Grundlagen und Klinik
Die
Sichelzellkrankheit (SCD)
ist eine autosomal-rezessiv vererbte β-Hämoglobinopathie
, die durch das Auftreten der Hämoglobin-Variante S (HbS, Sichelzell-Hämoglobin) charakterisiert ist. Deoxygeniertes HbS neigt zur intraerythrozytären Polymerisation, während das physiologische HbA stets gelöst vorliegt. Die zur Polymerisation notwendige kritische Konzentration von deoxygeniertem HbS wird bei
Homozygotie für HbS und bei Compound-Heterozygotie für HbS und β-Thalassämie sowie bei Compound-Heterozygotie für HbS und diverse andere
Hämoglobinvarianten überschritten. Die
Heterozygotie für HbS hat keinen Krankheitswert, ist aber auch nicht vollkommen harmlos. Sie sollte als Risikofaktor für einige seltene Komplikationen verstanden werden (Kato et al.
2018; Naik und Haywood
2015).
Auch wenn nur wenige epidemiologische Daten zur Verfügung stehen, kann doch als gesichert angesehen werden, dass die
Prävalenz der Erkrankung in Deutschland und anderen mittel- und nordeuropäischen Ländern in den letzten 15 Jahren zugenommen hat. Die Sichelzellmutation führt bei Heterozygoten dazu, dass sie etwas seltener an der
Malaria sterben. Ein Schutz vor Malaria besteht aber entgegen einem weit verbreiteten Irrglauben nicht. Dennoch hat dieser evolutionäre Vorteil dazu geführt, dass die SCD in ehemaligen und heutigen Malaria-Gebieten endemisch ist. Besonders prävalent ist die Erkrankung im subsaharischen Afrika, im östlichen Mittelmeerraum, dem Nahen und Mittleren Osten und in Indien. Durch
Migration ist sie auch in der afroamerikanischen Bevölkerung der USA und in Teilen Südamerikas, z. B. in Brasilien, sehr häufig. In Deutschland sind ausschließlich Menschen mit eigenem oder familiärem Migrationshintergrund betroffen. Seit 2016 existiert ein Patientenregister, das helfen soll, die Datenlage zur Epidemiologie und zum Erkrankungsverlauf zu verbessern (Zugang:
www.sichelzellkrankheit.info). Aktuell leben wahrscheinlich ca. 3000 Menschen mit SCD in Deutschland. Pro Jahr werden hierzulande etwa 100 Kinder mit der Erkrankung geboren (Kunz et al.
2017,
2019).
Das pathophysiologische Kernereignis der SCD ist die HbS-Polymerisation, die zwei wesentliche Prozesse induziert:
Durch die Interaktion dieser beiden Phänomene werden verschiedene pathophysiologische Prozesse in Gang gesetzt. Es kommt unter anderem zu einer Endothelaktivierung, vermehrten zellulären Interaktionen, einer Aktivierung der zellulären und der plasmatischen Gerinnung, zu einem „vascular remodeling“ und so letztlich zu einer Mikro- und Makrovaskulopathie, die Verschlüsse kleiner und großer Blutgefäße begünstigt. Diese Verschlüsse ereignen sich chronisch-rezidivierend und akut-krisenhaft („vasookklusive Krisen“).
Durch die Gefäßverschlüsse kommt es zu ischämischen Infarkten und Reperfusionsschäden. Betroffen sind sämtliche Organe des Körpers, insbesondere die mit einem hohen Sauerstoffverbrauch wie die Nieren und das Gehirn. Vor allem Patienten mit SCD-S/C-Krankheit entwickeln häufig eine proliferative Retinopathie
mit
Sehstörungen bis zur Erblindung (Ballas et al.
2010).
Das mit Knochenmarkinfarkten verbundene Knochenmarködem führt zu stärksten Schmerzen. Betroffen sind meist die Diaphysen der langen Röhrenknochen. Ein Sonderfall ist das
Hand-Fuß-Syndrom bei Kleinkindern, das durch geschwollene Finger und Zehen gekennzeichnet und oft die Manifestation der Erkrankung ist, aber selten als solche erkannt wird. Schmerzkrisen haben eine Dauer von wenigen Tagen bis mehreren Wochen und werden aggressiv analgetisch behandelt. Außerdem muss sichergestellt werden, dass der Flüssigkeitsbedarf gedeckt ist, damit sich die rheologischen Eigenschaften des Blutes nicht noch zusätzlich verschlechtern.
Weitere Ursachen von Knochenschmerzen können ischämische, „avaskuläre“
Osteonekrosen sein, die sich mit Deckplatteneinbrüchen von Wirbelkörpern und Gelenkschäden (meist Femur- oder Humeruskopf) manifestieren.
Rezidivierende Milzinfarkte
führen schon im Kleinkindalter zu einer Hypo-/Asplenie
, sodass auch ein erhöhtes Risiko für Infektionen mit bekapselten bakteriellen Krankheitserregern (v. a.
Pneumokokken) besteht. Außerdem bietet das ischämisch geschädigte
Knochenmark einen guten Boden für Osteomyelitiden. Hier sind insbesondere
Salmonellen von Bedeutung. Die Differenzierung einer vasookklusiven Knochenkrise
von einer
Osteomyelitis kann im Einzelfall erhebliche Probleme bereiten. In den bildgebenden Verfahren unterscheiden sich die beiden Komplikationen kaum. Das CRP kann auch in vasookklusiven Krisen exzessiv hoch sein. Die Bedeutung des Prokalzitonins ist bislang nicht ausreichend untersucht. Ein multifokales Auftreten spricht eher für eine Schmerzkrise, kann aber auch bei einer Osteomyelitis vorkommen. Ein gutes Kriterium ist dagegen die subjektive Einschätzung des Patienten, der bei einer Osteomyelitis über Schmerzen berichtet, „die sich anders anfühlen als sonst“.
Das wiederholte Erleben von oftmals insuffizient behandelten Schmerzen führt zudem zu einem veränderten Schmerzerleben und nicht selten zu schwer therapierbaren
chronischen Schmerzen.
Diagnose
Die Diagnose SCD sollte in Erwägung gezogen werden, wenn rezidivierende Knochenschmerzen
oder andere krankheitstypische Symptome und Komplikationen bei Menschen mit einem entsprechenden ethnischen Hintergrund auftreten. In Zeiten der Globalisierung ist das individuelle Risiko jedoch oft nicht gut abzuschätzen. Angesichts der geringen Kosten sollte die Indikation zur Diagnostik daher großzügig gestellt werden. Die Basisdiagnostik umfasst ein kleines Blutbild mit
Retikulozyten, einen
Blutausstrich und den Nachweis inklusive Quantifizierung von HbS (z. B. mittels Hb-Elektrophorese). Letztere Untersuchung ist zwingend erforderlich, da nicht alle Patienten eine
Anämie haben und weil auch nicht konstant
Sichelzellen im Blutausstrich nachweisbar sind.
Therapie
Die therapeutischen Optionen für Menschen mit einer SCD sind noch begrenzt. Es befinden sich aber mehrere Substanzen mit unterschiedlichen Wirkmechanismen in der klinischen Entwicklung. Verschiedene Zulassungsverfahren laufen (Torres und Conran
2019).
Als krisenprophylaktische medikamentöse Therapie steht der Ribonukleotidreduktase-Hemmer Hydroxycarbamid zur Verfügung, der seine Wirkung unter anderem über eine Reaktivierung der HbF-Expression entfaltet. HbF enthält keine β-Ketten und ist daher nicht von der SCD betroffen.
Eine kurative Behandlung ist durch
Stammzelltransplantation möglich. Gibt es einen HLA-identen familiären Spender, ist sie unabhängig vom klinischen Verlauf indiziert. Mit anderen Stammzellquellen (inkl. haploidenten) bestehen bisher keine vergleichbar umfangreichen Erfahrungen. Die bisherigen Studienergebnisse sind aber vielversprechend, sodass sich die Transplantationsindikationen in Zukunft sicher erweitern werden (Kassim und Sharma
2017).
Die
Gentherapie zur Behandlung der SCD befindet sich ebenfalls in einem weit fortgeschrittenen Entwicklungsstadium. Das erste Produkt wird in Kürze erwartet (Tanhehco und Bhatia
2019).