Definitionen und geschichtliche Aspekte
Die Moral sagt: ‚So sei es!‘
Die Ethik fragt: ‚Soll es wirklich so sein?‘
Dass heute ein so dringender Ethikbedarf in der Medizin besteht, hat – nach Elmar Waibl – eine sonderbare, paradoxe Erklärung: Der Grund ist nicht ein Moralversagen der Medizin, sondern eine Moralüberforderung als Resultat ihres Erfolges. Die rasante Entwicklung in der Medizin ist zu einer moralischen und rechtlichen Herausforderung geworden: Durch die naturwissenschaftlich-technische Revolution sind Handlungsmöglichkeiten freigesetzt worden, die nur dann human bleiben können, wenn sie durch ethische Grundsätze geleitet werden.
Ethische Richtlinien in der Medizin
Der Großteil der ethischen Richtlinien in der Medizin ist durch allgemeine Rechtsgrundsätze geschützt, die in der Verfassung fast aller Länder verankert und in den Straf- und Zivilrechtsbüchern festgeschrieben sind. Darüber hinaus sind sie in den Deklarationen und Empfehlungen der internationalen Ärzteorganisationen festgehalten, wie beispielsweise in der Erklärung des Weltärztebundes über die ärztliche Ethik 1964 wurde von der World Medical Association die Deklaration von Helsinki verabschiedet, die 2008 zum 6. Mal revidiert worden ist und vielerorts in die Gesetzgebung Eingang gefunden hat. Die World Psychiatric Association (WPA) hat in den letzten 30 Jahren eine Reihe von unterschiedlichen Erklärungen zu ethischem Verhalten abgegeben und Leitlinien zu verschiedenen Themenbereichen sowie zu den Standards bei der psychiatrischen Berufsausübung erlassen. Am Beginn steht die
Deklaration von Hawaii, die 1977 von der Generalversammlung der WPA approbiert wurde und in Wien 1983 eine Modifikation erlebte. Es folgten 1996 die
Deklaration von Madrid (dtsch. Übersetzung Shiffman und Helmchen
1998) sowie weitere Ergänzungen als Folge entsprechender Diskussionsprozesse in den jeweiligen Generalversammlungen der WPA. Der Inhalt der genannten Deklarationen kreiste vorwiegend um die Fragen der Diskriminierung, der Euthanasie, der Folter und der Todesstrafe sowie der möglichen Interessenkonflikte durch Einflüsse Dritter. Darüber hinaus regeln Verhaltenskodizes
für Psychiater (Hinterhuber et al.
2009) Fragen der Verschwiegenheit
, der Dokumentationsverpflichtung
, des Arzt-Patient-Verhältnisses
(inkl. des Gebotes der sexuellen Abstinenz), der Zusammenarbeit mit pharmazeutischen Firmen und vieles andere mehr. Moral aber kann durch Gesetze und Deklarationen weder erzwungen noch ersetzt werden: Eine Gesellschaft, in der alles gesetzlich definiert wäre, könnte dem einzelnen Menschen nie gerecht werden und würde folgedessen der Menschlichkeit entbehren.
Autonomie und Selbstbestimmung
In der postmodernen Gesellschaft sind Autonomie
und Selbstbestimmung
grundlegende Werte, sie bilden in einer pluralistischen Welt mit unterschiedlichen ethischen Gewichtungen den kleinsten gemeinsamen Nenner in der Bewertung existenzieller Probleme. Die ärztlichen Interventionen werden heute zunehmend als Dienstleistungen interpretiert, das Arzt-Patient-Verhältnis wird durch einen Behandlungsvertrag
geregelt. Die nach einem Konsumenten- oder Vertragsmodell konzipierte
Arzt-Patient-Beziehung stärkt die Autonomie des Kranken und garantiert dessen Kontrolle über den medizinischen Entscheidungsprozess (Emanuel und Emanuel
2004). Darüber hinaus wurde in den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts durch die Einführung des „Informed Consent“ die Grundlage für eine allgemein anerkannte Medizinethik gelegt: das informierte Einverständnis des Kranken ist somit Voraussetzung für die
Einwilligung zu definierten diagnostischen und therapeutischen Eingriffen. Die Konstrukte des informierten Einverständnisses und des Vertragmodelles beinhalten aber auch gravierende Probleme. Sie berühren nach Tress und Erny (
2008) Fragen nach dem Umfang der Aufklärung, nach dem Status des
Patientenwillens (ist das Geäußerte das tatsächlich Gewollte?) sowie nach der Einsichtsfähigkeit. Welche Konsequenzen ergeben sich für den Arzt, wenn sich ein Patient offensichtlich gegen sein argumentativ begründbares Wohl entscheidet?
Diese Problematik akzentuiert sich besonders bei psychisch Kranken, deren Entscheidungsfähigkeit im Rahmen einer akuten Symptomatik sehr eingeschränkt, ja aufgehoben sein kann. Das Postulat des Informed Consent und der Autonomie des Patienten sowie der
Vorsorgevollmacht und der Patientenverfügung
besitzen bei psychiatrischen Erkrankungen einen andern Stellenwert als bei organischen Beeinträchtigungen. Es stellt sich mit Recht die Frage, inwieweit eine allgemeine, für die somatische Medizin entwickelte Medizinethik überhaupt den Anforderungen und Problemen im Bereich der Psychiatrie und
Psychotherapie gerecht werden kann (Tress und Erny
2008). Feinberg (
1986) differenziert zwischen Autonomie als ein persönliches Potenzial und Autonomie als moralisches Recht. Auch Birnbacher und Kottje-Birnbacher (
1999) unterscheiden zwischen Autonomie als Recht und Autonomie als Fähigkeit.
Bezüglich des Informed Consent haben empirische Untersuchungen nachweisen können, dass häufig ein eingeschränktes Verstehen sowie eine eingeschränkte Urteilsfähigkeit besteht. Die genannten Einschränkungen finden sich nicht nur bei schweren Störungen, sondern auch bei psychogenen Beeinträchtigungen des Urteilens und des Handelns (Tress
1987). Ein Patient hätte sich in diesem konkreten Fall für etwas zu entscheiden, was er bezüglich der Konsequenzen nicht nur nicht richtig einzuschätzen, sondern auch gar nicht einzusehen in der Lage ist. Auch für Tress u. Erny ergibt sich infolgedessen die mehr als berechtigte Frage, ob im psychiatrisch-psychotherapeutischen Kontext nicht doch weiterhin das paternalistische Modell bis zu jenem Zeitpunkt bestehen sollte, in der jenes Vermögen wiederhergestellt ist, das dem Patienten nach Festigung seiner Ich-Funktionen und Wiedererlangen der Einsichts- und Urteilsfähigkeit neuerlich verantwortbare Entscheidungen erlaubt.
Ein Patient muss auf ein autonomes Ich rekurrieren können, um auch autonome Entscheidungen zu treffen. Die ärztlichen therapeutischen Maßnahmen müssen deshalb primär darauf abzielen, dem Patienten die Wahrnehmung dieses Rechtes überhaupt erst zu ermöglichen. Autonomie ist in diesem Sinn kein statisches Vermögen, sondern bildet sich im Laufe der Entwicklung eines Menschen heraus, sie verändert sich und kann auch teilweise oder vollständig fehlen.
In der
Psychotherapie ergibt sich darüber hinaus die besondere Situation, dass eine umfassende Aufklärung der Therapieziele vor Behandlungsbeginn häufig nicht möglich ist, da diese oft zum therapeutischen Prozess selbst gehören.
Ethik und psychiatrische Forschung
Die medizinische Forschung unterliegt ethischen Grundsätzen, die die Achtung vor den Menschen fördern und ihre Gesundheit und Rechte schützen. Einige Forschungspopulationen sind vulnerabel und benötigen besonderen Schutz. Die besonderen Schutzbedürfnisse der wirtschaftlich und gesundheitlich Benachteiligten müssen gewahrt bleiben (Deklaration des Weltärztebundes von Helsinki: „Ethische Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen“ 1964).
Die Diskussionen bezüglich der Forschungsethik werden von Grundsätzen bestimmt, die eine Wertehierarchie beinhalten, die im Spannungsbogen zwischen dem individuellen Wohl und dem Gemeinnutzen sowie zwischen dem Arzt als Therapeuten und dem Arzt als Forscher angesiedelt werden.
Das Wohlergehen des Patienten und die korrekte wissenschaftliche Arbeit stellen immer das vorrangige Ziel des praktisch wie wissenschaftlich tätigen Psychiaters dar. Pekuniäre Aspekte müssen stets als nachgeordnetes Interesse verstanden werden.
Ethik und plazebokontrollierte Forschung
Die World Medical Association (WMA) hat 1964 in der „Deklaration von Helsinki“ ethische Grundsätze der humanmedizinischen Forschung verabschiedet. Diese Deklaration wurde seither mehrmals überarbeitet, die letzte Revision erfolgte auf der 64. Generalversammlung der WMA in Fortaleza, Brasilien, 2013.
Bezüglich der Verwendung von Plazebo wurde prinzipiell festgehalten:
Vorteile, Risiken und Belastungen und die Effektivität eines neuen Verfahrens sind gegenüber denjenigen der gegenwärtig besten prophylaktischen, diagnostischen und therapeutischen Methoden abzuwägen. Dies schließt nicht die Verwendung von Placebo oder die Nichtbehandlung bei Versuchen aus, für die es kein erprobtes prophylaktisches, diagnostisches oder therapeutisches Verfahren gibt.
Daraus wird häufig beispielsweise bei Antidepressivastudien ein Verbot der Anwendung von Plazebo abgeleitet. Als Argument wird der Grundsatz „primum non nocere“ angeführt.
Die Wirksamkeit eines Psychopharmakons mit wissenschaftlicher Methodik nachzuweisen, stellt einen moralischen Imperativ dar: Plazebokontrollierte klinische Studien stellen heute die beste wissenschaftliche Methodik dar, die Wirksamkeit einer neuen Behandlung zu überprüfen. Ist es aber ethisch vertretbar, dadurch einem Patienten eine spezifisch wirksame, erfolgreiche Behandlung vorzuenthalten? Es geht somit um das Wohl des individuellen Patienten, der das Recht hat, eine wirksame und sichere Behandlung zu erfahren.
Doppelblinde, plazebokontrollierte Studien sind in der Tat von Nachteilen belastet:
-
Vertrauensverlust bei den Patienten, die für sich die bestmögliche Behandlung beanspruchen,
-
Unkenntnis des Arztes bezüglich der praktizierten Therapie (Doppelblindanordnung),
-
Gefahr einer nichtumfassenden Aufklärung, um höhere Drop-out-Raten zu vermeiden,
-
Zuordnung zu einer Therapieform durch Zufall (Randomisierung),
-
Vorenthaltung einer wirksamen Therapie im Rahmen eines Plazeboarmes.
Besonders der letzte Punkt muss unter forschungsethischen Überlegungen eingehender anhand von Antidepressivastudien diskutiert werden.
Depressive Störungen sprechen bekanntlich in einem hohen Prozentsatz auf Plazebo an: Dies beweist die große Bedeutung von mehrdimensionalen Behandlungsansätzen bei
depressiven Störungen. Die pharmakologische Behandlung stellt somit nur einen – wohl wesentlichen – Teil des Therapiekonzeptes dar. Plazebo sind erwiesenermaßen keine neutralen Substanzen: Unter Scheinmedikamenten sind in der Tat beispielsweise Veränderungen im zerebralen Glukosemetabolismus sowie im
EEG nachgewiesen worden.
Insgesamt scheint es nicht möglich, neue Erkenntnisse durch Forschungsprojekte im Bereich der depressiven Erkrankungen zu generieren, bei denen die Patienten keinen Risiken ausgesetzt sind. Studien ohne Plazebokontrolle können den realen therapeutischen Stellenwert eines neuen Medikamentes nicht eindeutig unter Beweis stellen. Quitkin (
1999) versuchte das Problem auf den Punkt zu bringen:
Ein neues Medikament zu prüfen, erfordert etwa 500 Patienten, die Placebo für 6 Wochen erhalten, in denen sie intensiv überwacht werden. Die Zulassung eines ineffektiven Medikaments könnte jedoch Hunderttausende Patienten einer ineffektiven Behandlung unter normaler klinischer Beobachtung aussetzen.
Aufgrund der Tatsache, dass
Antidepressiva und Plazebo des Öfteren keinen sehr großen Wirkungsunterschied aufweisen, ist ein generelles Verbot von plazebokontrollierten Antidepressivastudien ethisch kaum zu rechtfertigen: Das aus der Helsinki-Deklaration ableitbare Verbot von plazebokontrollierten Antidepressivastudien sollte zumindest so lange ausgesetzt werden, bis Antidepressiva entwickelt worden sind, die eine eindeutige und konsistente Überlegenheit gegenüber Plazebo hinsichtlich Wirkgrad und Wirklatenz vorweisen können und somit ein klar definiertes „erprobtes Verfahren“ darstellen (Deisenhammer und Hinterhuber
2003). Demgegenüber empfindet Helmchen (
2005a) aber eine plazebokontrollierte Prüfung von Antidepressiva nur bei leichteren Depressionen ethisch begründbar, nicht aber bei ausgeprägten Depressionen, da dagegen mehrere Antidepressiva mit plazebokontrolliert nachgewiesener Wirksamkeit eingesetzt werden können, also eine ausreichende „historische Evidenz“ gegeben ist.
Bei schizophren erkrankten Patienten (Fleischhacker et al.
2003) kann auf plazebokontrollierte Prüfungen der Wirksamkeit neuer
Antipsychotika verzichtet werden: Es besteht eine „historische Evidenz“ für die Wirksamkeit sowohl von klassischen wie atypischen
Neuroleptika, die ausreicht, um neue Antipsychotika gegen bereits im Handel verfügbare Antipsychotika auf „non-inferiorit“ zu prüfen.
Eine plazebokontrollierte Studie ist nach Helmchen (
2005a) nur dann ethisch vertretbar, wenn das Untersuchungsziel unumstritten und nur mittels einer reinen Plazebokontrolle zu erreichen ist (z. B. Wirksamkeitsnachweis eines neuen Therapieprinzips). Dem voll aufgeklärten Patienten muss die
Einwilligung infolge überschaubarer und nur geringer Belastungen und Risiken zumutbar sein. Der Prüfung der
Einwilligungsfähigkeit kommt bei psychisch Kranken stets besondere Bedeutung zu.
Stets sind plazebokontrollierte Studien mit allen etablierten mehrdimensionalen Behandlungsansätzen zu begleiten.
Forschung bei nichteinwilligungsfähigen Patienten
Jede ärztliche Behandlung bedarf der Zustimmung des Patienten oder – bei fehlender
Einwilligungsfähigkeit – seines gesetzlichen Vertreters
. Davon ausgenommen ist die Behandlung bei Gefahr in Verzug
. Die
Einwilligung setzt eine entsprechende Aufklärung des Patienten durch den Arzt voraus. Dabei wird zwischen Diagnose-, Verlaufs- und Risikoaufklärung unterschieden.
Die Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Patienten bildet die Grenzlinie zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Die Beurteilung der Einsichts- und Urteilsfähigkeit eines Patienten gehört zu den Aufgaben des behandelnden Arztes.
Viele medizinische Fachrichtungen weisen einen hohen Forschungsbedarf bei nichteinwilligungsfähigen Patienten auf. Die Psychiatrie benötigt Studien zur Therapie akut psychotisch Kranker und bei psychisch kranken Kindern, die in der Regel eine diesbezügliche
Einwilligung nicht abzugeben in der Lage sind, sowie – besonders bedeutsam – Untersuchungen zur Ätiopathogenese, dem Verlauf und der Therapie von Patienten mit demenziellen Erkrankungen. Bei diesen fehlt die informierte Einwilligung zur Teilnahme an Studien, die gerade darauf abzielen, die intellektuellen Einschränkungen zu verbessern, um eine ehemals bestehende Einwilligungsunfähigkeit wieder aufheben zu können. Erhebliche ethische Fragen werden somit durch die notwendige Forschung besonders im Bereich der neurodegenerativen Erkrankungen aufgeworfen 2003a. Forschung an Patienten ist zurzeit dann unmöglich, wenn deren
Einwilligungsfähigkeit beeinträchtigt oder nicht gegeben ist. Dringend benötigte Forschung in diesem Segment wird dadurch als ethisch fragwürdig angesehen.
Zum Schutz nichteinwilligungsfähiger Patienten ist ein weltweit einheitlicher Standard ethischer Grundsätze dringend notwendig. In Zeiten der Globalisierung ist es ansonsten ein leichtes, sich für Forschungsvorhaben Länder mit geringerem Schutzniveau auszusuchen. Dies legt die Entwicklung einheitlicher und verbindlicher Forschungsstandards nahe.
Ethische Aspekte der psychiatrischen Genetik
Trotz der Fortschritte im Bereich der psychiatrischen Genetik sind wir heute noch weit von einer detaillierten Kenntnis der molekulargenetischen Grundlagen psychischer Erkrankungen entfernt. So ist die Vermarktung genetischer Tests beispielsweise für die
Alzheimer-Demenz ethisch und moralisch nicht zu rechtfertigen: Die Komplexität der damit verbundenen Fragestellungen erfordert nicht nur eine entsprechende professionelle Beratung, sondern auch eine ggf. intensive psychotherapeutische Begleitung. Dasselbe gilt in verstärktem Umfang für die genetische Testung auf sporadische Formen der
Demenz.
Ähnliche Probleme wirft auch die Diagnostik der
Chorea Huntington auf: Ein Träger des pathogenen Gens kann zweifelsfrei präsymptomatisch identifiziert werden. Wie gehen Betroffene entweder mit der Unsicherheit oder der schweren Belastung um, Träger der zur Krankheit führenden Genvariante zu sein? Stets muss versucht werden, dem individuellen Fall gerecht zu werden: hilfreich sind diesbezüglich die von Genetikern, Psychiatern und Psychologen entwickelten Regeln für die Beratung von Mitgliedern von Chorea-Huntington-Familien. Besonders diffizile Fragen ergeben sich bei der möglichen pränatalen Durchführung des Tests.
Die sich rasant entwickelnde Genomforschung wird möglicherweise einen Paradigmenwechsel in der Medizin – und somit auch in der Psychiatrie – einleiten: Das noch so subtile Krankheitsmanagement wird – zumindest in den reichen Industrienationen – mit großer Wahrscheinlichkeit von einer Präzisionsmedizin im Sinne einer personalisierten Intervention abgelöst werden. Krankheiten können schon im vorklinischen Stadium erkannt und verhindert werden. Die damit verbundenen ethischen Implikationen sind derzeit für die Psychiatrie und den psychisch kranken Menschen noch nicht abschätzbar.
Die Entwicklung der Molekularbiologie tendiert heute schon zu Individualisierung nicht nur der Diagnostik, sondern – in besonderem Ausmaße – auch der therapeutischen Interventionen. Dazu zählt auch die stereotaktische Implantation
entsprechend aufbereiteten Gewebes in definierte Zielregionen bei M.
Parkinson und bei der
Alzheimer-Demenz. Dieses Thema muss Gegenstand ethischer Diskussionen sein.
Die in diesem Zusammenhang sich ergebenden Probleme sind vielschichtig. Ein Beispiel möge angeführt werden: Da ein prädiktiver Test für das Risiko von Spätdyskinesien zur Verfügung gestellt worden war, der aber aufgrund von Marketingüberlegungen von der entwickelnden Firma nicht in den Handel gebracht wurde, warf Helmchen (
2005b) die Frage auf, ob nicht auch die pharmazeutische Industrie, die
Antipsychotika mit hohem Nebenwirkungsrisiko vermarktet, ethisch verpflichtet wäre, durch entsprechende vorbeugende Maßnahmen die betreffenden Risiken in der bestmöglichen Weise zu reduzieren. Darüber hinaus wäre es Aufgabe der Standesvertretungen, beim Gesetzgeber zu intervenieren, in solchen Fällen das Patentrecht zu reformieren.
Ethische Aspekte der populationsgenetischen Erhebungen
Die Ausrichtung von Public Health
ist per definitionem überindividuell, sie ist auf Bevölkerungsgruppen ausgerichtet. Können Public-Health-relevante Zielsetzungen aber ohne Einschränkung der Selbstbestimmung des Einzelnen umgesetzt werden? Die Genotypisierung von großen Patienten- und Bevölkerungsgruppen werden beispielsweise mit hoher Wahrscheinlichkeit die Entwicklung und die Implementierung konkreter präventiver Maßnahmen zur Folge haben. Demokratische Gesellschaften müssen folgedessen im Prozess der Entscheidungs- und Konsensfindung unterschiedliche Interessen bedenken, beispielsweise jene von Patienten und deren Ärzten, von Forschern und Gesundheitspolitikern, von Versicherungsgesellschaften und von Pensionsanstalten. Dies wirft gravierende ethische Probleme auf, wie beispielsweise das isländische nationale Datenbankgesetz
, das die Sammlung von Daten der gesamten Bevölkerung zum Ziel hatte, um die genetischen Ursachen vieler Erkrankungen zu erforschen. Dieses Forschungsprojekt, das auch psychiatrische Fragestellungen einschließt, hätte unter den Kriterien der Menschenrechtskonvention beurteilt werden müssen. Auch fällt es eindeutig unter die Richtlinien der Deklaration von Helsinki: alle in die Studie einbezogenen Isländer hätten als Probanden ihre informierte
Einwilligung zu dieser Studie abgeben müssen. Außerdem wäre ihnen die Gelegenheit einzuräumen gewesen, sich jederzeit aus der Studie zurückzuziehen. Das Projekt wurde jedoch als „Einrichtung einer
Datenbank für Zwecke der
Gesundheitspolitik und Verwaltung“ eingestuft: alle Ethik-relevanten Fragen wurden somit sträflicherweise auf Fragen der Vertraulichkeit und des
Datenschutzes reduziert (Roelcke und Maio
2004).
Sind die Konflikte zwischen individueller Autonomie und verpflichtender Verantwortung gegenüber dem Allgemeinwohl, beispielsweise bei medizinisch motivierten Screeningverfahren, aber lösbar? Nutzen und Risiken der Public-Health-Genetik sind nur langfristig, auf Grundlage von epidemiologischen und gesundheitsökonomischen Studien an großen Kohorten über mehr als eine Generation nachzuweisen. So stellen Paul und Ilkilic (
2007) die Frage:
Kann die Teilnahme an einem Screening-Verfahren, das die individuelle und die gesellschaftliche Gesundheit fördert, zur individuellen Pflicht erklärt werden? Sollte der Einzelne verpflichtet werden, die Daten, die bei solchen Verfahren generiert werden, für Proben- und Biodatenbanken zur Verfügung zu stellen? Die Teilnahme an solchen Screening-Verfahren sollte zu einem moralischen Imperativ erklärt werden, ohne dies in einen rechtlichen Zwang umwandeln zu wollen.
Ist aber ein Gesundheitspaternalismus
in einer wertpluralen Gesellschaft, die auf Freiheit und informierter
Einwilligung beruht, vertretbar?
Ethische Implikationen der tiefen Hirnstimulation
Die
tiefe Hirnstimulation (THS)
hat bei der Behandlung neurologischer Krankheitsbilder in den letzten Jahren immer mehr Anwendungsbereiche gefunden. Bei der Therapie von
Bewegungsstörungen nimmt sie einen revolutionierenden Stellenwert ein. Die THS zählt heute zu den Erfolg versprechenden Techniken der Neuromodulation. Schläpfer (
2007) definiert „Neuromodulation“ als
die Beeinflussung einer durch Krankheit veränderten Aktivität von Nervenzellverbänden und neuronalen Netzwerken durch technische Stimulationssysteme mit dem Ziel einer therapeutischen Wirkung. Bei ihr wird eine dünne
Elektrode in genau definierte Stellen des Gehirns implantiert, von denen bekannt ist, dass ihre krankhaft veränderte Nervenzellaktivität gewissen klinischen Symptomen (wie z. B. der Tremor bei der Parkinson'schen Erkrankung) zu Grunde liegt.
Die Behandlung psychiatrischer Erkrankungen mittels THS ist wenig erforscht: Sie hat derzeit immer noch experimentellen Charakter. Die bisherigen Anwendungen bei schwerstkranken Patienten mit
Zwangsstörungen und therapierefraktären Depressionen sowie behandlungsresistentem Tourettesyndrom
weisen auf positive Effekte hin und lassen die THS als eine Alternative zu neurochirurgischen Therapien erscheinen. Positive Ergebnisse wurden vereinzelt auch bei der Schizophreniebehandlung und bei der Therapie von Suchtverhalten verzeichnet, gleichwohl die Patientenstichprobe noch besonders gering ist.
Der exakte Wirkmechanismus erscheint noch weitgehend unbekannt. Die Nebenwirkungen sind umschrieben und zum Teil durch die jeweiligen Stimulationsparameter modulierbar. Zu bedenken ist ferner, dass mögliche Persönlichkeitsveränderungen ethisch gravierende Nebeneffekte darstellen können, selbst wenn diese ursprünglich als erwünschte Therapieziele angestrebt worden sind. Auch ermöglicht die derzeitige Studienlage noch keine Aussagen bezüglich längerfristiger Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur.
Bezüglich der ethischen Aspekte gilt es, mit Respekt die freie Entscheidung der Patienten uneingeschränkt zu akzeptieren und besondere Standards bei der Diagnostik, bei der Erstellung des Studienprotokolls und beim Einschluss in die Studie zu erfüllen.
Aufgrund der Tatsache, dass bislang Langzeitwirkungen der THS bei psychiatrischen Erkrankungen noch nicht schlüssig erfasst werden konnten und diese Technik von einigen Ethikkommissionen als Eingriff in die Persönlichkeit erachtet wird, darf die Anwendung derzeit ausschließlich unter sehr strenger, individueller Indikationsstellung und rigoroser Berücksichtigung ethischer Fragestellungen erfolgen.
In diesen Prozess ist auch die lokale Ethikkommission einzubinden. Auch sollte die Durchführung der THS bei psychiatrischen Erkrankungen auf wenige (europäische) Zentren beschränkt bleiben.
Die Implantation von
Elektroden zur
tiefen Hirnstimulation ist bei psychisch schwerstkranken Patienten ethisch aber dann zu rechtfertigen, wenn kein weniger invasives Verfahren zur Verwirklichung des Therapiezieles existiert. Sicherzustellen ist dann aber ein fairer Zugang zu dieser therapeutischen Methode.
Die Indikationsstellung muss nach gesundheitlichen Kriterien, nicht nach der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung des Patienten erfolgen. Stets muss aber bedacht werden, dass die
tiefe Hirnstimulation (THS) in der Psychiatrie noch als experimentelle Therapieform zu bezeichnen ist: Es besteht noch großer Forschungsbedarf.
Ethik und Allokationsproblematik
Schon 1994 stellte Honnefelder fest:
Die Menschheit steht vor einer Aufgabe, vor der sie in dieser Form noch nie gestanden hat, nämlich sich moralisch und rechtlich nicht nur auf die Begrenzung von Mitteln, sondern – wenigstens umrisshaft – auch auf die Bestimmung von Zielen zu verständigen, und dies im weltweiten Umfeld.
Das Problem der Allokation betrifft die Frage, wie knappe Mittel zuzuteilen sind, um einen bestmöglichen Nutzen zu erzielen. Das medizinische Allokationsproblem umfasst 2 Ebenen:
Bei der Finanzierung des Gesundheitssystems sind derzeit zunehmend finanzielle Restriktionen besonders im Bereich der Psychiatrie und
Psychotherapie zu beobachten. Da Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit definiert wird, ist Krankheit eine Deviation der natürlichen funktionalen Organisation eines Menschen. Als grundlegende Funktionen werden Überleben und Reproduktion erachtet. Folgedessen scheinen jene medizinischen Leistungen vorrangig zu sein, die die Gefahren für das biologische Leben beseitigen oder vorzubeugen in der Lage sind. Diese stark „biologistische“ Begründung der Allokation der finanziellen Mittel könnte die Gefahr in sich, bergen psychosoziale Unversehrtheit aus der Definition der Gesundheit zu streichen. Die Frage der Verteilungsgerechtigkeit
ist somit aktueller als je zuvor.
Das Solidarsystem beinhaltet aber, dass jeder, der eine medizinische Leistung benötigt, diese auch zu erhalten hat. In Wirklichkeit gilt im Gesundheitssystem die Regel, dass nur jene grundlegenden medizinischen Leistungen verordnet werden dürfen, die wesentlich für die Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit unter Bedachtnahme auf das Gebot der Wirtschaftlichkeit notwendig sind. Nach den entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen (beispielsweise in Deutschland das SozGBuch V) ist es nicht vorgesehen, dass jedermann zu allen medizinischen Leistungen gleichermaßen Zugang findet.
Die Kostenzunahme im Gesundheitssystem erklärt sich durch die Effizienz- und Leistungsausweitung in der Medizin sowie durch den Druck der den Markt beherrschenden Industrie. In den hoch industrialisierten Ländern sind die Gesundheitskosten in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen.
Ethische Aspekte der Freiheitsbeschränkung
Das Recht des Patienten auf individuelle Freiheit ist stets gegenüber der Sicherheit der Gesellschaft vor möglicher Bedrohung durch den Patienten abzuwägen, auch ist der Schutz des Patienten vor Selbstgefährdung unerlässlich: Es ist Aufgabe der Psychiatrie, den betroffenen psychisch Kranken vor seinen eigenen destruktiven Kräften zu schützen bzw. vor Übergriffen und Beeinträchtigungen Dritter zu bewahren. In der Tat legitimiert die Psychiatrie repressive Maßnahmen als Schutzfunktion, die zum Wohl des Patienten ausgeübt wird.
Eine Zwangsunterbringung stellt wie jede Freiheitsbeschränkung eines Menschen einen schwerwiegenden Eingriff in die individuellen Persönlichkeitsrechte dar. Diese Maßnahmen schränken das Recht der Person auf Bewegungsfreiheit ein und können – bei der Notwendigkeit einer Zwangsbehandlung – auch mit einer Einschränkung der Unversehrtheit der Person verbunden sein.
Um einem Bürger infolge einer psychischen Störung von Rechts wegen seine persönliche Freiheit zu entziehen, müssen 2 relevante Voraussetzungen bestehen:
5.
Gedanke der Fürsorge:
Einweisung und
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus im wohlverstandenen Interesse des Kranken oder
6.
Gedanke der Gefahrenabwehr: Einweisung und Unterbringung zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor den – tatsächlichen oder vermeintlichen – von einem psychisch Kranken ausgehenden Gefahren.
Das Kriterium der
Gefahrenabwehr kann infolge seiner Nähe zu strafrechtlichen Überlegungen im Gegensatz zum Fürsorgegedanken stehen, der die Einweisung und
Unterbringung eines psychisch Kranken v. a. als einen Hilfsakt für den Betroffenen sieht. Dem Kranken wird im ersten Fall im Interesse der Integrität der Gemeinschaft ein Sonderopfer zugemutet. Eine Zwangseinweisung ausschließlich im
Interesse der Fürsorge ist aber weder im österreichischen Recht noch in den deutschen Unterbringungsgesetzen vorgesehen. Der alleinige Fürsorgegedanke kommt nur in der italienischen und teilweise in der schweizerischen Rechtsordnung zum Tragen. Die zwangsweise Aufnahme in stationäre psychiatrische Einrichtungen ist in Deutschland durch die verschiedenen PsychKGs, in Österreich durch das Krankenanstaltengesetz (KAG) bzw. das Unterbringungsgesetz (UbG) geregelt.
Die amtsärztliche Einweisung, die gerichtliche
Unterbringung und körperliche Beschränkungen eines Patienten sind Zwangsmaßnahmen, die nur in Notsituationen eingesetzt werden dürfen. Die Selbstbestimmung der Patienten kann generell nur dort eingeschränkt werden, wo dies im Hinblick auf konkrete Gefahren eines Fehlverhaltens oder auf die Grenzen der Belastbarkeit Dritter unerlässlich ist.
Fixierung und andere Zwangsmaßnahmen
Freiheitsbeschränkungen sind stets als ultima ratio zu sehen. Sie dürfen nur dann angewendet werden, wenn alle Möglichkeiten der
Deeskalation fachkundig durch geschulte Mitarbeiter ergebnislos verlaufen sind. Notfallmäßige Zwangsmaßnahmen wie Freiheitsbeschränkungen jeglicher Art, Fixierungen und Isolierungen sind genauso wie psychopharmakologische Eingriffe exakt zu begründen und genau zu dokumentieren. Je nach Rechtslage müssen sie der jeweiligen Behörde angezeigt werden. Wird ein Patient durch Fixierungen
(beispielsweise durch das Anbinden an das Bett) in seiner Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt, muss sich eine Pflegeperson in unmittelbarer Nähe des Betroffenen aufhalten und für Gespräche und Hilfestellungen zur Verfügung stehen. Die Fixierung hat möglichst schonend zu erfolgen. Spätestens nach Beendigung der Beschränkung bzw. bei Besserung der psychopathologischen Situation müssen den Betroffenen die Gründe der Maßnahme verständlich und nachvollziehbar erklärt werden. Auf eine Akzeptanz dieser als notwendig erachteten Bewegungsbeschränkung ist hinzuarbeiten.
In definierten Situationen sind Psychiater auch verpflichtet, Zwangsmaßnahmen anzuwenden, wenn sie ethischen Normen gerecht werden wollen: Im Unterschied zu anderen medizinischen Disziplinen müssen sie in seltenen Fällen auf repressive, paternalistische Vorgangsweisen zurückgreifen. Diese werden durch die Tatsache legitimiert, dass von Depression,
Wahn oder Zwang befreite Patienten in der Regel den von ihren Therapeuten kurzfristig getroffenen Maßnahmen der Bewegungseinschränkung im Nachhinein zustimmen können. Die psychische Erkrankung stellt in dieser Sichtweise den Verlust der Autonomie dar. Der Verzicht auf Zwang kann auch einer Unterlassung von lebensnotwendigen Hilfestellungen entsprechen. In diesem Kontext dient der mutmaßliche Wille der gesunden Person als Grundlage für die stellvertretende Entscheidung des Psychiaters. Als Beispiel mögen die Maßnahmen gelten, die der Suizidvorbeugung im Rahmen einer psychischen Krise oder psychiatrischen Erkrankung dienen. Dasselbe gilt auch bei schwerer Gefährdung der eigenen Sicherheit oder jener Dritter beim Vorliegen einer organisch begründbaren psychischen Störung oder einer schizophrenen oder
affektiven Psychose. In den genannten Fällen macht sich der Psychiater nicht schuldig, wenn er Zwangsmaßnahmen anwendet, sondern dann, wenn er diese unterlässt.
Die Häufigkeit von Zwangsmaßnahmen korreliert einerseits mit der Selektion bzw. der psychiatrischen Symptomatik der Patienten, die die betreffende Klinik aufzunehmen verpflichtet ist, andererseits aber auch mit hausinternen Variablen wie Zahl der Pflegepersonen pro Patient und Ausstattung und Größe der Abteilung. Ein weiterer Faktor liegt im Ausbildungsstand der Mitarbeiter begründet: Alle in psychiatrischen Einrichtungen Tätige sind in regelmäßigen Abständen in geeigneten Deeskalationsseminaren zu schulen, um einen möglichst gewaltfreien Umgang auch mit Akutkranken zu garantieren.
Werden vom Krankenhausträger die erwähnten Maßnahmen nicht getroffen, hat dieser die dadurch bedingten Zwangsmaßnahmen zu verantworten und moralisch zu rechtfertigen. Der leitende Arzt hat die Verpflichtung, öffentlich auf die Behebung der Missstände hinzuweisen: Das Grundrecht des Freiheitsanspruches wird immer wieder und in zunehmendem Ausmaße verletzt, weil für die familiäre und institutionelle Betreuung keine ausreichenden finanziellen und persönlichen Ressourcen zur Verfügung stehen. Dies gilt nicht nur für Psychiatrische Kliniken und Krankenhausabteilungen, sondern auch für Heimstrukturen, für die rechtliche Rahmenbedingungen derzeit vielfach noch fehlen bzw. erst jüngstens erlassen worden sind. Für unethische Verhaltensweisen, die der Psychiatrie vorgeworfen werden, trägt somit häufig der Träger des Krankenhauses oder des Heimes bzw. die Gesellschaft die Verantwortung.
Die Deklaration von Madrid 1996 hält fest, dass gegen den Willen des Patienten keine Behandlung durchgeführt werden soll, es sei denn, dass die Vorenthaltung der Behandlung das Leben des Patienten oder anderer Personen in seiner Umgebung gefährden würde. Die Behandlung muss immer im besten Interesse des Patienten sein.
Ethische Aspekte der Patientenverfügung
Immer mehr Menschen streben nach Einfluss auf die Umstände und die Art ihres Lebensendes und zeigen sich beunruhigt, dass sie in schwerer Krankheit angesichts des drohenden Todes wegen einer Bewusstlosigkeit, eines komatösen Zustandes oder einer schweren
Demenz ihr Recht auf Selbstbestimmung nicht mehr ausüben könnten und infolgedessen nicht mehr in der Lage sind, sich gegen unerwünschte lebensverlängernde Behandlungen bzw. invasive medizinische Maßnahmen zur Wehr zu setzen. Diese Sorge hat in vielen Industrienationen zur Einführung der „Patientenverfügung“ geführt, in der eine mündige, selbstbestimmte Person Anordnungen über die Art der medizinischen Betreuung bei lebensbedrohlichen und/oder schweren Krisen trifft, sofern sie zum betreffenden Zeitpunkt die Geschäftsfähigkeit nicht mehr besitzen sollte. Diese Patientenverfügungen berücksichtigen aber in einzelnen Ländern zu wenig, dass sich Werthaltungen, Einstellungen und Motive eines Menschen während des Lebens und ganz besonders im Alter unter dem Eindruck eines schweren Leidens verändern.
Ethik und Suizid
Die
Selbsttötung, der
Suizid, ist die nur dem Menschen mögliche gewaltsame Vernichtung des eigenen Lebens. Die
Suizidalität kann sich durch indirekte und direkte selbstdestruktive Verhaltensweisen
äußern. Menschen mit direktem selbstdestruktivem Verhalten streben den Tod bewusst und zu einem definierten Zeitpunkt an.
Direktes selbstdestruktives Verhalten ist sehr häufig Ausdruck einer schweren psychiatrischen Störung, oft einer Depression, einer schizophrenen Psychose oder einer Abhängigkeitserkrankung.
Indirektes selbstdestruktives Verhalten hat nicht bewusst den Tod zum Ziel, wenngleich es letal enden kann. Das indirekte selbstdestruktive Verhalten äußert sich beispielsweise durch Noncompliance, süchtiges Verhalten, artifizielle Verletzungen, besonders risikoreiche Tätigkeiten oder den regelmäßigen Wunsch nach chirurgischen Interventionen. Das indirekte selbstdestruktive Verhalten erstreckt sich über lange Zeiträume und mündet durch die Selbstzerstörungstendenz häufig doch in den Tod.
Der in der deutschen Sprache oft verwendete Begriff „Freitod“ ist in den allermeisten Fällen nicht zutreffend, da bei fast jeder Selbsttötungshandlung
eine psychische Störung oder eine Krise als Hintergrund nachzuweisen ist, die dieser Handlung den Charakter der freien Entscheidung nimmt. Demgegenüber steht die
Bilanzselbsttötung: Dieser Begriff drückt aus, dass ein psychisch Gesunder über sein Leben Bilanz zieht, ein Weiterleben als nicht zielführend erachtet und seinem Leben somit aus freiem Willen ein Ende bereitet. Eine genaue Analyse der Bilanzsuizide lässt diese als sehr selten erscheinen: Eine detaillierte Erhebung der Hintergründe deckt häufig auch bei vielen sehr nüchtern und rational begründeten Entscheidungen zum
Suizid eine depressive Symptomatik, eine Abhängigkeitserkrankung oder eine narzisstische Kränkung auf.
Die
allgemeine Ethik des Suizids ist von den speziellen
medizinethischen Fragestellungen zu unterscheiden: Erstere geht der speziellen ärztlichen Problematik voraus. Die allgemeine Ethik des
Suizids beschäftigt sich mit den Fragen nach der Erlaubtheit und Zulässigkeit der Selbsttötung.
Der überwiegende Teil der großen Weltreligionen und verschiedene Morallehren sprechen dem Menschen die Berechtigung, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, ab. Für Aurelius Augustinus beispielsweise ist
Suizid ein Verstoß gegen das Gebot „Du sollst nicht töten“, denn „Wer sich tötet, tötet auch einen Menschen“. Für Diderot ist Suizid aber nicht nur ein Verstoß gegen die Natur, sondern auch gegen die Gesellschaft bzw. gegen den implizit mit der Gesellschaft geschlossenen Vertrag (Hinterhuber
2005).
Demgegenüber sahen viele Philosophen, von Seneca bis Nietzsche, in der Selbsttötung eine anstrebenswerte Haltung. Jean Améry (
1976, S. 33 u. 43) verband sein Plädoyer für den
Suizid mit einer harschen Kritik am ärztlichen Handeln: „Wer abspringt ist nicht notwendigerweise dem Wahnsinn verfallen, ist nicht einmal unter allen Umständen gestört oder verstört. Der Hang zum Freitod ist keine Krankheit, von der man geheilt werden muss, wie von den
Masern (…). Der Freitod ist ein Privileg des Humanen.“
Ethische Aspekte der Sterbehilfe
Dem Menschen ist der Wunsch nach einem guten Tod (Euthanasia) zu eigen: Eine menschlich einfühlsame
Sterbebegleitung ist ein moralisches Gebot, dem sich sowohl die Angehörigen als auch die betreuenden Ärzte nicht entziehen können. Dies beinhaltet die Verpflichtung, Schmerzen, Leid und Not zu mindern. Darüber hinaus empfinden aber immer mehr Menschen es als ihr Recht, selbstbestimmt den Zeitpunkt des Todes zu wählen: Viele erleben in einer schweren
depressiven Episode, nach einer traumatisierenden Situation bzw. im Rahmen einer schizophrenen Psychose oder bei
chronischen Schmerzen, im Alter und bei schweren Erkrankungen ihr Leben als unerträglich. Die Einleitung einer aktiven, kausalen Therapie und entsprechende Unterstützungsmaßnahmen sind in diesen Fällen vordringliches Gebot. Da weder ein Recht auf
Suizid besteht, noch ein Recht der Beihilfe zum Suizid, kann somit grundsätzlich auch kein Arzt zur Suizidbeihilfe verpflichtet werden.
Die gesetzlichen Regelungen sind in unterschiedlichen Ländern divergent:
In Deutschland gibt es (Stand 2015) kein spezifisches Gesetz, welches das Sterben durch
Sterbehilfe bei unheilbaren Krankheiten regelt, auch wenn sich der 66. Deutsche Juristentag am 20.9.2006 mit großer Mehrheit dafür ausgesprochen hat. Der Bundesgerichtshof hat in einem Grundsatzurteil vom 25.6.2010 das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gestärkt, das sowohl das Unterlassen lebenserhaltender Maßnahmen als auch die aktive Beendigung einer nicht mehr gewollten Behandlung inkludiert. Das Berufsrecht der Mediziner wurde folgedessen am 21.1.2011 durch neue „Grundsätze der
Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“ angepasst: am darauffolgenden Deutschen Ärztetag wurden diese „Grundsätze“ heftig diskutiert.
Beihilfe zur Selbsttötung (assistierter
Suizid) ist in Deutschland legal, wenn der Betroffene das Mittel selbst einnimmt.
In Österreich ist die aktive
Sterbehilfe genauso wie die Tötung auf Verlangen oder die Mitwirkung an
Suizid verboten.
In der Schweiz ist ebenfalls die aktive
Sterbehilfe untersagt, die Beihilfe zur Selbsttötung ist nur dann legal, wenn keine selbstsüchtigen Beweggründe vorliegen. In der Eidgenossenschaft sind zwei Vereine in der „Freitodbegleitung“ aktiv.
Die Niederlande (seit 2001), Belgien (seit 2002) und Luxemburg (seit 2009) haben die aktive
Sterbehilfe unter bestimmten Vorgaben legalisiert. In den Niederlanden ist die Sterbehilfe seit 2013 selbst bei todkranken Kindern legal. Belgien lässt die aktive Sterbehilfe seit 2014 auch für todkranke Kinder und Jugendliche unter 18 Jahre zu.
Für die weitere Erörterung sind klare Begriffsbestimmungen notwendig:
Passive Euthanasie
Wird ein möglichst gelingendes Sterben angestrebt und vom Sterbenden nur menschliche Nähe und Begleitung gewünscht, ohne dass lebensverlängernde Maßnahmen ergriffen werden, wird von passiver Euthanasie gesprochen. Der Patient hat ein Recht auf lebenserhaltende Maßnahmen zu verzichten: Somit kann ein Arzt verpflichtet werden, bestimmte medizinische Maßnahmen nicht anzuwenden.
Die passive Euthanasie kann freiwillig, nicht freiwillig oder unfreiwillig sein.
Aktive Euthanasie
Ähnlich wie die passive kann auch die aktive Euthanasie eingeteilt werden: Hier unterscheiden wir ebenfalls zwischen aktiver Euthanasie bei Freiwilligkeit, bei Nichtfreiwilligkeit und bei Unfreiwilligkeit.
Beihilfe zum Suizid
Verzichtet ein Mensch unter Berufung auf seine Selbstbestimmung auf sein Lebensrecht und bittet einen anderen um aktive Mithilfe zu seiner Selbsttötungshandlung, ergeben sich schwierige und ethisch wie juristisch komplexe Fragestellungen. Die Beihilfe zur Suizidhandlung steht in einem fließenden Übergang zur aktiven Euthanasie bei Freiwilligkeit. Der Wunsch nach Hilfe zum
Suizid tangiert ethische Grundpositionen: Eine zentrale Forderung des Zusammenlebens gründet in der Sicherheit, sich einander nicht zu töten. Die Deutsche Rechtssprechung verneint aber einen Strafbestand, dieser wird erst bei der Tötung auf Verlangen gesehen (§ 216 StGB). Bis zu welchem Punkt hat aber der Arzt dem Begehren des Patienten zu folgen? Der Arzt muss das Anliegen des Patienten respektieren, ohne sich aber auch zum Vollstrecker des
Patientenwillens zu machen. Nach der „Deklaration von Madrid“ (
1996) des Weltverbandes für Psychiatrie (WPA), ist die erste und wichtigste Pflicht des Arztes die Förderung der Gesundheit, Linderung des Leidens und der Schutz des Lebens. Diesbezüglich stellt die Deklaration fest (zit. nach Shiffman und Helmchen
1998):
Der Psychiater sollte sich dessen bewusst sein, dass die Ansichten eines Patienten durch eine psychische Erkrankung, wie beispielsweise eine Depression, verzerrt sein können. In solchen Situationen ist es die Aufgabe des Psychiaters, die Krankheit zu behandeln.
Auch wenn gerade die deutschsprachige Psychiatrie durch die grauenvollen Erfahrungen der nationalsozialistischen Medizin in Bezug auf Euthanasie und
Sterbehilfe einen hohen Grad der ethischen
Reflexion aufweist, sind permanente Bemühungen zu ethischer Orientierung notwendig. Der Schutz vor Fehlverhalten ist aber nur dann möglich, wenn Psychiater nicht nur für ethische Fragen stark sensibilisiert sind, sondern auch eine entsprechende Ausbildung erfahren. Auch hat sich die psychiatrische Ethik unter Beachtung der allgemeinen medizinischen Ethik zu positionieren.
Überlegungen zur Palliativmedizin
Die Betreuung von Schwerkranken in der letzten Lebensphase stellt höchste Anforderungen an alle Beteiligten: Am Lebensende werden Patienten aber sehr häufig nicht palliativ, psychologisch und/oder spirituell betreut, sondern erfahren trotz des unmittelbar bevorstehenden Todes noch aufwändige und intensive therapeutische Maßnahmen. Obwohl bezüglich der Übertherapie ein ausgeprägtes Problembewusstsein besteht, tun sich gerade Ärzte sehr schwer, auch bei Sterbenden eine Therapiebegrenzung
zuzulassen. Beim betreuenden Personal führt die Wahrnehmung nutzloser Interventionen zu einem moralischen Distress, der in ein Burn-out-Syndrom einmünden kann (Schleger et al.
2008).
Die Palliativmedizin dient – der WHO-Definition entsprechend – der Verbesserung der
Lebensqualität von Patienten und ihrer Angehörigen, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert sind. Dies geschieht durch Vorbeugung und Linderung von Leiden mittels frühzeitiger Erkennung, sowie durch hoch qualifizierte Beurteilung und Behandlung von Schmerzen und anderen Problemen physischer, psychosozialer und spiritueller Natur.
Wesentlich sind darüber hinaus eine umfassende (ganzheitliche) Begleitung und Betreuung schwerkranker Patienten und deren Familien in der letzten Lebensphase. Palliativmedizin ist aber nicht eine auf die Sterbephase orientierte Maßnahme, sie beginnt vielmehr schon bei der Mitteilung der Diagnose der in absehbarer Zeit zum Tode führenden Erkrankung. Sie beschäftigt sich heute nicht nur mit einer optimalen
Schmerztherapie, sie berücksichtigt in gleichem Ausmaß auch die Vielzahl anderer Beschwerden und Leidenszustände, die das Leben Schwerstkranker belasten.
Die Hospizbewegung und die Palliativmedizin haben in vielen Ländern eine große Akzeptanz gefunden und erfahren die Unterstützung weiter Kreise der Gesellschaft. Die Forderungen nach einem würdevollen Sterben und die demografische Entwicklung müssen zu einem weiteren Ausbau der Palliativmedizin führen. Alle in Palliativstationen oder in mobilen palliativen Diensten tätigen Mitarbeiter benötigen berufsbegleitende Fortbildungsprogramme, Supervisionsangebote und – fallweise – eine psychologische Begleitung. Darüber hinaus sollten sie die Möglichkeit ergreifen können, jederzeit auch einen klinischen Ethikkreis zu konsultieren.
Spezielle ethische Aspekte in der forensischen Psychiatrie
Im psychiatrisch-forensischen Bereich (Kap. Forensische Psychiatrie) bestehen Spannungen zwischen der berufsethischen Identität des Psychiaters und den Ansprüchen der Gesellschaft. Besonders in der forensischen Gutachtertätigkeit muss die Gefahr reflektiert werden, die Sphären von Justiz und Medizin zu vermengen.
Der psychisch Kranke hat aufgrund möglicher Einschränkungen der Dispositions- und Diskriminierungsfähigkeit im Fall eines – krankheitsbezogenen – Deliktes ein Recht, vor Bestrafung bewahrt zu werden. Demgegenüber steht aber das Recht der Gesellschaft vor Delinquenz und Bedrohung, die von psychisch Kranken ausgehen kann, geschützt zu sein. Der forensisch tätige Psychiater muss sich stets vergegenwärtigen, für die eine oder andere Sichtweise bzw. Interessenslage instrumentalisiert zu werden. Die
forensische Psychiatrie steht somit besonders im Spannungsfeld ethischer Diskussionen, da der Gerichtspsychiater einerseits dem Wohl der Patienten verpflichtet ist, er andererseits als Berater staatlicher Einrichtungen oft auch einen Standpunkt einnehmen muss, der den individuellen Interessen der Patientinnen und Patienten übergeordnet sein kann. Bei wohl begründetem Verdacht der Gefährdung des Lebens Dritter oder der öffentlichen Sicherheit hat jeder Arzt die Pflicht zu deren Verhinderung alle nötigen Schritte einzuleiten.
Spezielle ethische Aspekte in der Suchtmedizin
Unterschiedliche Bedingungskonstellationen führen zum
Alkoholismus, zum Drogenkonsum oder zur
Medikamentenabhängigkeit, obgleich es verschiedentlich Überschneidungen gibt. Der Konsum von psychotropen Substanzen variiert in den verschiedenen Subgruppen der Bevölkerung. Insgesamt resultieren daraus psychische, soziale und körperliche Beeinträchtigungen, häufig aber auch delinquentes Verhalten. Die Komorbidität mit
psychischen Störungen ist sehr groß. All dies erklärt, dass Psychiater im Umgang mit suchtkranken Menschen eine zentrale Rolle einnehmen: Daraus resultiert auch eine besondere Verantwortung.
Obwohl süchtiges Verhalten schon seit mehr als 60 Jahren als Erkrankung anerkannt ist, gelten Abhängigkeitserkrankungen vielfach immer noch als moralisches Versagen oder als Mangel an Selbstdisziplin. „Schuld“ ist in dieser Betrachtungsweise entweder die Erziehung oder das soziale Milieu, in dem der Betroffene aufgewachsen ist oder das ihn geprägt hat. Ein weiterer Standpunkt betont – oft sehr fatalistisch – eine biologische Fehlsteuerung oder eine psychologische Fehlentwicklung. Ein Suchtverständnis, das nur Leidens- und Krankheitszustände kennt, greift zu eng: Hinter der Abhängigkeit steht in der Regel ein Bedürfnis nach Erregung, Spannung und Machtgefühl. Neben dem Krankhaften sind häufig auch Bedürfnisse zu sehen, die keine adäquaten Wege zu ihrer Befriedigung gefunden haben (Uchtenhagen
1999). Dies erklärt die fehlende Einsicht und die mangelnde Behandlungsbereitschaft einer großen Zahl von Suchtkranken: Betroffene benötigen oft viele Rückschläge und Gefährdungen, um notwendige Therapien anzunehmen und sich dem Problem zu stellen. In dieser sich über Jahre erstreckenden Situation besteht die Gefahr, dass sich betreuende Ärzte frustriert zurückziehen: Es gehört zur besonderen Verantwortung des Psychiaters, Suchtkranke auf ihrem Weg zu begleiten und zu unterstützen, oft auch unter Anwendung von subtilen Druckmaßnahmen. Wenn dem einzelnen Suchtkranken auch die Fähigkeit fehlt, sein Verhalten zu reflektieren und zu verändern, hat dieser ein unabdingbares Recht auf adäquate Therapie aller Störungen, ob sie aus dem Suchtverhalten resultieren oder nicht. Es gehört zum ethischen Selbstverständnis des Arztes, dass auch bei bestehender Abhängigkeit die Behandlung des Suchtkranken nach bestem Wissen und Gewissen zu erfolgen hat. Es ist jedoch ethisch gerechtfertigt, die Verhältnismäßigkeit von therapeutischen Maßnahmen zu erörtern.
Die Gefährdung Dritter ist genau zu beachten, sie wiegt schwerer als allfällige Einschränkungen des Patienten selbst. Stets sind die Entscheidungen klar und transparent allen Betroffenen zu vermitteln.
Es ist jedenfalls für einen Arzt unethisch, sich aus wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Überlegungen aus der Begleitung und Behandlung von Suchtkranken zurückzuziehen.
Spezielle ethische Aspekte in der Gerontopsychiatrie
Betagte und hochbetagte Menschen wollen nach Möglichkeit ihr eigenes Leben gestalten. Mangelt es ihnen diesbezüglich an körperlicher oder intellektueller Leistungskraft, benötigen sie andere, die ihnen mit Verständnis, Zuwendung und Verbundenheit hilfreich zur Seite stehen: Die Gesellschaft muss Menschen, die durch normale oder krankhafte Alterungsprozesse in ihrer Selbstständigkeit beeinträchtigt sind, ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen. Altenheime und gerontopsychiatrische Stationen haben diesbezüglich eine große Aufgabe: Alle Mitarbeiter müssen dazu beitragen, eine gute Atmosphäre im Haus zu verbreiten sowie den Pfleglingen Geborgenheit, Verständnis und Sinn zu vermitteln. Dadurch kann die
Lebensqualität in der Institution verbessert werden. Der Träger des Heimes muss allen Betreuenden auch die nötige Zeit einräumen, die für eine ganzheitliche Betreuung betagter Heimbewohner notwendig ist, selbst wenn keine messbaren Resultate vorgelegt werden können.
Ethische Fragen im Alter und in der Alterspsychiatrie sind weit gestreut, sie reichen vom Freiheitsanspruch und der Selbstbestimmung des Patienten zu gemeindepsychiatrischen Konzepten, von Problemen der
Psychotherapie und
Psychopharmakotherapie zur Medikation gegen den Willen. Sie betreffen die Unterlassung lebensverlängernder Behandlungsmaßnahmen bei
Demenzen und schließlich den „Tod auf Verlangen“ und den Psychiater-assistierten
Suizid sowie Allokationsfragen bzw. die Limitierung ärztlicher Leistungen bei chronischen Erkrankungen im Alter.
Für alte Menschen müssen insbesondere folgende ethische Postulate gelten:
-
Vor Eintritt in ein Altenheim sollen alle Möglichkeiten häuslicher Hilfeleistung ausgeschöpft sein: Ziel der sozialen sowie sozialpsychiatrischen Maßnahmen muss es sein, auch unselbstständig gewordenen älteren Menschen ein Weiterleben in der vertrauten Umgebung zu ermöglichen. Um dies zu gewährleisten, sind sowohl ambulante als auch mobil-aufsuchende Dienste notwendig.
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Ein Ausbau von Tagespflegeeinrichtungen und von Angeboten der Kurzzeitpflege ist erforderlich, um auch Berufstätigen die häusliche Pflege ihrer Angehörigen zu ermöglichen bzw. sie vorübergehend zu entlasten. Bei Verschlechterung der Erkrankung und/oder erschwerter Betreuungssituation sind adäquate Heimplätze in ausreichender Zahl zur Verfügung zu stellen.
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Die erforderlichen Behandlungs- und Betreuungsangebote müssen sowohl flächendeckend als auch gemeindenah angeboten werden.
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Im Rahmen ihrer verbliebenen Ressourcen sollen Heimbewohner über sich selbst bestimmen sowie auch Risiken und Verantwortung übernehmen können. Im günstigsten Fall soll ihnen auch ermöglicht werden, das Altenheim wieder zu verlassen.
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Entsprechend ihren kognitiven Leistungen sind Bewohner von Altenheimen grundsätzlich (oder nach Möglichkeit) in hausinterne Entscheidungsprozesse einzubinden. Sie sollen auch ein Beschwerderecht besitzen, ohne Repressalien befürchten zu müssen.
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Um Vereinsamung und Rückzugstendenzen zu vermeiden, sind die Altenheimbewohner zu unterstützen, Kontakte innerhalb und außerhalb der Heimstruktur zu knüpfen.
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Verbliebene Aktivitäten sind zu fördern: Der alte Mensch ist zu aktiver Betätigung anzuhalten. Pflegebedürftige Heimbewohner sind nach den Kriterien der aktivierenden Pflege zu betreuen.
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Heimbewohnern ist im Falle einer Erkrankung unverzüglich adäquate Diagnostik, Therapie und Rehabilitation zu gewähren. Nach Möglichkeit soll dies durch einen Arzt ihrer Wahl in Absprache mit der Heimleitung erfolgen. Der Zugang zu den Behandlungs- und Betreuungsangeboten muss unabhängig vom sozialen Status für alle in gleichem Ausmaß gewährleistet sein.
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Allen Heimbewohnern muss die Gelegenheit zu religiöser Betätigung geboten werden.
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In der letzten Lebensphase haben Altenheimbewohner das Recht auf würdevoller
Sterbebegleitung.
Altenheimbewohner haben aber auch Pflichten: Die Bedürfnisse und die Eigenheiten anderer Bewohner sind zu berücksichtigen und die Bemühungen des Pflegepersonals zu unterstützen. Das Pflegepersonal hat das Recht, überzogene Forderungen abzulehnen.
Die öffentliche Hand hat Aufsichts- und Kontrollverpflichtungen: Jede Einrichtung muss in unregelmäßigen Abständen überprüft werden, um die Leitung auf Mängel der Hygiene, der Ernährung, der medizinischen und zahnmedizinischen Pflege sowie der Unterkunft und Betreuung hinzuweisen und deren Behebung zu fordern. Der Gesellschaft obliegt die moralische Verantwortung; betreuende Ärzte haben auf Defizite öffentlich hinzuweisen.
Ethische Aspekte der künstlichen Ernährung und Flüssigkeitssubstitution am Lebensende
Die Ernährung und das
Stillen des Durstes sind Grundbedürfnisse des Menschen. Sie verbinden darüber hinaus symbolhaft Patienten und ihre Pflegepersonen. Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr sind aber auch unverzichtbare Teile einer adäquaten medizinischen Behandlung. Verliert ein Mensch die Fähigkeit, ausreichend Nahrung zu sich zu nehmen oder bestehen Hinweise auf eine Mangelstörung sind ernährungstherapeutische Maßnahmen notwendig. Ist erkrankungsbedingt die orale Nahrungsaufnahme
beeinträchtigt oder verunmöglicht, kann im Rahmen einer ärztlichen Maßnahme eine Sonde
gelegt werden: Diese darf jedoch niemals gesetzt werden, um den Pflegeaufwand zu verringern. Entsprechend der unterschiedlichen Zugänge wird von einer nasogastralen Sonde, einer perkutan-endoskopischen Gastrostomie (PEG) und einer perkutan-endoskopischen Jejunostomie (PEJ) gesprochen. Die Indikation für eine Sondenernährung
ist in entsprechenden Zeitabständen zu überprüfen: Besteht beispielsweise im Sterbeprozess die Indikation nicht mehr, ist es Aufgabe des Arztes, Alternativen zur Behandlung unter Einschluss der Beendigung der Sondenernährung zu ergreifen. Diese und alle obengenannten Entscheidungen sind den Angehörigen, den Betreuern oder den Sachwaltern nachvollziehbar mitzuteilen bzw. mit diesen abzustimmen.
Das eigenmächtige Anlegen einer PEG durch den Arzt ist rechtswidrig, da eine künstliche Ernährung – außer im Intensivbereich – nicht als Notfallbehandlung gesehen wird.
Der Alterssuizid
Immer mehr alte Menschen sterben durch
Suizid. Gründe dafür liegen in der Vereinsamung
, in der berechtigten oder supponierten Furcht vor einschränkenden Erkrankungen und in der Angst vor Abhängigkeit und langer
Pflegebedürftigkeit.
In der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und der Schweiz weisen Männer der Altersgruppe 80–85 die höchste Suizidrate auf. Was sich aber nach außen hin als frei gewählte Entscheidung darstellt, kann – nach Lauter (
1993)
auch aus dem starken Erwartungsdruck einer Leistungsgesellschaft resultieren, die den alten, gebrechlichen und unproduktiven Menschen durch Rollenentzug, unterlassene Hilfeleistung, Ausrangieren, Gettobildung oder Altenexport und andere Formen schleichender Euthanasie aus der gemeinsamen Lebenswelt ausschließt und ein soziales Todesurteil über ihn verhängt.
Viele behinderte und betagte Menschen wünschen, ihren Angehörigen nicht zur Last zu fallen, und lehnen infolgedessen eine langdauernde Pflege ab. Solche Wünsche sind aber gesellschaftlich manipulierbar und können leicht zur Aufforderung umgemünzt werden, sich beim Auftreten einer chronischen Behinderung zu suizidieren. Das unterstellte eigene Verlangen nach Lebensbeendigung entlarvt sich häufig als das Verlangen Dritter (Lauter
1993). Alte, suizidgefährdete Menschen benötigen Hilfen in den verschiedensten Bereichen und auf den unterschiedlichsten Ebenen.
Es wird in der Zukunft eine wesentliche Aufgabe der Psychiater sein, die Bevölkerung und die politischen Entscheidungsträger für diese ethische Herausforderung zu sensibilisieren (Abschn.
4).
Ethische Aspekte in der psychosozialen Rehabilitation
Die
psychiatrische Rehabilitation berücksichtigt die Stärken der Betroffenen, sie lässt diese aktiv mitbestimmen und hilft ihnen, ihr Potenzial in Hinblick auf Partizipation
und Lebensgestaltung
zu erweitern und ein größtmögliches Maß an Inklusion und Gesundheit zu erreichen.
Unter Gesundheit wird im gesellschaftsorientierten, kommunitaristischen Diskurs die Fähigkeit eines jeden Mitglieds der Gesellschaft verstanden, angemessen am sozialen Leben teilzunehmen. Gesundheit ist immer die Balance zwischen dem, was eine Person (ein Patient) für erstrebenswert hält (philosophisch gesprochen, für ein „Gut“ erachtet), und dem, was er in der Tat erreichen kann. Die Bedeutung von Gesundheit variiert auf der Basis dieser weit gefassten Definition in Bezug auf unterschiedliche Individuen sehr stark. Sie ist immer abhängig von den individuellen Präferenzen und Zielen bzw. von der Fähigkeit des Einzelnen, diese sich vorzustellen, zu formulieren und umzusetzen.
Aus den Menschenrechten kann abgeleitet werden, dass vonseiten der Gesellschaft sicherzustellen ist, dass psychisch Kranken ein gleichberechtigter Zugang zu den üblichen Lebensbereichen, eine adäquate Teilhabe am sozialen Leben sowie eine weitgehend unabhängige und selbst gewählte Lebensführung möglich sind. Psychisch Kranke haben somit ein unabdingbares Recht auf bestmögliche medizinische, soziale und berufliche Rehabilitation (2003b). Die Forderung nach Chancengleichheit wird häufig aber durch Stigmatisierung und Diskriminierung, denen Menschen mit psychischen Erkrankungen in hohem Maße ausgesetzt sind, behindert.
Jeder psychisch Kranke und jede Person, die von Behinderung bedroht ist, hat ein Recht auf Hilfe, die notwendig ist, um
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die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu bessern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern und
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ihm einen seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Platz in der Gemeinschaft, insbesondere im Arbeitsleben, zu sichern.
Ein zentrales Anliegen der
psychiatrischen Rehabilitation ist, zwischen dem „objektiven“ Nutzen von Behandlungszielen und Therapiemaßnahmen aus Sicht des Therapeuten einerseits und deren subjektivem Sinn für den Patienten in Bezug auf seine Ziele andererseits zu vermitteln. Psychiatrische Rehabilitation ist nicht aber nur dann anzubieten, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit der Wiedereingliederung in die gesellschaftlichen Bezüge zu erwarten ist (Hinterhuber
2007).
Die
UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13.12.2006, beschlossen im Jahr 2008, verspricht „die volle und gleichberechtigte Ausübung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten“ und sich für die Achtung ihrer angeborenen Würde einzusetzen (Art. 1). Der Katalog von Grundforderungen (Art. 3) umfasst folgende Punkte:
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Achtung der menschlichen Würde und seiner Selbstbestimmung (einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen),
-
Nichtdiskriminierung,
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volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft,
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Respekt für die Diversität der Menschheit,
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Chancengleichheit u. a. m..
Zusammenfassend propagiert die Konvention die Forderung nach
Inklusion, worunter die selbstverständliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an allen gesellschaftlichen Bereichen verstanden wird. Mit Inklusion verbunden ist auch „das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit in einem offenen, (…) und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei wählen zu können“. Menschen mit
psychischen Störungen fallen selbstverständlich in den Geltungsbereich dieser Konvention, die in den nationalen Bereichen erstmals auch ein Monitoring-Gremium zur Einhaltung der Bestimmungen vorsieht (Art. 33/2).
Ethik und Lifestyle: Ethische Probleme des Neuroenhancement
Neuroenhancement
wird definiert als Summe der Möglichkeiten, die zu Verbesserungen der kognitiven Leistungsfähigkeit oder psychischen Befindlichkeit führen, mit denen keine therapeutischen oder präventiven Absichten verfolgt werden und die pharmakologische oder neurotechnische Mittel nutzen (etwa „Gedächtnis-Chips“ oder „Hirnschrittmacher“). Der Begriff „Neuroenhancement“ wird primär wertfrei aber beschönigend gegenüber dem zutreffenden, aber negativ besetzten Begriff „Hirndoping“ verwendet. Die moderne Gesellschaftsstruktur verlangt vom Einzelnen immer höhere Leistungen. In der liberalen Gesellschaft wird zunehmend die Forderung erhoben, dass das freie und selbstbestimmte Individuum alles unternehmen könne, ja unter bestimmten Umständen unternehmen müsse, um sich selbst zu perfektionieren und sich auch pharmakologisch zu optimieren. Galert et al. (
2009) vertreten die Ansicht, dass es keine überzeugenden grundsätzlichen Einwände gegen eine pharmakologische „Verbesserung“ des Gehirns oder der Psyche gesunder Menschen gäbe: Im pharmazeutischen Neuroenhancement wird die Fortsetzung eines zum Menschen gehörenden geistigen Optimierungsstrebens mit anderen Mitteln gesehen. Als Neuroenhancer gelten folgende Medikamente:
Eine Erhebung der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) geht davon aus, dass 2 % der Beschäftigten zwischen 20 und 50 Jahren ihre Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz mittels psychotroper Substanzen beeinflussen.
Führende US-Wissenschaftler (Greely et al.
2008) fordern – angeblich um die Chancengleichheit respektiert zu wissen – einen „verantwortungsvollen Umgang mit Neuroenhancern“: die Substanzen müssen aber nicht nur sicher sein, sondern jedem Menschen in gleichem Maße zugänglich sein. Gleichzeitig muss gesichert sein, dass niemand, etwa durch den Arbeitgeber, zur Einnahme gezwungen werden dürfe. Dabei wird selbst die Frage aufgeworfen, ob es nicht ethisch unverantwortlich wäre, solche Substanzen beispielsweise von einem Chirurgen nicht anwenden zu lassen, wenn er dadurch konzentrierter arbeiten, weniger Fehler begehen und dadurch mehr Leben retten könnte. Im oben erwähnten, in „Gehirn und Geist“ publizierten Memorandum schlossen sich deutsche Wissenschaftler (Galert et al.
2009) diesen Forderungen an: Jeder Mensch besitze das Recht, über sein persönliches Wohlergehen, seinen Körper und seine Psyche zu bestimmen.
Helmchen (
2005b) stellte folgende Fragen: „Sind die ethischen Implikationen kognitiver Verstärkung nicht mindestens so gravierend wie jene des somatischen Dopings im Sport?“ Darüber hinaus ist vieles noch ungeklärt:
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Verstärkt sich dadurch nicht die soziale Ungleichheit?
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Müssen (oder: dürfen) die Krankenkassen die Kosten für Neuroenhancement übernehmen, da die Finanzierungssysteme doch auf der Solidarität im Falle von Krankheit und Not beruhen?
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Sind sie verpflichtet, bestehende Fähigkeiten von Gesunden zu optimieren?
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Ist es zu verantworten, den Menschen an die Umwelt anzupassen, muss nicht die Umwelt dem Menschen dienen?
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Soll (muss) diesbezüglich die Forschung an Gesunden gefördert werden?
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Wie müssten die Zulassungsbestimmungen definiert werden?
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Müssten wegen der Chancengleichheit nicht allen Menschen, auch in der Schwangerschaft, bei psychischen Problemen oder bei Bluthochdruck Neuroenhancer verordnet werden können?
Zusammenfassend muss gesagt werden, dass der Wirkmechanismus der „Brainbusters“ bei Gesunden noch nicht bekannt ist. Einige der genannten Substanzen steigern nicht die Denkleistungen, sondern führen zu einer Überschätzung der kognitiven Fähigkeiten. Darüber hinaus gibt es derzeit noch keine gesicherten Daten bezüglich der psychischen, physischen und soziokulturellen Langzeitfolgen des pharmakologischen Neuroenhancement. Keinesfalls sind die Fragen bezüglich der möglichen Entwicklung von Abhängigkeit oder vorzeitiger kognitiver Alterung geklärt.
Alle diese Themenbereiche beinhalten weitreichende ethische Implikationen für die zukünftige Psychiatrie. Auch ist es nicht einzusehen, warum das Doping im Sport weiterhin verboten bleibt, während das Hirndoping unter dem Namen „kognitives Enhancement“ oder „Brainbuster“ liberalisiert werden sollte. Beim heutigen Stand der Forschung müssen Psychiater dagegen warnend ihre Stimme erheben.
Bemerkungen zum Schluss
Die Öffentlichkeit und die Berufsgruppe der Psychiater zeigen heute eine große Sensibilität gegenüber den ethischen Problemkreisen in der Psychiatrie: Die ethischen Anforderungen an die Psychiatrie und die psychiatrische Forschung gehören zu den brisanten Themenbereichen unserer Gesellschaft.
Wo liegen aber die Grenzen in der Freiheit des Forschens sowie in der Freiheit des mündigen Bürgers? Wo liegen die Grenzen des technischen Fortschritts und der finanziellen Möglichkeiten der Gesellschaft, in ein humanes Gesundheitssystem zu investieren? Wie groß ist die Bereitschaft der Öffentlichkeit, sich der Gesundheit und der sozialen Probleme von alten Menschen und von Randgruppenangehörigen anzunehmen? Wie sind die Probleme der Globalisierung sowie des Pluralismus der westlichen Gesellschaft zu bewältigen? Wie ist die Autonomie des Patienten zu gewichten? Wo beginnt die Manipulation des Menschen? In Zukunft wird die ethische Diskussion auch unterschiedliche neurotechnische Maßnahmen einschließen, die heute bereits in experimentellen Studien erprobt werden, wie die Aktivierung neuronaler Stammzellen zur Neurogenese, die Implantation neuronalen Gewebes, die
tiefe Hirnstimulation sowie die sich durch Computer-Gehirn-Schnittstellen ergebende Problematik. Alle die genannten Eingriffe, insbesondere aber jene mit lang anhaltender Wirkung oder solche, die das sich entwickelnde Gehirn betreffen, können Fragen des Missbrauchs sowie der persönlichen Identität u. v. a. m. betreffen.
Die sich entfaltende Instrumentalisierung des eigenen Körpers ist ein fundamentales ethisches Problem, da sie das zugrunde liegende Menschenbild ebenso in Frage stellt, wie ihre Finanzierung durch das Solidarsystem der Krankenversicherten (Helmchen
2005b).
Ethische Fragestellungen in der Medizin – und somit auch in der Psychiatrie – haben immer eine globale Dimension. Körperliche und
psychische Gesundheit ist ein fundamentales Menschenrecht
.
In den westlichen Staaten hat sich die Gesundheitsindustrie zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor entwickelt, der höchste medizinische Leistungen garantiert. Demgegenüber können Entwicklungs- und Schwellenländer ihren Bewohnern selbst elementare Vorsorge- und Therapiemöglichkeiten nicht zur Verfügung stellen. Die Industrienationen tragen diesbezüglich eine große Verantwortung: Die wirtschaftliche Globalisierung muss auch zu einer globalen Ethik führen. Die Gesundheitsprobleme in den Entwicklungsländern, die fortbestehenden Ungleichheiten sowie die alternde Bevölkerung mit zunehmenden chronischen Erkrankungen stellen in der Zukunft weltweit große ethische Herausforderungen dar.
Die Psychiatrie ist aufgefordert, die wachsende Wahrnehmung von Menschen- und Bürgerrechten genauso zu reflektieren, wie die Vorstellungen von menschlicher Würde, Freiheit und Selbstbestimmung (auch wenn letztere durch psychiatrische Erkrankungen oft auch eingeschränkt bzw. aufgehoben ist). Ziel ist eine weitere Humanisierung der Vorsorge- und Betreuungssysteme.
Die Vermittlung ethischer Grundhaltungen muss während des Medizinstudiums und der Facharztausbildung vertieft werden. Das Aufzeigen und Besprechen ausgewählter Problemfelder der psychiatrischen Ethik ist auch für die Entwicklung der beruflichen Identität künftiger Ärzte und Fachärzte – und darüber hinaus des ärztlichen Berufsstandes – von fundamentaler Bedeutung. Der ethisch reflektierende und handelnde Arzt muss sich bemühen, moralische Probleme zu gewichten: Damit er diese mit der nötigen Sensibilität wahrnehmen kann, ist es unerlässlich, dass er seine Wachsamkeit schärft.