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Klinische Untersuchung in der pädiatrischen Endokrinologie

Verfasst von: Norbert Albers
Eine gute klinische Untersuchung ist auch in der pädiatrischen Endokrinologie die Basis für eine gute Diagnostik und Therapie. Vor extensiver oder gar unnötiger Labordiagnostik mit teuren molekulargenetischen Untersuchungen stehen auch heute noch eine umfassende allgemeine und spezifische Anamneseerhebung sowie eine komplette körperliche Untersuchung.

Vorbemerkungen

Eine gute klinische Untersuchung ist auch in der pädiatrischen Endokrinologie die Basis für eine gute Diagnostik und Therapie. Vor extensiver oder gar unnötiger Labordiagnostik mit teuren molekulargenetischen Untersuchungen stehen auch heute noch eine umfassende allgemeine und spezifische Anamneseerhebung sowie eine komplette körperliche Untersuchung.
Beispiel
Als Warnung vor einer zu oberflächlichen Untersuchung kann das Beispiel eines Patienten dienen, der alle Vorsorgeuntersuchungen ohne Auffälligkeiten bestanden hatte, wegen Kleinwuchses mit abknickendem Wachstum mehrfach in Kliniken stationär aufgenommen wurde und bei dem schließlich sogar eine Wachstumshormontestung vorgenommen wurde. Bei der ambulanten Vorstellung zur Mitbeurteilung im Alter von 5 Jahren fiel ein abgeschwächtes Atemgeräusch rechts mit hyposonorem Klopfschall auf, ein (in der pädiatrischen Endokrinologie selten angefordertes) Röntgenbild des Thorax zeigte eine Zwerchfellhernie. Nach der Korrekturoperation holte der Patient deutlich mit dem Wachstum auf.
Analoge Fälle mit unerkanntem kardialem Vitium und konsekutivem Kleinwuchs sind bekannt und unterstreichen die Wichtigkeit einer allgemeinen, unvoreingenommenen Untersuchung ohne Fokussierung auf endokrine Wachstumsstörungen.
Das folgende Kapitel wiederholt aus Platzgründen nicht die Propädeutik der allgemeinen klinischen Untersuchung. Stattdessen werden symptombezogen Aspekte der Anamnese und der Untersuchung hervorgehoben, die für pädiatrisch-endokrinologische Patienten besondere Bedeutung haben, ergänzt durch Hinweise auf spezifische Krankheitsbilder. Zur ausführlicheren Darstellung dieser Krankheitsbilder sei auf die jeweiligen Kapitel dieses Buches verwiesen.
Und noch ein Wort vorweg: das gelbe Vorsorgeheft ist ein sehr wichtiges Instrument zur Erfassung vieler Fakten und Wachstumsdaten, die für die Beurteilung endokrinologischer Patienten wichtig sind. Das gelbe Heft sollte daher zumindest bei der Erstvorstellung durchgesehen werden, die Wachstumsdaten inklusive Geburtsdaten (Geburtsmaße, Schwangerschaftswoche, Apgar-Werte) sollten in die eigene Dokumentation übernommen werden.

Effiziente Arbeit, Dokumentation und Qualitätsmanagement

Alle wichtigen Daten zu Anamnese, Untersuchung und Therapie müssen auch aus forensischen Gründen dokumentiert werden.
Eine gute Dokumentation ist zudem sehr wichtig für
  • die Übergabe von Patienten an nachfolgende Behandler,
  • die Eingabe relevanter Daten in qualitätssichernde Programme,
  • Anwendungsbeobachtungen und
  • wissenschaftliche Aufarbeitungen von Patientendaten.
Die Erfahrung mit vielen Dokumentationssystemen (die auch heute noch häufig aus handschriftlichen, schlecht leserlichen Eintragungen auf weißen Blättern bestehen) zeigt, dass ein spezielles Verlaufsblatt für die wichtigsten und in der Ambulanz häufigsten Krankheitsgruppen für eine bessere Übersicht und effizienteres Arbeiten sorgen kann. Ein systematischer Erhebungsbogen kann zudem in Weiterbildungszentren gute Dienste leisten, indem er jungen Kollegen als Leitschnur dient.
Schließlich kann aus derartigen Übersichten auch sehr einfach ein Arztbrief generiert werden, der alle wesentlichen Daten enthält. Eine individuelle Entscheidung bleibt, ob für diesen Einsatz ein Computersystem (Praxisinformationssystem, Krankenhausinformationssystem) verwandt wird, das für die Dokumentation geeignet und anpassbar ist.
Für die Diabetologie und die Adipositassprechstunde existieren mit den Programmen DPV und APV bereits sehr gute Systeme für die genannten Aufgaben.

Anamnese

Geburtsanamnese

Die Geburtsmaße geben Hinweise auf dystrophe Kinder, die intrauterin schon schlecht gewachsen sind (z. B. Syndrome wie das Ullrich-Turner-Syndrom oder das Silver-Russell-Syndrom).
Eine gängige Definition für Kinder, die bei Geburt zu klein sind (bezogen auf das Gestationsalter), lautet:
  • Geburtsgewicht <10. Perzentillinie = „small for gestational age“ = SGA
  • Geburtsgewicht <3. Perzentillinie = „very small for gestational age“ = VSGA
Weltweit wird das Gewicht zur Beurteilung herangezogen, weil die Messung zuverlässiger ist als die Längenmessung. Achtung: Im Gegensatz zum Grenzwert 3. Perzentillinie bei der Definition des Kleinwuchses gilt für SGA-Kinder schon die 10. Gewichtsperzentillinie als Grenzwert.
Die Erkennung von SGA- oder VSGA-Kindern ist wichtig, weil SGA-Kinder ein erhöhtes Risiko (20–30 %) für die Entwicklung/Persistenz eines Kleinwuchses haben, auch wenn die meisten bis zum 2. (spätestens 6.) Geburtstag das Wachstumsdefizit aufholen. Zudem wird die SGA-Definition als ein Kriterium für die zugelassene Behandlung von schlecht wachsenden SGA-Kindern mit Wachstumshormon herangezogen (Kap. „Störungen des Wachstums“).
Ein niedriger Kopfumfang kann (soweit keine familiäre Mikrozephalie vorliegt) auf ein Syndrom hindeuten. Darum müssen zumindest bei mikro- und makrozephalen Kindern auch die Kopfumfänge der Eltern gemessen werden.
Es sollten prinzipiell alle Geburtsprobleme bei der Erstvorstellung erfragt werden. Niedrige Apgar-Werte und Hypoglykämien weisen auf peripartale Probleme hin und werden gehäuft bei Kindern mit Wachstumshormonmangel beobachtet.

Allgemeine Anamnese

Schwere und chronische Vorerkrankungen oder deren Symptome können teilweise schon durch die Anamnese erkannt werden, weil sie vielfältig auf das Wachstum und die Pubertätsentwicklung einwirken können. Einige allgemeine Fragekomplexe:
1.
Ernährung („Spezialdiäten“ können zu Jodmangel, Hypovitaminosen u. a. führen)
 
2.
Stuhlfrequenz und -konsistenz (chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Zöliakie)
 
3.
Körperliche Belastbarkeit (Herzfehler, Morbus Addison u. v. a.)
 
4.
Medikamenteneinnahme (systemische Kortikosteroide bremsen Wachstum; Antiepileptika als Hinweis auf zentralnervöse endokrine Störungen)
 
5.
Verhalten in Kindergarten und Schule (mentale Retardierung/geringe Leistungsfähigkeit bei Syndromen oder unerkannter Hypothyreose)
 
6.
Riechvermögen: Nur nach Duftstoffen fragen, die wenig geschmacksabhängig sind, wie z. B. Kaffee oder Seife (Hinweis auf Kallmann-Syndrom)
 
Nicht selten werden wichtige Daten zunächst nicht angegeben, weil die Eltern sie für unwichtig oder endokrinologisch irrelevant halten oder weil nicht explizit danach gefragt wurde. Fragen sollten daher offen formuliert werden und relevante Aspekte detailliert erfassen.
Beispiel: Selbst erlebte Fallstricke bei der Anamneseerhebung
  • Angabe einer „normalen Ernährung“
    Der Patient erhielt seit Jahren eine extrem einseitige Diät, um eine atopische Dermatitis zu behandeln. Die Diät führte zum Jodmangel und zum Kleinwuchs. Die Ernährung wurde von den Eltern als „normal“ bezeichnet, weil sie aus Sicht der Familie tatsächlich als normal empfunden wurde.
  • Angabe eines „normalen Stuhlgangs“
    Wöchentlicher Stuhlgang kann aus Gewohnheit durchaus als normal empfunden werden. Zudem wissen die Eltern oft keine Details zum Stuhlgang ihrer Kinder. Für viele Kinder ist die Frage nach dem Stuhlgang peinlich, sie wird daher zügig mit „normal“ beantwortet.
  • Angabe einer „normalen Trinkmenge“
    Trinkmengen von 4–6 l können als „normal“ angegeben werden, weil sich die hohe Trinkmenge langsam entwickelt hatte und in der Familie nicht ungewöhnlich ist (z. B. bei familiärem Diabetes insipidus).

Familienanamnese

In der Endokrinologie und Diabetologie sind monogenetische Erkrankungen mit dominanter oder rezessiver Vererbung nicht in der Mehrzahl. Sehr viele Störungen und Normvarianten treten jedoch in Familien gehäuft auf und haben zumindest partiell einen genetischen Hintergrund (Beispiele: Autoimmunthyreopathie, familiärer Kleinwuchs, Diabetes mellitus, Verzögerung von Wachstum und Pubertät). Deshalb sollten „Familienerkrankungen“ und Verwandtschaftsverhältnisse erfragt werden. Sehr wichtig für die Wachstumsdiagnostik sind die Auxologie der Eltern sowie deren somatische Entwicklung.
Für die Praxis ergeben sich folgende wichtige Fragekomplexe, die je nach präsentierendem Symptom angepasst und ergänzt werden sollten:
Wichtige Fragenkomplexe zur Erhebung der Familienanamnese
1.
Konsanguinität der Eltern
 
2.
Auxologie der Eltern, zumindest Körperhöhe
Bei adipösen Patienten auch Gewichte der Eltern erfragen
Bei anwesenden Eltern: Körperhöhe messen! Mittlerer Fehler bei anamnestischen Angaben 2–3 cm
Daumenregel: Je kleiner der Mann, desto mehr wurde die Länge „aufgerundet“
 
3.
Menarchealter der Mutter, evtl. der weiblichen Geschwister und Verwandten
 
4.
Pubertätsentwicklung des Vaters
Die meisten Männer erinnern sich nicht an ihre Pubertätsentwicklung. Hilfsfragen: „Sind Sie in der Lehre/bei der Bundeswehr noch gewachsen?“, „Waren Sie in der Schule eher klein und haben Sie erst später aufgeholt?“)
 
5.
Weitere Familienangehörige mit Früh- oder Spätentwicklung, z. B. Menarchealter der Schwestern oder Tanten. Erhebliche Spätentwickler sind in den Familien oft als solche bekannt
 
6.
Auxologie von Großeltern, Geschwistern, evtl. von weiteren Verwandten
 
7.
Thrombosen (Hinweis auf Homozystinurie, Abschätzung des Thromboserisikos vor Hochwuchstherapie)
 
8.
Endokrine Störungen in der Familie: z. B. Schilddrüsenstörungen, Diabetes mellitus Typ 1 oder Typ 2
 
9.
Weitere Erkrankungen in der Familie (Bindegewebsstörungen, Zöliakie, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen …)
 
10.
Mindestens eine offene Frage zu weiteren medizinischen, psychischen und sozialen Problemen stellen, um auch ungewöhnliche oder unerwartete Störungen zu erfassen
 

Untersuchung

Allgemeine körperliche Untersuchung

Die allgemeine körperliche Untersuchung muss alle (!) wichtigen Organsysteme umfassen. Eine Beschränkung auf „relevante“ Organe kann zum Übersehen wichtiger Befunde führen. Das alleinige Abtasten der Schilddrüse bei Verdacht auf Hypothyreose ist genauso unzureichend (und kann zum Übersehen assoziierter Störungen wie Myxödem, Vitiligo oder Zöliakie mit Obstipation führen) wie das Übersehen dysplastischer Stigmata bei Syndromen mit Hoch- oder Kleinwuchs. Auch bei Patienten mit Diabetes mellitus sollte zumindest anlässlich der Jahresuntersuchung eine allgemeine Untersuchung stattfinden, die über das Abtasten der Einstichstellen hinausgeht.
Die Intimsphäre sollte bei der Untersuchung alters- und situationsgemäß gewahrt werden. Bei Adoleszenten sollte gefragt werden, ob die Eltern bei der Untersuchung anwesend sein dürfen. Sollten keine Begleitpersonen/Eltern bei der Untersuchung anwesend sein, sollte eine zweite Person des Ambulanzteams anwesend sein.
Eine orientierende neurologische Untersuchung muss auch die grobe Abschätzung der mentalen Entwicklung beinhalten. Bei Verdacht auf mentale Retardierung ist eine genaue Zuordnung nötig. Eventuell muss eine ergänzende neuropädiatrische Evaluation erfolgen.
Die Blutdruckmessung gehört ebenso zur Basisdiagnostik.
Beispiel: Vorstellung eines Kindes mit Kleinwuchs
Der Patient war schon extensiv und mehrfach wegen eines Kleinwuchses untersucht worden, inklusive Wachstumshormonstimulationstests mit normalem Ergebnis. Der Patient fiel in der Ambulanz mit einem Blutdruckwert von 170/110 mmHg auf. Die Ursache des Kleinwuchses war eine bis dato unerkannte Niereninsuffizienz. Ein Kreatininwert war nie bestimmt worden.
Besonders Wachstumsstörungen beruhen nicht selten auf Syndromen, die es zu erkennen gilt. Darum sollte
  • der Mundraum inspiziert werden (hoher Gaumen? Zahnstatus?),
  • die Facies auf typische Veränderungen abgesucht werden und
  • die Ohren auf Fehlbildungen und Fehlstellungen hin beurteilt werden.
Der geübte Untersucher erkennt bei der Inspektion der Extremitäten wichtige Veränderungen wie einen Cubitus valgus, Nageldysplasien, verkürzte Metakarpalia und weitere Dysproportionen. Auffällige körperliche Befunde sollten dokumentiert werden. Sollte eine unmittelbare Zuordnung zu einem Syndrom nicht gelingen, kann später nach Symptomkombination (z. B. in OMIM = „Online Mendelian Inheritance in Man“ unter https://www.ncbi.nlm.nih.gov/omim. Zugegriffen am 16.08.2017) gesucht werden. In Zweifelsfällen sollte man eine Zweitmeinung bei einem erfahrenen Kollegen oder bei einem klinischen Humangenetiker einholen.

Auxologie

Körperhöhe/Körperlänge

Stehfähige Kinder sollten spätestens mit 2 Jahren im Stehen an einem geeichten Stadiometer gemessen werden (Ermittlung der Körperhöhe). Junge oder nicht gehfähige Kinder und Jugendliche müssen im Liegen gemessen werden (Körperlänge), die Art der Messung sollte dokumentiert werden.
Obwohl die Körpermessung einfach erscheint, können viele Fehler gemacht werden. Die Messungen sollten daher nur von geschultem Personal durchgeführt werden. Selbstverständlich kann die Messung an eine Arzthelferin oder eine Kinderkrankenschwester delegiert werden, man sollte aber vorher eine Einweisung vornehmen. Allerdings sollte man die Technik der Messung immer wieder kontrollieren und auch selbst Messungen durchführen. Korrekte Körperhöhenmessungen im Sinne der folgenden Punkte werden i. Allg. in den genannten Ausbildungsgängen nicht gelehrt.
Korrektes Vorgehen bei der Körperhöhenmessung
1.
Messung am geeichten Stadiometer. Das Stadiometer sollte eine durchgehende Rückwand haben, damit die Patienten sich in jeder Höhe anlehnen.
 
2.
Die Messung auf einem Kombigerät aus Waage und Längenmesser ist unzulässig, da kein gerader Stand möglich ist und sich die Standfläche vom Gewicht abhängig verändert.
 
3.
Die Messung sollte idealerweise stets zur gleichen Tageszeit erfolgen, abends sind Körperhöhen durch die Kompression der Bandscheiben niedriger.
 
4.
Der Patient sollte keine Schuhe tragen, allenfalls dünne Socken sind erlaubt. Bei kleineren Kindern, deren Kooperation durch einen kalten Untergrund gemindert werden kann, sollte evtl. ein dünnes Tuch unter die Füße gelegt werden.
 
5.
Haarspangen müssen entfernt werden. Die Haare werden bei der Messung leicht komprimiert.
 
6.
Fersen, Beine, Po, Wirbelsäule und Kopf sollten an der Hinterwand des Stadiometers anliegen.
 
7.
Die medialen Malleolen müssen sich berühren. Bei Genua valga sollten sich die Knieinnenflächen berühren, die Malleolen müssen sich in diesem Fall nicht berühren.
 
8.
Der Kopf sollte so ausgerichtet werden, dass der Augenaußenwinkel und der obere Insertionsrand der Ohrmuschel parallel zum Fußboden liegen (sog. „Frankfurter Linie“). Bei Ohrdysplasien/Fehlstellungen des Ohrs gilt dies nicht.
 
9.
Der Kopf sollte vom Untersucher in der gewünschten Position unter leichter Traktion gehalten werden. Bei schlechter Kooperation sollte die Messung durch zwei Personen erfolgen.
 
Die Abb. 1 zeigt gleich mehrere Fehler bei der Körperhöhenmessung: das Stadiometer (Typ Harpenden) verfügt unterhalb von 50 cm Höhe über keine Rückwand. Kleine Kinder strecken hier den Po in Beckenlordose hinaus und mindern damit ihre Körperhöhe. Weiterhin berühren sich die medialen Knöchel nicht und die Fersen liegen dem unteren Begrenzungswinkel nicht an. Die resultierende Messung kann um mehrere Zentimeter verfälscht sein.
Eine korrekte Höhenmessung zeigt Abb. 2. Die korrekte Lage der Füße und Beine sollte allerdings besser ohne lange Hose beurteilt werden.

Perzentilkurven

Aus den gemessenen und anamnestischen Daten (gelbes Vorsorgeheft!) sollte eine möglichst vollständige Perzentilkurve erstellt werden. Die Perzentilkurve muss nicht nur dem Geschlecht entsprechen, sondern auch der ethnischen Zugehörigkeit. Türkische, britische, amerikanische, koreanische und viele andere Perzentilkurven sind verfügbar und sollten adäquat eingesetzt werden (Kap. „Störungen des Wachstums“). Für eine Reihe von häufigeren Erkrankungen gibt es ebenfalls spezielle Perzentilkurven (Ullrich-Turner-Syndrom, Trisomie 21, Achondroplasie, Marfan-Syndrom u. a.; Kap. „Störungen des Wachstums“), die unbedingt genutzt werden sollten. Nur so lässt sich erkennen, ob sich der Patient parallel zu diesen Perzentilen entwickelt oder einen Wachstumsknick zeigt. Letzteres könnte auf eine zusätzliche Erkrankung hinweisen (z. B. die nicht seltene Hypothyreose oder Zöliakie bei Trisomie 21).
Die Berechnung der genetischen Zielgröße (mittlere Elternhöhe ±6,5 cm) ist für die Routineberatung entbehrlich. Sie ergibt nur einen Mittelwert mit einer schlecht definierten Standardabweichung und berücksichtigt nicht die größere Variabilität des Wachstumsverlaufs (und der Endhöhe) von Kindern, wenn Eltern auf sehr differierenden Perzentillinien liegen. Von Patienten und Eltern wird bei der Zielgrößenberechnung oft nur der Mittelwert im Gedächtnis behalten und nicht selten fälschlich als „Wachstumsprognose“ gewertet.
Für die Beratung viel hilfreicher ist eine grafische Darstellung mit Einzeichnen der Elternhöhen auf der Perzentilkurve, um den familiären erwarteten Wachstumskanal unmittelbar demonstrieren zu können.
Durchführung einer grafischen Darstellung mit Einzeichnen der Elternhöhen auf der Perzentilkurve:
1.
Bei weiblichen Patienten kann die Höhe der Mutter direkt auf der Perzentilkurve im Erwachsenenbereich markiert werden. Von der Höhe des Vaters müssen 13 cm abgezogen werden, dann kann die korrigierte Höhe des Vaters ebenfalls eingezeichnet werden (Beispiel: Abb. 3).
 
2.
Bei männlichen Patienten kann die Höhe des Vaters direkt eingezeichnet werden, während die Höhe der Mutter erst nach einer Korrektur von +13 cm markiert werden kann.
 
3.
Sind beide Elternhöhen eingezeichnet, kann ihre jeweilige Perzentillinie als Grenze des sog. elterlichen Perzentilenbereichs genommen und der Zielperzentilenbereich farbig markiert werden (hellblauer Bereich in Abb. 3). Bei papierbasierten Akten kann dies mit einem Textmarker auf der Wachstumskurve eingezeichnet werden. Für elektronische Systeme ist dieses Problem noch nicht gelöst. Der Zielperzentilenbereich (= „Wachstumskanal“) ist auch für Laien gut erkenn- und verstehbar. Das Wachstum des Kindes kann damit gut in Relation zu den elterlichen Größen dargestellt und diskutiert werden. Dies ist besonders wichtig, wenn die Eltern weit über oder unter den Perzentilen liegen. In diesem Fall ist der Vergleich des Patienten mit den „normalen“ Perzentilen wenig aussagekräftig. Insbesondere bei familiärem Kleinwuchs wird den Eltern damit leichter klar, dass ihr Kind zwar im Vergleich zu seinen Alterskameraden klein ist, jedoch ein für die Familie normales und erwartetes Wachstum zeigt. Tatsächlich gibt es natürlich Abweichungen von diesem idealisierten Kanal nach oben und unten, sodass er in der Praxis auch um den Bereich einer Perzentillinie nach oben und unten verbreitert werden kann.
 
4.
Als Nebenprodukt entsteht übrigens auf diese Weise grafisch die o. g. genetische Zielgröße als Mittelwert zwischen den elterlichen Perzentilmarken (hier nicht eingezeichnet). Eine arithmetische Berechnung kann entfallen.
 
5.
Die Perzentilkurven für das Wachstum von Jungen zeigt Abb. 4. Hier kann die Körperhöhe des Vaters direkt eingezeichnet werden, die Höhe der Mutter wird mit +13 cm korrigiert. Hier liegen beide Eltern auf bzw. unterhalb der 3. Perzentillinie (familiärer Kleinwuchs, Kap. „Endokrine Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit Adipositas“).
 
Auch das Skelettalter und die aktuelle Wachstumsprognose können auf der Wachstumskurve eingezeichnet werden und geben wichtige Hinweise zur Beurteilung des Wachstumsverlaufs. Zunehmende Akzelerationen des Skelettalters (z. B. bei inadäquater Behandlung von Patienten mit adrenogenitalem Syndrom) können auf einen Blick erkannt werden und müssen nicht aus den Aufzeichnungen zusammengesucht werden. In Abb. 4 ist das Skelettalter des Patienten, das bei einem chronologischen Alter von 9 Jahren ermittelt wurde, als schwarzes Quadrat eingezeichnet worden. Sowohl das Skelettalter als auch das chronologische Alter werden auf Höhe der aktuellen Körperhöhe eingetragen (hier 122 cm) und mit einer gestrichelten Linie verbunden, weil beide Datenpunkte zur gleichen Visite gehören.
Aus den aktuellen Wachstumsdaten und dem Skelettalter kann die Wachstumsprognose errechnet werden. Die Wachstumsprognose wurde in Abb. 4 mit einem Dreieck eingezeichnet (verbunden mit der aktuellen Körperhöhe durch eine gestrichelte Linie) und macht deutlich, ob die Prognose auf der Höhe des elterlichen Zielperzentilenbereichs liegt. Das Einzeichnen der Prognose zu wiederholten Zeitpunkten kann besonders dann hilfreich sein, wenn man die Veränderung der Prognose über die Zeit verfolgen möchte, z. B. während einer Wachstumshormontherapie oder der Therapie einer Pubertas praecox. Allerdings sind die „Prognosen“ hier nicht sehr valide und dienen vor allem dem Behandler zur Abschätzung des Erfolgs der Behandlung.

Wachstumsgeschwindigkeit

Der Wachstumsverlauf ist der wichtigste Parameter zur Wachstumsbeurteilung und ist, im Gegensatz zu vielen Laborwerten, unverzichtbar.
Eine gute auxologische Beurteilung macht nicht selten eine Blutuntersuchung überflüssig. Das gelbe Vorsorgeheft ist die wichtigste Quelle von Wachstumsdaten. Vergessene gelbe Vorsorgehefte sollten von den Eltern nachgereicht werden. Ergänzend können Arztbriefe aus Kliniken oder Daten des niedergelassenen Kinder- und Jugendarztes angefordert werden.
Das Wachstum sollte nach dem 2. Lebensjahr perzentilenparallel erfolgen. In den ersten zwei Jahren „suchen“ einige Kinder noch ihre Perzentillinie und kreuzen eventuell mehrere Kurven. Die Unterscheidung zum pathologischen Wachstum ist nicht einfach und erfordert eine Gesamtbeurteilung des Kindes inklusive Analyse des Gewichtsverlaufs sowie der Familie.
Falls das Wachstum nicht parallel zu einer Perzentillinie verläuft, „knickt“ es nach oben oder unten ab. Objektiv liegt dann eine pathologische Wachstumsgeschwindigkeit („height velocity“, HV) vor. Für die Wachstumsgeschwindigkeit gibt es eigene Perzentilkurven. Zwei Beispiele finden sich in den Abb. 5 (Mädchen) und Abb. 6 (Jungen).
Das Eintragen der Wachstumsgeschwindigkeit in die Kurven erfordert etwas mehr Aufwand als das Erstellen einer Perzentilkurve für das Wachstum. Für definierte Zeitintervalle kann die durchschnittliche Wachstumsgeschwindigkeit folgendermaßen berechnet werden:
Beispiel
Wachstumsgeschwindigkeit zwischen Zeitpunkt A und B [cm/Jahr] = (Körperhöhe zum Zeitpunkt B – Körperhöhe zum Zeitpunkt A) : Zeitdauer zwischen A und B in Jahren
Beispiel: Ein Mädchen ist mit 2 3/12 Jahren 88,0 cm groß. Mit 3 4/12 Jahren ist es 97,4 cm groß. Der zu überblickende Zeitraum beträgt also 14 Monate = 1,17 Jahre. Daraus berechnet sich:
Wachstumsgeschwindigkeit = (97,4 cm – 88,0 cm) : 1,17 Jahre = 8,0 cm/Jahr
Das Ergebnis dieser Berechnung wird als horizontale Linie in der Perzentilkurve eingezeichnet. Die Linie hat ihren Startpunkt bei Alter A (2 3/12 Jahre), den Endpunkt bei Alter B (3 4/12 Jahre) und liegt auf der Höhe der errechneten Wachstumsgeschwindigkeit. Das Ergebnis des obigen Beispiels findet sich in Abb. 5 als erster blauer Balken links eingezeichnet.
Das Intervall zwischen den Zeitpunkten, zwischen denen die Wachstumsgeschwindigkeit berechnet werden soll, sollte mindestens 6 Monate betragen, weil das Wachstum saisonal schwankt und kleine Messfehler bei kleinen Intervallen zu größeren Fehlern in der Berechnung der Wachstumsgeschwindigkeit führen. Jahresabstände sind ideal. Vorsicht bei der Übernahme von Wachstumsdaten aus anderen Praxen oder Kliniken. Nicht immer werden geeichte Geräte genutzt, sodass Schwankungen der Wachstumskurve auch rein technische Gründe haben können.
Die Wachstumsgeschwindigkeit ist ein sehr sensibler Parameter (der übrigens mathematisch gesehen der ersten Ableitung der Wachstumsperzentillinie, also der Steigung der Perzentilkurve entspricht). Ein Kind, das über einen längeren Zeitraum eine Wachstumsgeschwindigkeit im Bereich zwischen der 3. und 10. Perzentillinie hat, wird sich mit der Körperhöhe in dieser Zeit kontinuierlich nach unten bewegen, also einen „Wachstumsknick“ aufweisen.
Nur eine langfristige Wachstumsgeschwindigkeit zwischen der 25. und dem 75. Perzentillinie sichert ein Wachstum parallel zu den normalen Perzentilen!
Auch Kinder mit familiärem Kleinwuchs, die auf der 3. Perzentillinie der Wachstumskurve wachsen, haben eine Wachstumsgeschwindigkeit, die im Mittel nicht unter der 25. Perzentillinie fällt. Aus diesem Grund ist der Bereich zwischen der 25. und 75. Perzentillinie in Abb. 5 und 6 grau hinterlegt. Dieser Bereich ist der eigentliche „Normbereich“ für die Wachstumsgeschwindigkeit.
Entsprechend zeigt das schon im obigen Beispiel erwähnte Mädchen in Abb. 5 eine normale Wachstumsgeschwindigkeit zwischen dem Alter von 2 3/12 Jahren und 7 6/12 Jahren, während die Wachstumsgeschwindigkeit des Jungen in Abb. 6, obwohl sie nie unter der 3. Perzentillinie liegt, deutlich pathologisch ist und eine diagnostische Klärung erfordert.
Das Mädchen in Abb. 3 zeigt bei flüchtigem Hinsehen keinen Kleinwuchs (sie liegt mit ihrer Körperhöhe immer oberhalb der 3. Perzentillinie). Ungeübte würden das Wachstum möglicherweise als ausreichend beurteilen. Nach dem Alter von 7 6/12 Jahren knickt das Wachstum allerdings deutlich ab, die Wachstumsgeschwindigkeit ist ab diesem Alter hochpathologisch (ca. 2,2 cm/Jahr, deutlich unterhalb der 3. Perzentillinie!) und zeigt als sensibler Parameter an, dass dieses Mädchen eine erhebliche (erworbene) Wachstumsstörung hat, die es zwingend zu klären gilt.

Proportionen

Zu jeder Wachstumsbeurteilung gehört die Suche nach einem dysproportioniertem Wachstum.
Bekanntestes Beispiel für ein disproportioniertes Wachstum ist die Achondroplasie, die allerdings als Blickdiagnose keine weiteren Messungen zur Diagnosesicherung erfordert. Es gibt aber zahlreiche Skeletterkrankungen mit kurzen Extremitäten und disproportioniertem Wachstum, die nur bei genauer Untersuchung zu erkennen sind. Beispiele sind die Hypochondroplasie oder metaphysäre Skelettdysplasien. Auch beim Marfan-Syndrom findet sich eine Disproportion mit langen Extremitäten.
Als Basisuntersuchung sollte die Armspanne gemessen werden, die vor dem Alter von 10 Jahren etwas niedriger als die Körperhöhe ist, danach ist die Armspanne größer als die Körperhöhe. Abweichungen von +/– 4 cm sind dann als normal zu werten. Beim Marfan-Syndrom gilt die Ratio aus Armspanne/Körperhöhe >1,05 als Kriterium i. S. der Ghent-Nosologie.
Zur Erfassung einer Disproportion zwischen Wirbelsäule und Beinen kann die Sitzhöhe gemessen werden. Dazu wird der Patient auf einen genormten Stuhl vor das Stadiometer gesetzt (Höhe 60 cm) und die Sitzhöhe gemessen.
Eine simple Alternative besteht in der Bestimmung der Ratio aus Ober- zu Unterlänge. Dazu wird der Patient am Stadiometer positioniert, die Oberkante der Symphyse wird ertastet und von diesem Punkt aus bis zum Fußboden mit einem Maßband gemessen. Ab einem Alter von ca. 6 Jahren liegt die Ratio aus Ober- zu Unterlänge bei 1,1, ab 10 Lebensjahren bei 1,0. Afroamerikaner liegen ca. 0,1 unter diesen Werten, haben also etwas längere Beine bzw. einen kürzeren Oberkörper im Verhältnis zu Weißen. Deutliche Abweichungen müssen durch weitere Messungen (Sitzhöhe, ggf. getrennte Messungen von Ober- und Unterschenkel, auch auf Röntgenaufnahmen) objektiviert werden (Hall et al. 1989).

Gewicht und BMI

Die Gewichtsmessung muss auf einer geeichten Waage erfolgen. Übliche Personenwaagen, wie sie in Haushalten verwendet werden, sind wegen der fehlenden Eichbarkeit nicht zugelassen.
Das Gewicht sollte ebenfalls auf einer Perzentilkurve eingezeichnet werden, praktischerweise auf dem gleichen Blatt wie das Längenwachstum (Abb. 3 und 4). Die gleichzeitige Beurteilung von Länge und Gewicht gibt Hinweise auf die Genese von Wachstums- oder Gedeihstörungen. So führen Darmerkrankungen meist zuerst zu einer mangelnden Gewichtszunahme und erst später zu einer Kompromittierung des Längenwachstums, während primäre Wachstumsstörungen wie ein Wachstumshormonmangel meist zu einem zeitgleichen Abfall von Länge und Gewicht führen.
Die Berechnung des Body-Mass-Index (BMI) als grobes Maß für die Fettmasse des Körpers und die Quantifizierung des relativen Gewichts ist eine wichtige Ergänzung insbesondere bei schweren oder leichten Patienten.
$$ BMI=\frac{K\ddot{\mathrm{o}} rpergewicht\ \left[ kg\right]}{K\ddot{\mathrm{o}} rperh\ddot{\mathrm{o}} he\ {\left[m\right]}^2} $$
Derzeit sind die BMI-Perzentile von Kromeyer-Hauschild et al. (2001) die für deutsche Kinder aktuellsten und am häufigsten verwendeten Kurven. Sie erlauben die Erkennung von übergewichtigen (>90. Perzentillinie) und adipösen Kindern (>97. Perzentillinie; Kap. „Störungen des Wachstums“). Wichtig ist auch die Erkennung untergewichtiger Patienten, um Anorexien oder konsumierende Erkrankungen nicht zu übersehen.
Die Hautfaltendicke kann über dem Trizeps und subskapulär mit einem Hautfaltenmessgerät gemessen werden. Bei einem konstanten Druck von 10 g/mm2 kann die Hautfaltendicke abgelesen und auf geschlechtsspezifischen Perzentillinien eingetragen werden (Hall et al. 1989).
Adipositas und Übergewicht kommen bei Hypothyreose und Cushing-Syndrom gemeinsam mit einer verminderten Wachstumsgeschwindigkeit vor, sind allerdings häufiger Ausdruck einer nichtendokrinen Gewichtsproblematik (dann meist vergesellschaftet mit normalem Wachstum oder sogar übermäßigem Wachstum im Sinne eines Adiposogigantismus).
Bei Patienten mit Diabetes mellitus ist die Überwachung des Gewichts unter anderem wichtig, um eine Kohlenhydratmast zu erkennen. Am anderen Ende der Skala ist nicht ganz selten eine bewusste Unterinsulinierung mit konsekutiver Gewichtsabnahme bei Adoleszenten anzutreffen.

Körperoberfläche

Die Körperoberfläche ist eine wichtige Bezugsgröße bei vielen Medikamentendosierungen in der Pädiatrie (z. B. Dosierungen von Hydrokortison bei adrenogenitalem Syndrom, Flüssigkeitstherapie bei Diabetesentgleisung). Nomogramme zur Ablesung der Körperoberfläche finden sich in vielen pädiatrischen Lehrbüchern. Einfacher ist im klinischen Alltag die Berechnung mithilfe folgender Formel, die sich auf den meisten Taschenrechnern und mit Smartphones bewältigen lässt:
$$ {\displaystyle \begin{array}{ll} & K\ddot{\mathrm{o}} rperoberfl\ddot{\mathrm{a}} che\left[{m}^2\right]\\ {} & =\sqrt{\frac{K\ddot{\mathrm{o}} rperh\ddot{\mathrm{o}} he\left[ cm\right]\times K\ddot{\mathrm{o}} rpergewicht\left[ kg\right]}{3600}}\end{array}} $$

Kopfumfang

Der Kopfumfang kann mit einem Maßband gemessen werden. Der größtmögliche Umfang kann ermittelt werden durch Anlegen des Maßbandes im oberen Stirnbereich und Verschieben des Maßbandes am Hinterkopf, bis ein maximaler Umfang erreicht wurde. Der ermittelte Wert sollte auf geschlechtsspezifischen Perzentilkurven eingezeichnet werden.
Der absolute Umfang ist dabei ebenso zu beachten wie die Entwicklung über die Zeit.
Zunehmend kleinere Kopfumfänge finden sich bei retardierten Patienten und Syndromen, zunehmende Kopfumfänge bei Säuglingen und Kleinkindern mit Hydrozephalus und Hirndruck.
Zur Beurteilung des Kopfumfangs sollten zumindest bei mikro- oder makrozephalen Kindern auch die gemessenen Kopfumfänge der Eltern herangezogen werden. Familiäre Formen von harmlosem Mikro- und Makrozephalus sind nicht selten.

Pubertätszeichen, Behaarung

Die Pubertätsentwicklung ist eng verbunden mit dem Wohlergehen des Kindes, sodass unerwartete Pubertätsentwicklungen stets Anlass zu weiterer Diagnostik geben sollten. Aus diesem Grund gehört die Untersuchung und Dokumentation der Pubertätsstadien nicht nur zu jeder pädiatrisch-endokrinologischen Untersuchung, sondern sollte selbstverständlich auch bei Patienten mit Diabetes und letztlich bei allen Kindern und Jugendlichen vorgenommen werden, die sich mit nichtbanalen Erkrankungen bei einem Pädiater vorstellen.
Eine Zusammenfassung der wichtigsten Pubertätszeichen mit ihrer Klassifizierung nach Tanner findet sich in Abb. 7. Abweichungen von der normalen Entwicklung (Hypospadien, Formen der Intersexualität, „disorders of sex differentiation“) werden im Kap. „Störungen der Geschlechtsreife“ dargestellt. Diese Abweichungen erfordern Erfahrung in der Untersuchung, eine sehr genaue Inspektion des Genitales und eine präzise Dokumentation. Im Folgenden werden nur die physiologischen Stadien der Genitalentwicklung dargestellt.
Pubertätsstadien bei Jungen
1.
Die Hodenvergrößerung ist das erste klinische Zeichen der Pubertätsentwicklung. Die Hodengröße muss palpiert werden, das Hodenvolumen wird durch Vergleich mit einem Orchidometer bestimmt. Volumina ab 4 ml gelten als pubertär. Ist kein Orchidometer vorhanden, sollte mindestens die Hodenlänge im längsten Durchmesser gemessen werden. Ab 2,5 cm Hodenlänge gilt die Entwicklung als pubertär.
 
2.
Die Pubesbehaarung wird nach Tanner klassifiziert. Dabei ist zu beachten, dass Vellushaare nicht als Pubesbehaarung verkannt werden. Vellushaare bestehen von Geburt an, sind weich, liegen der Haut nahe an und kräuseln sich nicht. Besonders bei dunkelhaarigen Kindern sind sie bei genauer Inspektion zu erkennen und geben gelegentlich Anlass zur Vorstellung wegen vermeintlicher Pubertas praecox.
Echte Pubeshaare sind kräftiger als Vellushaare, heben sich vom Hautniveau ab und kräuseln sich meistens. Die ersten Pubeshaare beim Jungen finden sich am Skrotum oder an der Peniswurzel.
Die genaue Abfolge der Pubesbehaarung findet sich in Abb. 7. Fehlende Pubesbehaarung wird als präpubertär bzw. Tanner-Stadium PH 1 („pubic hair“, PH) klassifiziert. Die weiteren Stadien umfassen:
  • PH 2 (erste Pubeshaare am Skrotum oder der Peniswurzel)
  • PH 3 (Behaarung greift um die Peniswurzel herum)
  • PH 4 (Ausbildung eines waagerecht begrenzten Haarareals oberhalb der Peniswurzel mit Skrotalbehaarung)
  • PH 5 (adulte männliche Pubesbehaarung mit Ausziehung der Haargrenzen Richtung Bauchnabel)
 
3.
Die Penisentwicklung wird nur grob den entsprechenden Tanner-Stadien zugeordnet und lässt sich damit nicht gut quantifizieren. Tanner gibt die Stadien G 1–G 5 an. Brauchbarer ist die Penislängenmessung:
Die Penislänge sollte im nichterigierten, aber gestreckten Zustand von der Basis bis zur Eichelspitze gemessen werden, wenn spezielle Fragestellungen bestehen (V. a. Mikropenis bei Wachstumshormonmangel oder Panhypopituitarismus; „disorder of sex development“, DSD).
Um eine unhygienische Benutzung von Maßbändern im Genitalbereich zu vermeiden, kann praktischerweise eine 5-ml-Lüer-Spritze (ohne Kanüle!) schmerzfrei an der oberen Peniswurzel in den Mons pubis Richtung Symphyse gedrückt werden. Der Penis wird an der Spritze entlang gestreckt und die Eichelspitze an der Spritzenskala abgelesen. Dann wird die Spritze vom Patienten entfernt und die Entfernung von der Spritzenspitze bis zur abgelesenen Skalenmarkierung gemessen.
Auch für Penislängen sind Perzentilkurven verfügbar. Als Daumenregel gilt, dass eine präpubertäre Penislänge von 2,5–3 cm noch als normal zu werten ist (entspricht ca. –2,5 Standardabweichungen). Die 10. Perzentillinie der gestreckten Penislänge liegt nach Schoenfeld (zitiert bei Hall et al. 1989) mit einem Jahr bei 3 cm, von 6–11 Jahren bei 4,5 cm und steigt danach auf 10 cm mit 16 Jahren an. Ein echter Mikropenis ist nicht nur kurz, sondern hat auch einen reduzierten Umfang/Durchmesser.
 
4.
Weitere Pubertätszeichen beim Jungen sind:
  • Axillarbehaarung
  • Wachstumsschub
  • Ausbildung männlicher Körperformen
  • Stimmbruch
  • Bartwuchs
  • Pollutionen (spontane Samenergüsse)
  • Stimmungsschwankungen
 
Pubertätszeichen beim Mädchen
1.
Brustentwicklung. Die Brustdrüsenschwellung ist meist das erste Pubertätszeichen beim Mädchen, gelegentlich folgt sie der Pubesbehaarung (Abb. 7). Auch hier wurde eine sinnvolle Quantifizierung von Tanner vorgeschlagen, die weltweit in Gebrauch ist:
Die präpubertäre Brust ohne palpablen Brustdrüsenkörper wird als Tanner-Stadium B 1 klassifiziert. Im Stadium B 2 findet sich eine Brustdrüsenvergrößerung, die die Mamillengröße nicht überschreitet (nicht selten asymmetrisch). Im Stadium B 3 wird die Mamillengröße überschritten, die Brust ist aber noch klein. Stadium B 4 wird durch eine Brustentwicklung mit erhabener Mamille gekennzeichnet, im Stadium B 5 findet sich eine adulte Brustentwicklung, die Mamille liegt im Brustniveau. Nicht jede erwachsene Frau erreicht das Stadium B 5.
 
2.
Pubesbehaarung. Im Stadium PH 1 finden sich keine Pubeshaare (zur Differenzierung von Pubeshaaren und Vellushaaren; s. oben; Abb. 7). Weitere Stadien sind:
  • PH 2 (erste Pubeshaare entlang der großen Labien; nicht immer im Stehen zu sehen, die Oberschenkel müssen zur Untersuchung leicht gespreizt werden)
  • PH 3 (Pubeshaare wachsen bis auf den Mons pubis mit runder kranialer Begrenzung)
  • PH 4 (Mons pubis mit Pubeshaaren bedeckt, die kraniale Begrenzung verläuft waagerecht)
  • PH 5 (Pubesbehaarung greift auf die Innenseiten der Oberschenkel über).
 
3.
Weitere Pubertätszeichen beim Mädchen:
  • Axillarbehaarung
  • Östrogenisierung des Introitus vaginae
    • präpubertär: dünne Epithelschicht, düsterrotes Aussehen
    • pubertär: mehrschichtiger Epithelaufbau, hellrosa Farbe
  • weibliche Körperkonturen
  • Menarche
  • Stimmungsschwankungen
 

Haut und Haare

Die Haut kann vielfältige Veränderungen zeigen, die auf Erkrankungen hindeuten oder bei bekannten Erkrankungen sekundär auftreten. Der Patient sollte daher stets weitgehend entkleidet untersucht werden.
Café-au-lait-Flecken kommen bei ca. 3 % aller gesunden Kinder und Jugendlichen zwischen 5 und 15 Jahren vor, sind also nicht selten. Sie sind im Sommer meist stärker pigmentiert und damit besser erkennbar. Im Zusammenhang mit einer Pubertas praecox sollte an ein McCune-Albright-Syndrom gedacht werden, bei dem im Gegensatz zur Neurofibromatose Typ 1 (Morbus Recklinghausen) ein einzelner Café-au-lait-Fleck zur Diagnose ausreicht (neben der peripheren Pubertas praecox und/oder einer fibrösen Knochendysplasie). In diesen Fällen müssen die Kinder im völlig unbekleideten Zustand genau abgesucht werden, denn Café-au-lait-Flecken liegen gelegentlich sehr versteckt im Haaransatz, in Körperfalten oder im Anogenitalbereich. Die Abb. 8 zeigt ein Beispiel eines blassen Café-au-lait-Flecks im Nackenbereich.
Die Acanthosis nigricans imponiert im Vollbild als eine raue, flächenhafte Hautverdickung mit braun-schwärzlicher Verfärbung, besonders am Hals und axillär. Im Anfangsstadium ist die Acanthosis allerdings blassbraun, wirkt wie verschmutzte Haut und ist nicht wesentlich erhaben. Die Abb. 9 zeigt ein Beispiel einer abblassenden Acanthosis nigricans bei einer Patientin mit polyzystischem Ovariensyndrom (PCOS) und ausgeprägtem Hirsutismus (s. auch Kap. „Endokrine Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit Adipositas“). Alle Symptome verschwanden nach 15 % Gewichtsabnahme fast vollständig, die Acanthosis nigricans ist noch schwach zu erkennen.
Ein Myxödem ist selten im Kindesalter. Es imponiert durch eine teigig-feste Hautbeschaffenheit, die zunächst an ein Ödem erinnert. Längerer Druck erzeugt jedoch keine bleibende Eindellung. Es tritt vermutlich nur bei ausgeprägter und länger bestehender Hypothyreose im Kindesalter auf. In der eigenen Ambulanz wurde es bei einem Patienten mit Diabetes mellitus beobachtet, der eine Autoimmunthyreopathie mit erheblicher Hypothyreose (thyreoideastimulierendes Hormon, TSH >100 μU/ml) entwickelte. Der Familie war bereits aufgefallen, dass die Insulininjektionen „anders“ waren.
Lymphödeme sind besonders im Neugeborenenalter ein Hinweis auf ein Ullrich-Turner-Syndrom. Sie finden sich besonders an Hand- und Fußrücken sowie im Halsbereich. Das Pterygium colli (Flügelfell) ist vermutlich ein Relikt dieser Lymphsystemanomalie.
Das Pterygium colli ist nicht immer einfach zu erkennen (und kann beim Ullrich-Turner-Syndrom völlig fehlen). Gelegentlich ist es nur bei gezielter Seitneigung des Kopfes mit konsekutiver Hautfaltenbildung zu erkennen.
Lipodystrophien bei Patienten mit Diabetes mellitus finden sich in Bereichen, in denen häufig Insulin subkutan gespritzt wird. Sie imponieren als Hautindurationen mit rundlichem Rand und teilweise erheblicher Dicke und Durchmesser. Patienten neigen dazu, die Injektionsstellen nicht zu wechseln, weil es bequemer ist und Einstiche in Lipodystrophiebereiche weniger schmerzen.
Injektionsstellen müssen sowohl bei Patienten mit Diabetes mellitus als auch bei Patienten unter Wachstumshormontherapie bei jeder Visite kontrolliert werden.
Neben Hautverdickungen kommen auch Atrophien bei unsachgemäßer Injektion in immer die gleichen Areale zustande. Meist lassen sich die letzten Injektionsstellen noch an schwach-lividen punktförmigen Hautverfärbungen erkennen. Der Untersucher kann sich so ein Bild über die Verteilung der Injektionen in den Injektionsarealen machen und bei lokalen Häufungen auf einen notwendigen Wechsel der Injektionsstellen hinweisen.
Subkutane Verkalkungen lassen sich leicht palpieren, müssen aber gezielt gesucht oder vom Patienten erfragt werden. Sie treten bei Störungen des Kalzium-Phosphat-Haushaltes (z. B. Pseudohypoparathyreoidismus) auf.
Pigmentierungen der Haut treten generalisiert bei Morbus Addison auf. Sie sind Folge der verstärkten Bildung von adrenokotikotropem Hormon (ACTH) und konsekutiv erhöhter Bildung des melanozytenstimulierenden Hormons (MSH) in der Hypophyse. Dazu gehört eine verstärkte Pigmentierung der Hautlinien.
Hypertrichose und Hirsutismus sind Entitäten, die häufig verwechselt werden. Nicht selten werden Patienten mit Hypertrichose dem pädiatrischen Endokrinologen und Diabetologen vorgestellt, um hormonelle Störungen auszuschließen.
Die Differenzialdiagnose lässt sich allerdings meist gut klinisch klären, damit werden viele Blutentnahmen unnötig:
  • Die Hypertrichose ist eine allgemeine Verstärkung des Haarwachstums ohne Betonung der Pubes- und Axillarregion. Oft sind der Stamm, Extremitäten und Augenbrauen sowie Haaransätze betont. Vielfach sind dunkelhaarige Kinder betroffen, bei ihnen ist die Hypertrichose kräftiger zu sehen und führt häufiger zur Abklärung. Auch Medikamente (Ciclosporin A, Diazoxid, Diphenylhydantoin) sowie Syndrome können zur Hypertrichose führen. Stets sollte die Gingiva auf eine Hyperplasie untersucht werden. Eine endokrinologische Untersuchung bei fehlendem Hirsutismus (s. unten) ist entbehrlich.
  • Der Hirsutismus ist eine verstärkte Sekundärbehaarung bei Mädchen und Frauen, die häufig zu einer männlicheren Haarverteilung führt. So kann die obere Schamhaargrenze Richtung Bauchnabel ausgezogen sein, weiterhin tritt eine verstärkte Behaarung im Bereich von Kinn und Mund („Bartwuchs“) sowie perimamillär auf. Die Extremitäten sind in ausgeprägten Fällen beteiligt. In diesen Fällen muss nach einer endokrinen Ursache gesucht werden, meist liegen Hyperandrogenämien vor (adrenogenitales Syndrom, androgenproduzierende Tumoren, polyzystisches Ovariensyndrom u. a.).
    Eine Quantifizierung kann mithilfe des Ferriman-Gallway-Scores erfolgen.
Alopezien treten lokalisiert (einzeln und multipel) sowie generalisiert auf. Selten liegen endokrine Ursachen vor. Zur Differenzialdiagnose sei auf pädiatrisch-dermatologische Lehrbücher verwiesen. Alopezien werden allerdings begleitend bei Autoimmunerkrankungen (z. B. Autoimmunthyreopathie) beobachtet.
Fingernägel und Fußnägel zeigen beim Ullrich-Turner-Syndrom häufig dysplastische Veränderungen auf, z. B. konkaver oder unregelmäßiger Wuchs. Bei Hypothyreose werden Fingernägel brüchig und splittern leicht.

Spezielle Untersuchungen

In diesem Abschnitt werden Schwerpunkte der Untersuchung bei bestimmten Fragestellungen zusammengefasst, die teilweise in der oben angeführten allgemeinen Untersuchung schon abgehandelt wurden. Ziel ist es, keine wichtigen Fragen und Untersuchungen zu vergessen.
Zur Verdeutlichung sind die
  • Patienten- und Familienanamnese und
  • die körperliche Untersuchung
in zwei getrennten Übersichten aufgeführt.
Schilddrüsenstörungen
Bei Patienten mit vermuteten und bekannten Schilddrüsenstörungen sollten folgende klinische Untersuchungsbefunde registriert werden:
Patienten- und Familienanamnese
1.
Kälteempfinden: Es sollte nach dem Kälteempfinden im Vergleich zu anderen Personen gefragt werden („Frierst du eher oder schwitzt du eher als andere?“). Die Frage sollte ergänzt werden durch die zeitliche Eingrenzung etwaiger Veränderungen des Kälteempfindens. Nicht selten wird berichtet, dass das Kind schon immer kälteempfindlich gewesen sei. In diesem Fall wäre die Angabe kein Indiz für eine kurzfristig erworbene Hypothyreose.
 
2.
Druckgefühl: Nach einem Druckgefühl im Hals sollte gefragt werden. Einige Patienten geben eher an, „einen Frosch im Hals“ zu haben. Auch nach Beschwerden/Atemnot unter körperlicher Belastung sollte gefragt werden.
 
3.
Familienanamnese: Häufig wird man fündig bei gezielter Nachfrage nach Schilddrüsenstörungen, Operationen oder Tabletteneinnahmen in der weiteren Familie.
 
Körperliche Untersuchung
4.
Schilddrüsengröße: Die Palpation der Schilddrüse erfolgt durch Umfassen des Patientenhalses von dorsal und eine langsame Palpation mit wenig Druck. Der Patient sollte unter Palpation etwas Speichel schlucken, während des Schluckvorgangs gleitet die Schilddrüse unter den Fingern des Untersuchers und lässt sich noch besser beurteilen. Die Größe beider Schilddrüsenlappen sollte separat erfasst werden, ebenso der Isthmus. Zusätzliche Informationen sind die Druckempfindlichkeit bei der Untersuchung, Schwirren und Knoten.
Eine Struma sollte einem Stadium zugeteilt werden, um spätere Veränderungen objektivieren zu können. Folgende Stadien werden dabei unterschieden:
 
0
Keine Schilddrüsenvergrößerung
Ia
Schilddrüse tastbar vergrößert
Ib
Schilddrüse tastbar vergrößert, bei Reklination des Kopfes auch sichtbar
II
Schilddrüsenvergrößerung bei normaler Kopfhaltung erkennbar
III
Sehr große Schilddrüse, auch mit Verdrängung anderer Strukturen
5.
Allgemeinzustand: Eine Hyper- und eine Hypothyreose führen zu einer Reduktion des Allgemeinzustandes.
 
6.
Wachstum: Eine Hypothyreose führt zur Wachstumsverschlechterung und zur Verlangsamung der Skelettalterreifung. Eine Hyperthyreose verändert das Wachstum meist nicht signifikant, weil sie i. Allg. vor einer (denkbaren) Wachstumsbeschleunigung erkannt und behandelt wird.
 
7.
Haut: Auf das Myxödem wurde bereits im Abschnitt der Hautuntersuchung hingewiesen. Eine Hypothyreose führt zudem zu einer trockenen und kühlen Haut. Bei Hyperthyreose ist die Haut meist warm, oft verschwitzt und vor allem im Gesicht gerötet. Assoziierte Hautveränderungen sind Depigmentierungen (Vitiligo).
 
8.
Finger- und Fußnägel: Sie sind bei Hypothyreose brüchig und wachsen langsam, während sie bei Hyperthyreose oft kräftig wachsen.
 
9.
Herzfrequenz und Blutdruck: Bei Hypothyreose ist die Herzfrequenz oft langsam (bezogen auf Altersnormwerte), der Blutdruck niedrig oder normal. Eine Hyperthyreose führt dagegen zum Anstieg der Herzfrequenz und zu einem hoch-normalen Blutdruck.
Nicht selten werden bei Hyperthyreose Palpitationen angegeben. Frage: „Hast du manchmal Herzklopfen ohne Grund“?
 
10.
Augen: Typische Zeichen der Hyperthyreose im Erwachsenenalter sind der Exophthalmus sowie ein seltener Lidschlag. Im Kindesalter sind okuläre Symptome bei Morbus Basedow eher selten. Fehlende okuläre Symptome schließen somit keinesfalls eine Hyperthyreose aus.
 
Kleinwuchs
Die wichtigsten anamnestischen Daten und klinischen Untersuchungsbefunde für die Diagnostik bei Kleinwuchs sind in der ersten Hälfte dieses Kapitels in den Abschn. 3 und 4 umfassend dargestellt. Wichtige Frage- und Untersuchungskomplexe, die nicht selten vergessen oder vernachlässigt werden, umfassen:
Patienten- und Familienanamnese
1.
Psychosoziale Probleme? Diese Frage sollte nicht fehlen, selbst wenn beim (vermutlich unterdiagnostizierten) psychosozialen Kleinwuchs die Ätiologie nicht einfach zu eruieren ist.
 
2.
Rezidivierende Otitiden und/oder rezidivierende Harnwegsinfektionen (Hinweise auf ein Ullrich-Turner-Syndrom)?
 
Körperliche Untersuchung
3.
Messung der Elterngrößen, soweit anwesend
 
4.
Messung der Körperproportionen (wird nach eigener Erfahrung von Ungeübten häufig vergessen)
 
5.
Erfassung syndromaler Stigmata
 
Hochwuchs
Die wenigsten Patienten mit Hochwuchs haben eine organische Störung, die den Hochwuchs verursacht. Es ist aber eine wichtige Aufgabe des pädiatrischen Endokrinologen, genau diese Fälle zu erkennen. Eine gute Anamneseerhebung und eine gezielte körperliche Untersuchung lassen die wenigen infrage kommenden Erkrankungen erkennen. Darum sind folgende Fragen bzw. Untersuchungen bei Hochwuchs wichtig:
Patienten- und Familienanamnese
1.
Augenerkrankungen (Linsenluxation)? Ist das Kind/der Jugendliche schon beim Augenarzt gewesen?
 
2.
Bekannte Herzfehler?
 
3.
Geistige Retardierung? Schulleistungen? (Hinweis u. a. auf Homocystinurie)
 
4.
Z. n. Omphalozele? (Hinweis auf Beckwith-Wiedemann-Syndrom)
 
5.
Personen mit Marfan-Syndrom in der Familie?
 
6.
Familiäre Neigung zu Thrombosen? (Hinweis u. a. auf Homocystinurie)
 
Körperliche Untersuchung
7.
Makroglossie? Hoher Gaumen?
 
8.
Auffällige Facies?
 
9.
Positives Daumenzeichen? (Daumen wird bei Faustschluss eingeschlagen und überragt mit seiner Kuppe die geschlossene Handfläche)
 
10.
Positives Handgelenkzeichen? (Das Handgelenk wird von unten umfasst. Der Daumen erreicht den kleinen Finger)
 
11.
Ratio aus Armspanne zu Körperhöhe >1,05?
 
12.
Spinnenfinger?
 
13.
Erfassung der Pubertätsentwicklung
 
Marfan-Syndrom
Die Diagnose des Marfan-Syndroms erfolgt noch immer vorwiegend klinisch. Eine gute deutsche Zusammenfassung der Ghent-Nosologie wurde im Deutschen Ärzteblatt publiziert (Ragunath 1997) und kann als pdf-Datei aus dem Internet heruntergeladen werden.
Es hat sich bewährt, die aufgeführten Symptome systematisch zu überprüfen und auf einer vorbereiteten Liste einzutragen. Die im genannten Artikel abgedruckten Tabellen können kopiert als Muster für eine solche Symptomzusammenstellung dienen.
Anamnestische Angaben und klinische Untersuchungsbefunde finden sich integriert im vorausgehenden Abschn. „Hochwuchs“.
Hodenhochstand
Der normale Hodendeszensus führt dazu, dass beide Hoden mit der Geburt im Skrotum palpabel sind. Nicht selten sind die Hoden aber wegen eines Kremasterreflexes bei der Untersuchung zunächst nicht im Skrotum zu finden, gelegentlich sind sie gar nicht zu palpieren. Da therapeutische Entscheidungen davon abhängen, sollte der nicht behandlungsbedürftige Pendelhoden von den behandlungsbedürftigen Hodenhochstandsformen (Gleithoden, Leistenhoden, Bauchhoden) durch die klinische Untersuchung unterschieden werden. Auch für diese Differenzierung können anamnestische Angaben, gezielt abgefragt, die Zuordnung klären.
Patienten- und Familienanamnese
1.
Anamnestische Angaben: Ein spontaner Deszensus des Hodens beweist das Vorliegen eines Pendelhodens (auch wenn das Ereignis nur selten zu beobachten ist), denn Gleit-, Leisten- oder Bauchhoden deszendieren nie spontan. Darum reicht aulch die zuverlässige Angabe der Eltern, dass sie einen Spontandeszensus beobachtet haben (z. B. in der heimischen Badewanne), um einen Gleithoden auszuschließen. Die Eltern können im Zweifelsfall angeleitet werden, die Hoden zu palpieren, um diese Angaben bei einer erneuten Vorstellung machen zu können.
 
Gezielte Untersuchung
2.
Pendelhoden: Der Hoden liegt spontan entweder im Skrotum oder oberhalb davon. Er lässt sich spannungsfrei an den unteren Skrotalpol verlagern und bleibt auch dort bis zum nächsten Kremasterreflex. Da dieser auch durch Kälte oder psychischen Stress ausgelöst wird, kann die Hodenposition bei Kontrollen häufiger oberhalb des Skrotums erscheinen, als sie es tatsächlich ist. Der Pendelhoden sollte in warmer Umgebung (Bett, Badewanne) spontan deszendieren. Auch die Palpation im Schneidersitz kann versucht werden, wenn im Liegen kein Deszensus zu beobachten ist. Bei Säuglingen kann die Mutter das Sitzen durch Halten unterstützen. Wenn die Hoden im Schneidersitz oder gehaltenen Sitz spontan deszendiert sind oder nach Traktion im Skrotum bleiben, liegt ebenfalls ein Pendelhoden vor.
 
3.
Gleithoden: Der Hoden liegt oberhalb des Skrotums und kann bis in den Skrotaleingang oder sogar bis in das Skrotum gezogen werden. Eine weitere Verlagerung des Hodens bis an den tiefsten Punkt des Skrotums ist infolge der jetzt angespannten Samenstranggebilde nicht oder nur unter Spannung möglich. Der Hoden gleitet beim Loslassen sofort wieder Richtung Leiste zurück.
 
4.
Leistenhoden: Der Hoden liegt in der Leiste und kann nicht ins Skrotum verlagert werden.
 
5.
Bauchhoden oder Anorchie: Der Hoden liegt intraabdominell und ist demzufolge nicht palpabel. Klinisch ist die Anorchie nicht vom Bauchhoden zu unterscheiden.
 
Zur ausführlichen Diagnostik und Therapie des Hodenhochstands sei auf die AWMF-Leitlinien (AWMF 2016) verwiesen.
Frühe Pubertät
Eine im medizinischen Sinne „frühe“Pubertät (Pubertas praecox) liegt vor, wenn die ersten Pubertätszeichen vor dem 8. Geburtstag bei Mädchen und vor dem 9. Geburtstag bei Jungen aufgetreten sind. Dieser Sachverhalt sollte zuerst anamnestisch möglichst präzise geklärt werden, um eine unnötige Diagnostik zu vermeiden. Spezielle Fragen und Untersuchungen:
Patienten- und Familienanamnese
1.
Beginn der einzelnen Symptome (Behaarung, Schweißgeruch, Brustentwicklung etc.)?
 
2.
Vaginaler Ausfluss oder Blutungen?
 
3.
Kopfschmerzen?
 
4.
Stimmungsschwankungen?
 
5.
Weitere bekannte Hormonstörungen, z. B. Hyperthyreose (McCune-Albright-Syndrom)?
 
6.
Entwicklung der Eltern und der weiteren Familie, besonders Frühentwickler?
 
7.
Ethnischer Hintergrund (Beispiel: afroamerikanische Mädchen entwickeln sich deutlich früher und beginnen zu 25 % ihre Pubertätsentwicklung vor dem 8. Geburtstag)?
 
Körperliche Untersuchung
8.
Wachstumsschub/erhöhte Wachstumsgeschwindigkeit?
 
9.
Dokumentation aller Tanner-Stadien separat
 
10.
Hodengröße messen (Orchidometer)
 
11.
Introitus vaginae bei Mädchen inspizieren. Schleimhaut düsterrot oder hellrosa?
 
12.
Sonstige Genitalauffälligkeiten (Hinweis auf intersexuelle Entwicklung = DSD)?
 
13.
Axillarbehaarung?
 
14.
Bei isolierter früher Pubesbehaarung: echte Pubeshaare oder betonte Vellushaare?
 
15.
Weitere Pubertätszeichen: Bartwuchs, Akne, Stimmbruch, Körperproportionen/Fettverteilung, sonstige Körperbehaarung?
 
16.
Café-au-lait-Flecken?
 
17.
Knochenveränderungen sichtbar oder palpabel?
 
18.
Eingeschränktes Sichtfeld (Fingerperimetrie)?
 
Späte Pubertät
Eine im medizinischen Sinne „späte“ Pubertät (Pubertas tarda) liegt vor, wenn die ersten Pubertätszeichen am 13. Geburtstag bei Mädchen und mit 14,5 Lebensjahren bei Jungen noch nicht aufgetreten sind. Sollten bereits einzelne Pubertätszeichen vorhanden sein, liegt definitionsgemäß keine Pubertas tarda vor. Allerdings muss an die Möglichkeit eines Pubertätsstillstands oder an Sonderformen der klinischen Pubertätsentwicklung gedacht werden. So tritt bei Patientinnen mit kompletter Androgenresistenz nur eine Brustentwicklung auf, eine Pubes- oder Axillarbehaarung folgt jedoch nicht. Daher ist die separate Dokumentation aller Pubertätszeichen auch bei der späten Pubertätsentwicklung wichtig. Spezielle Fragen und Untersuchungen:
Patienten- und Familienanamnese
1.
Chronische Erkrankungen, besonders Herzfehler
 
4.
Pubertätsentwicklung der Eltern und weiterer Familienmitglieder
 
Körperliche Untersuchung
5.
Fingerperimetrie
 
6.
Riechstörungen (s. oben)
 
7.
Leistungssport
 
8.
Primäre oder sekundäre Amenorrhö
 
9.
Entwicklung Eltern
 
Störungen des Kalzium- und Phosphatstoffwechsels
Diese Störungen zeigen ganz eigene Symptome, nach denen gezielt gefahndet werden sollte. Zur genauen und komplexen Differenzialdiagnostik sei auf das Kapitel zu diesem Thema verwiesen (Kap. „Endokrine Störungen des Mineralhaushaltes bei Kindern und Jugendlichen“).
Patienten- und Familienanamnese
1.
Krampfanfälle oder unklare Bewusstlosigkeiten in der Anamnese?
 
2.
Personen mit analogen Erkrankungen oder Symptomen in der Familie (nicht selten bei Pseudohypoparathyreoidismus)?
 
Körperliche Untersuchung
3.
Auffällige Facies?
 
4.
Kleinwuchs?
 
5.
Auffällige Extremitäten, insbesondere dysmorphe Hände?
 
6.
Geistige Entwicklung?
 
7.
Chvostek-Zeichen: Beklopfen des N. facialis ca. 1–2 cm vor dem Ohr. Bei Kontraktion der ipsilateralen Gesichtsmuskulatur positiv und hinweisend auf eine Hypokalzämie
 
8.
Trousseau-Zeichen: Anlegen einer Blutdruckmanschette mit RR > systolischer Blutdruck für 3 min. Anschließende Pfötchenstellung: Zeichen positiv. Ist vermutlich sensitiver als das Chvostek-Zeichen und spricht ebenfalls für eine Hypokalzämie
 
9.
Subkutane Verkalkungen. Die Haut des Patienten muss dafür komplett palpiert werden. Nicht selten geben Patienten auf gezielte Nachfrage ihnen lange bekannte Verkalkungen an
 
Diabetes mellitus
Mindestens einmal pro Jahr sollte eine komplette körperliche Untersuchung bei bekannten Patienten mit Diabetes mellitus erfolgen. Bei Manifestation und Entgleisungen sowie anderen stationären Aufnahmen gehört die vollständige Untersuchung zum Aufnahmeverfahren. Im Folgenden werden nur ausgewählte Themen dargestellt.
Diagnostik bei Manifestation und Entgleisungen
Patienten- und Familienanamnese
1.
Dauer und Quantifizierung von Gewichtsverlust, Polyurie, Polydipsie, reduziertem Allgemeinzustand, Foetor ex ore
 
2.
Zöliakie, Schilddrüsenstörungen, Nebenniereninsuffizienz bei Patienten oder in der Familie bekannt?
 
3.
Weitere chronische Erkrankungen (z. B. Niereninsuffizienz bei MODY Typ V)?
 
4.
Diabetes mellitus in der Familie? Welche Generationen? Bei MODY oft Diabetes „Typ 1“ über 3 Generationen in der Familie.
 
Körperliche Untersuchung
5.
Dehydratationsgrad bestimmen
 
6.
Foetor ex ore?
 
7.
Diurese?
 
8.
Bewusstseinseintrübung?
 
9.
Kurzfristige Kontrollen der Vigilanz
 
10.
Kontrolle der Herzfrequenz (Bradykardie unter Rehydratation kann das erste Anzeichen eines Hirnödems sein)
 
Diagnostik bei ambulanten Vorstellungen
Patienten- und Familienanamnese
1.
Überprüfung und Diskussion der Aufzeichnungen der Blutzuckermessungen
 
2.
Problemerhebung in der Therapiedurchführung. Offene Fragen
 
3.
Familiäre Probleme? Geschwister nicht vergessen
 
Körperliche Untersuchung
4.
Abtasten der Einstichstellen: Lipodystrophien?
 
5.
Untersuchung der Fingerkuppen: Lokalisation der Lanzetteneinstiche korrekt? Passt die Anzahl der Einstiche zu den angegebenen BZ-Werten?
 
6.
Auxologie (Körperhöhe und Gewicht): Erkennung von Wachstumsstörungen oder deutlichen BMI-Veränderungen
 
7.
Erfassung der Pubertätsentwicklung
 
8.
Erfassung diabetischer Neuropathie (z. B. Monofilamenttest, Stimmgabeltest; Kap. „Diabetes mellitus Typ 1 bei Kindern und Jugendlichen: Stoffwechselkontrolle und Folgeerkrankungen“)
 
Literatur
AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftsschaftlichen Medizinischen Gesellschaft) (2016) Leitlinien für Diagnostik und Therapie. Hodenhochstand – Maldeszensus testis. http://​www.​leitlinien.​net. Zugegriffen am 23.03.2017
Hall JG, Froster-Iskenius UG, Allanson JE (1989) Limbs. Handbook of normal physical measurements. Medical Publications, Oxford
Kromeyer-Hauschild K, Wabitsch M, Geller F et al (2001) Perzentile für den Body-Mass-Index für das Kindes- und Jugendalter unter Heranziehung verschiedener deutscher Stichproben. Monatsschr Kinderheilkd 149:807–818CrossRef
Ragunath M, Nienaber C, von Kodolitsch Y (1997) 100 Jahre Marfan-Syndrom – eine Bestandsaufnahme. Dtsch Ärztebl 94:A821–A830. http://​www.​aerzteblatt.​de/​v4/​archiv/​pdf.​asp?​id=​5694. Zugegriffen am 23.03.2017