Klinische Symptome
Die Symptome der ALL erklären sich zum einen direkt durch Proliferation des leukämischen Klons im
Knochenmark und in extramedullären Lokalisationen wie Leber, Milz, Lymphknoten oder ZNS. Häufig, aber längst nicht immer, finden sich eine
generalisierte Lymphadenopathie und eine
Hepatosplenomegalie, die von diffusen oder lokalisierten
Bauchschmerzen und Inappetenz begleitet sein kann. Bei ZNS-Befall kann es zu Kopf- und Rückenschmerzen, Hirnnervenausfällen und Hirndruck kommen. Auch die typischen muskuloskelettalen Beschwerden der ALL, auf die unten detailliert eingegangen werden soll, werden auf Proliferation leukämischer Blasten zurückgeführt.
Neben diesen unmittelbar durch Wachstum des leukämischen Zellklons bedingten Symptomen stehen indirekte, durch Verdrängung der normalen Hämatopoese entstehende Erkrankungszeichen im Vordergrund. So kommt es durch Verdrängung der normalen Erythropoese zur
Anämie mit nachfolgender Schwäche und Mattigkeit, durch Verdrängung der Megakaryopoese zur
Thrombozytopenie, gefolgt von Blutungszeichen wie Epistaxis, Zahnfleischbluten, Petechien und Hämatomen. Die Verdrängung der gesunden Granulopoese führt zur Abwehrschwäche mit erhöhter Anfälligkeit für bakterielle, virale und Pilzinfektionen.
Fieber kann sowohl durch solche Infektionen als auch durch Zytokinfreisetzung der Leukämiezellen verursacht werden.
An Leukämie erkrankte Patienten können zunächst mit rein muskuloskelettalen Beschwerden auffallen, die von denen einer juvenilen idiopathischen Arthritis
nicht zu unterscheiden sind. Muskuloskelettale Symptome treten bei ein bis zwei Dritteln aller Kinder mit ALL auf (Gonçalves et al.
2005) und schließen lokalisierten oder diffusen Knochenschmerz, Arthralgie, Arthritis und Synovitis ein. In einer Serie von 762 Kindern mit ALL wiesen 6,4 % klinische Symptome auf, die denen einer juvenilen rheumatischen Arthritis entsprachen (Marwaha et al.
2010). Knochen- und Gelenkbeschwerden werden dabei offenbar weniger durch unmittelbare leukämische Infiltration der Synovia ausgelöst, sondern vielmehr durch Reizung periostaler Bezirke in Gelenknähe durch proliferierende leukämische Blasten. In einer neueren Studie an 286 Kindern mit einer ALL stellten sich 18,5 % mit lokalisierten
Gelenkschmerzen vor, die Hälfte davon hatte Zeichen einer Arthritis (Brix et al.
2015).
Initiale artikuläre und extraartikuläre Symptome können sich bei Leukämie und Rheuma derart ähneln, dass sie oft nicht helfen, die Differenzialdiagnose zu klären. Die Stellung der korrekten Leukämiediagnose kann lange auf sich warten lassen, wenn die Diagnostik einseitig auf z. B. eine Arthritis fokussiert wird.
Cave: Eine vorschnelle Therapie mit Corticosteroiden oder
Methotrexat kann zwar zur vorübergehenden Beschwerdebesserung führen, letztlich wird hierdurch jedoch nur die Diagnosestellung verschleppt und durch Induktion von Resistenzen der spätere Erfolg der Chemotherapie gefährdet (Révész et al.
1985).
Trotz aller Ähnlichkeiten und Überschneidungen der muskuloskelettalen Symptomatik bei Rheuma und ALL gibt es einige klinische Hinweise, die auf leukämische Ursachen hindeuten können. So gelten Knochenschmerzen ohne direkten Gelenkbezug und fehlende Gelenksteifigkeit als typisch für die ALL. Die Knochenschmerzen treten klassischerweise zunächst intermittierend auf, betreffen v. a. die Metaphysen und entwickeln sich erst im Verlauf zu starken Dauerschmerzen (Costello et al.
1983; Ostrov et al.
1993). Als besonders charakteristisch gilt ein nächtliches Schmerzmaximum (Jones et al.
2006; Marwaha et al.
2010).
Besteht Gelenkbezug, so präsentiert sich oft ein pauciartikulärer Befall großer Gelenke, häufiger an den Beinen als an den Armen. Häufigste Manifestationsorte sind die Kniegelenke gefolgt von den Sprunggelenken, doch auch der Befall der Hüften, Ellenbogen oder Handgelenke und anderer Gelenke
ist beschrieben. Charakteristischerweise betreffen die Beschwerden ein bestimmtes Gelenk nur vorübergehend, bessern sich dort dann spontan, nur um wenig später andernorts mit gleicher Heftigkeit wiederzukehren. Bei der Arthritis
bei ALL handelt es sich somit zusammenfassend um eine schmerzhafte, migratorische, pauciartikuläre Arthritis großer Gelenke. Die Heftigkeit leukämiebedingter Schmerzen ist dabei disproportional stark zu den bei der körperlichen Untersuchung nachweisbaren, nur mäßigen lokal entzündlichen Befunden. Häufig werden alterstypische Aktivitäten durch diese starken Schmerzen eingeschränkt. Gerade von kleinen Kindern wird oft berichtet, sie seien weniger gelaufen und hätten weniger gespielt als zuvor. Im Vergleich hierzu sind die Schmerzen bei rheumatischen Erkrankungen weniger stark, sie haben ihr
Maximum am Morgen und werden charakteristischerweise von Gelenksteifigkeit begleitet.