von postoperativen Komplikationen, bei insgesamt 19 Kindern fand sich keine kausale Erklärung. Von 138 erwachsenen Patientinnen mit gesichertem RTT fanden wir in einer deutschlandweiten Erhebung 7, die das 40. Lebensjahr überschritten hatten, 5 waren gehfähig. Die Todesursachen decken sich mit der zitierten Studie: Es werden zerebrale Anfälle, kardiale Überleitungsstörungen (verlängerte QT-Zeit) und Störungen der Atemregulation im Schlaf diskutiert. Die meisten Todesfälle traten im Zusammenhang mit bronchopulmonalen Störungen, einschließlich Aspirationsereignissen auf.
Der Verlauf der Krankheit wird nach Hagberg in 4 Stadien unterteilt. Varianten mit frühem Anfallsbeginn („early seizure onset variant“) und erhaltener Sprache („preserved speech variant“) wurden beschrieben.
Zur Standardisierung von Verlaufsbeobachtungen hat sich die von Hagberg vorgeschlagene Stadieneinteilung bewährt (Abb. 1).
Klinische Stadien des Rett-Syndroms (nach Hagberg)
  • Stadium 1: frühe Stagnation zwischen 6 und 18 Monaten
  • Stadium 2: schnelle Regression der psychomotorischen Entwicklung mit Verlust erworbener Fähigkeiten (Dauer: Wochen bis Monate)
  • Stadium 3: pseudostationäre Periode (Dauer: Jahre)
  • Stadium 4: späte, oft sekundäre motorische Verschlechterung, z. B. Parkinson-ähnliche Symptome (Dauer: Dekaden)
Diagnose und Differenzialdiagnose
Die Diagnose des RTT basiert auf anamnestischen und den oben beschriebenen klinischen Kriterien. In mehr als 95 % der Fälle gelingt der Nachweis einer Mutation im MeCP2-Gen. Die MRT kann eine unspezifische frontale Atrophie und auch eine Kleinhirnatrophie zeigen. Das EEG zeigt früh in der Einschlafphase in der Desynchronisierung epilepsietypische Potenziale in Form von Spikes oder Sharp-waves. Biochemische Auffälligkeiten im Liquor und Blut sind inkonsistent und nicht diagnostisch.
Die Differenzialdiagnose zum RTT umfasst altersabhängig viele Erkrankungen, z. B. die neuronale Zeroidlipofuszinose, die tuberöse Sklerose, das West-Syndrom, das CDG-Syndrom, neurometabolische Krankheiten (z. B. Glutarazidurie Typ 1, OTC-Mangel), das fragile X-Syndrom, das Angelman-Syndrom und den infantilen Autismus.
Therapie
Eine kausale Behandlung ist für das RTT ist bislang nicht verfügbar. Da die zu erwartenden Probleme bekannt sind, ist ein präventiver Ansatz wichtig. Die mögliche Obstipation sollte behandelt werden, einer Skoliose sollte soweit möglich vorgebeugt werden, die auftretenden Epilepsie bei Beginn energisch behandelt werden. Physiotherapie, Ergo- und Musiktherapie werden ebenso wie eine Hippotherapie eingesetzt. Die Skoliose erfordert häufig eine chirurgische Intervention mit einer Spondylodese. Die Anlage einer PEG-Sonde sollte aus den oben genannten Gründen nicht verzögert werden. Sie gewährleistet auch eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr, die bei den häufig bestehenden Obstipationen sehr wichtig ist. Zur antikonvulsiven Behandlung haben sich Sultiam, Oxcarbazepin, Valproinsäure, Lamotrigin und auch andere Medikamente bewährt. Beim Einsatz von Levetiracetam ist zu beachten, dass es einen relativ hohen Anteil an Nebenwirkungen mit psychischen Auffälligkeiten gibt, die nicht immer von typischen Rett-Verhaltensauffälligkeiten zu unterscheiden sind. Die häufig auftretende Osteoporose sollte mit Vitamin D3 und Kalziumsubstitution behandelt werden. Sehr wesentlich ist es frühzeitig mit „unterstützter Kommunikation“ zu beginnen, um den Kindern die Möglichkeit zu einer besseren Teilhabe zu geben. In einem Mausmodell für das RTT ist es gelungen, durch Aktivierung der MeCP2-Expression die krankheitsspezifischen Syndrome zu bessern, beziehungsweise zu heilen. Daran knüpfen sich große Hoffnungen auf eine kausale Therapie für diese Krankheit. Neben der medizinischen und psychologischen Betreuung des individuellen Patienten, ist eine Hilfe für die Familien (besonders der Eltern und Geschwister) bei dieser häufigen und schweren, lebenslang bestehenden Behinderung von großer Bedeutung. In Deutschland haben sich die Eltern in der Elternhilfe für Kinder mit Rett-Syndrom in Deutschland e.V. organisiert, Geschäftsstelle 65510 Hünstetten, Telefon 06126–500306.
Weiterführende Literatur
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Halbach NSJ et al (2013) Aging in Rett syndrome: a longitudinal study. Clin Genet 84:223–229CrossRef
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