Schwangerschaft/Entbindung und psychische Erkrankung
Entgegen früherer Auffassung schützt eine Schwangerschaft nicht vor dem erstmaligen bzw. erneuten Auftreten einer psychischen Störung, auch wenn diese Wahrscheinlichkeit im Vergleich zur postpartalen Zeit deutlich geringer ist (Kap.
Frauenspezifische psychische Störungen in der Psychiatrie; Di Florio et al.
2013; Jones et al.
2014). Die wiederholte Beratung einer Patientin zum Thema sichere Kontrazeption
sollte deshalb bei psychisch kranken Frauen im gebärfähigen Alter routinemäßig zur Behandlung gehören. Besonders gefährdet, ein schweres postpartales Rezidiv zu erleiden, sind Frauen mit bipolarer Störung in der Vorgeschichte (Viguera et al.
2007; Munk-Olsen et al.
2009; Di Florio et al.
2013; Jones et al.
2014).
Zur Vermeidung ungeplanter Schwangerschaften und einer vielleicht unnötigen bzw. ungünstigen Exposition des Embryos sollte eine suffiziente Kontrazeption regelmäßiges Thema in der psychiatrischen Behandlung sein. Eine enge Kooperation mit dem behandelnden Frauenarzt hilft bei der Umsetzung. „Sichere“ Methoden, wie etwa die Verwendung einer „Spirale“ oder einer 3-Monats-Spritze, sind anderen Methoden (v. a. der „Pille“, die ja sehr verlässlich täglich eingenommen werden muss) vorzuziehen. Eine „Kompromisslösung“ könnte die Verwendung eines Verhütungsrings sein, da an diesen nur alle 4 Wochen gedacht werden muss.
Wenn eine Frau erstmals in der Schwangerschaft oder nach der Entbindung erkrankt oder wenn sie bei vorher bestehender Störung in der Schwangerschaft bzw. nach der Entbindung ein Krankheitsrezidiv erleidet, stellt sich die Frage einer Behandlung mit
Psychopharmaka. Frauen, die ihre Schwangerschaft planen, kommen mit entsprechenden Fragen zum behandelnden Psychiater. Müssen sie die Medikation absetzen, auf ein anderes Medikament umstellen, welche Risiken bestehen für das ungeborene Kind und wie hoch ist ihr Risiko, durch die Schwangerschaft erneut zu erkranken?
Vor dem Hintergrund des Contergan-Skandals
Anfang der 1960er-Jahre, bei dem nach der Gabe eines vermeintlich nebenwirkungsfreien Schlafmittels in der Schwangerschaft mehrere tausend Kinder mit schweren körperlichen Fehlbildungen geboren wurden, gibt es nachvollziehbare Zurückhaltung und Ängste bezüglich einer Medikation in der Schwangerschaft. Allerdings müssen solche Befürchtungen und Sorgen um die Gesundheit der Kinder bzw. der möglichen Folgen für das Kind im Rahmen einer individuellen Nutzen-Risiko-Abwägung
sorgfältig gegenüber den möglichen Krankheitsfolgen für Mutter und Kind bei unbehandelter Erkrankung abgewogen werden. Vorschnelles Handeln (z. B. abruptes Absetzen oder Umstellen der Medikation) ist in der Regel angesichts der verfügbaren Informationen zu Arzneimitteln nicht angebracht. Auch darf der
Kinderwunsch der Frau bzw. des Paares nicht einfach autoritär beiseitegeschoben werden; apodiktische Äußerungen vonseiten der Ärzte bei der Beratung von psychisch kranken Frauen und ihren Partnern („Sie dürfen mit Medikamenten nicht schwanger werden“) lösen nicht das Problem und entsprechen auch nicht dem heutigen Behandlungsleitbild der Einbeziehung autonomer Patienten in den Behandlungsprozess und dem Prinzip der partizipativen Entscheidungsfindung (s. auch Abschn.
2).
Ebenso wie andere Frauen können psychisch kranke Frauen einen starken und in der Regel auch „gesunden“ Wunsch nach Gründung einer Familie haben. Auch bei psychisch kranken Frauen kann ein
unerfüllter Kinderwunsch eine erhebliche psychische Belastung mit sich bringen, vielleicht sogar bis hin zur dadurch bedingten Verschlimmerung der Grunderkrankung. Nach unserer eigenen Erfahrung haben gerade Frauen, die eine Schwangerschaft planen und sich im Vorfeld mit den möglichen Risiken beschäftigen, gegenüber dem gewünschten Kind ein hohes Verantwortungsgefühl.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Natürlich würde man sich eine Schwangerschaft ohne Medikamenteneinfluss wünschen, zumal ja letzten Endes die möglichen Auswirkungen nicht in jeder Hinsicht eingeschätzt werden können. Aber nicht immer ist dies realisierbar und nicht selten vergehen mit Absetzversuchen, Auftreten eines Rezidivs, Neueinstellung der Medikation und mehrfacher Wiederholung dieses Kreislaufs mehrere für die Patientin und ihre Familie sehr belastende Jahre, was bei der Nutzen-Risiko-Abwägung berücksichtigt werden muss. Und um es ganz deutlich zu sagen: Auch im Kontext von
Kinderwunsch und Schwangerschaft dürfen die üblichen Regeln einer Behandlung bzw. Prophylaxe für rezidivierende psychische Erkrankungen nicht einfach außer Acht gelassen werden.
Auch wenn die Familienplanung noch kein Thema ist, sollte bei einer Patientin im gebärfähigen Alter bereits bei der Planung der längerfristigen Medikation die Möglichkeit einer späteren Schwangerschaft in die Überlegungen einbezogen werden, um möglichst nicht eines Tages umstellen zu müssen. Dies gilt insbesondere für
bipolare Störungen, die im Kontext von Schwangerschaft und Geburt im Vergleich mit anderen
psychischen Störungen ein besonders hohes Rezidivrisiko
haben und bei denen es ohne wirksame Prophylaxe zu schwersten Krankheitsphasen kommen kann.
Bei den verschiedenen Konstellationen und Entscheidungshintergründen im Zusammenhang mit
Kinderwunsch, Schwangerschaft und Entbindung ist nach Erfahrung der Autoren besonderes Augenmerk auf das peripartale Management
zu richten. Dazu gehören beispielsweise die Vorplanung der Entbindung und die Optimierung anderer relevanter Aspekte, die zur Verhinderung eines postpartalen Krankheitsrezidivs beitragen könnten (wie etwa Stressreduktion, psychosoziale Unterstützung sowie die konkrete Vorplanung der Medikation prä-, intra- und postpartal, s. unten).
Die hier gegebenen Informationen sollen ein allgemeines Verständnis für die Betreuung einer Frau in der speziellen Situation von Schwangerschaft und Stillzeit geben, ersetzen aber nicht die weiterführende Information und die sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung in jedem Einzelfall.
Geplante Schwangerschaft bei psychischer Erkrankung
Plant eine Patientin mit psychischer Erkrankung eine Schwangerschaft, so wird sie sich wahrscheinlich bei ihrem Psychiater erkundigen, ob wegen der geplanten Schwangerschaft das Absetzen der
Psychopharmaka vorübergehend möglich und sinnvoll ist. Eine solche Entscheidung bedarf immer einer individuellen Bewertung, wobei neben der allgemeinen Rezidivgefahr unbedingt die Krankheitsanamnese berücksichtigt werden muss (z. B. frühere Erfahrungen mit dem Absetzen einer Medikation, Auslösefaktoren neuer Krankheitsepisoden wie Stress, Hinweise auf Empfindlichkeit bei hormonellen Umstellungen wie etwa ein ausgeprägtes
prämenstruelles Syndrom).
Auch wenn sie nur Empfehlungscharakter haben, sind die
Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften und insbesondere der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und
Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) für solche Entscheidungen durchaus hilfreich. In den letzten Jahren wurden die Leitlinien für fast alle Störungsbilder um konkrete Hinweise für den Umgang mit Schwangerschaft bzw.
Kinderwunsch erweitert (s. Abschn.
2).
Es gibt zwei Konstellationen, bei denen eine Umstellung der Medikation auf jeden Fall sehr ernsthaft bedacht werden muss, nämlich zum einen, wenn die Patientin auf Valproinsäure eingestellt ist (s. unten) und zum anderen, wenn eine Polypharmakotherapie erfolgt. In solchen Fällen sollte sehr kritisch geprüft werden, ob in einem vorsichtigen Umstellungsprozess die Reduktion auf eine Monotherapie oder zumindest nur zwei Substanzen möglich ist. Allerdings zeigt die Lebensrealität, dass auch das nicht immer möglich ist und sich dann die Waage der Nutzen-Risiko-Abwägung (Auswirkungen eines Krankheitsrezidivs vs. eventuelle Auswirkungen der Polytherapie) klar in Richtung Fortführung der bewährten Medikation neigt. Letzen Endes muss die Patientin gemeinsam mit ihrem Partner in einem solchen Falle die Entscheidung treffen. Sie benötigt allerdings für diese Entscheidung sachgerechte und aktuelle Informationen und es liegt nach Ansicht der Autoren in der Verantwortung der behandelnden Ärzte, diese als Entscheidungsbasis zur Verfügung zu stellen.
Bei Monotherapie ist die Entscheidung in der Regel relativ einfach: Bei relevantem Rezidivrisiko ist unter Nutzen-Risiko-Abwägung die Weiterbehandlung während der Schwangerschaft eindeutig sinnvoller als das Absetzen der Medikation mit dem hohen Risiko einer erneuten Erkrankung während der Schwangerschaft mit vielfältigen negativen Auswirkungen (z. B. Notwendigkeit höherer Dosierung und/oder Polypharmakotherapie, verstärkter Nikotin- oder Alkoholkonsum, Mangelernährung, Schlafmangel, Auswirkungen produktiv-psychotischer Symptome, erheblicher Stress durch die Erkrankung).
Die niedrigstmögliche Dosis der Erhaltungstherapie
(„So wenig wie möglich, aber so viel wie nötig“) wird in solchen Fällen folglich weit weniger schädlich für das Kind sein als die Symptome und Auswirkungen, denen es durch die psychische Erkrankung der Mutter und den dadurch resultierenden Stress ausgesetzt wäre (Davis und Sandman
2010; Rice et al.
2010). Nicht zu vernachlässigen ist auch die Belastung für die Patientin durch eine erneute Krankheitsepisode und einen dadurch vielleicht erforderlichen Aufenthalt in der Psychiatrie – in einer Zeit, die sie und ihre Familie sich ganz anders gewünscht hätten. Last but not least stellt sich die Frage, ob sich nicht durch ein möglicherweise vermeidbares Rezidiv (hätte man die Medikation nicht abgesetzt oder umgestellt) auch die Gesamtprognose der Patientin verschlechtert.
Im Einzelfall könnte es sinnvoll sein, von einem noch sehr neuen Präparat auf ein Medikament umzustellen, dass viele Jahre oder sogar Jahrzehnte im Handel ist und unter dem bereits ausreichend viele unkomplizierte Schwangerschaften dokumentiert wurden. Allerdings sollten solche Umstellungen
nur mit äußerster Zurückhaltung vorgenommen werden („Never change a winning team“). Letzten Endes hat wohl jeder Psychiater schon die Erfahrung gemacht, dass ähnliche Wirkstoffe noch lange nicht die gleiche Wirkung erzielen oder ein vergleichbares Nebenwirkungsspektrum haben. Die bis heute noch geläufige Umstellung von einem atypischen Neuroleptikum auf das „klassische Haloperidol“ sollte der Vergangenheit angehören (s. auch Abschn.
2).
Schließlich sollte im psychiatrischen Gespräch der Alkohol- und Nikotinkonsum
im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft thematisiert werden und die Frauen sind über entsprechende Unterstützungsangebote zu Lebensstiländerungen zu informieren (s. Abschn.
2).
Probleme bei ungeplanter Schwangerschaft und psychischer Erkrankung
Für jede Frau stellt eine ungeplante Schwangerschaft
eine Herausforderung dar; dies wird noch deutlicher bei einer psychisch kranken Frau. Wie auch sonst bei ungeplanten Schwangerschaften wird sich für die Frau zunächst die Frage stellen, ob sie die Schwangerschaft überhaupt fortführen möchte oder ob ein
Schwangerschaftsabbruch für sie die bessere Lösung ist (s. unten). Bei ungeplanter Schwangerschaft
kommen in der Regel bei der Patientin und ihrem Umfeld Ängste auf, dass das Kind durch die eingenommenen Medikamente möglicherweise bereits geschädigt wurde. Oftmals resultiert aus der plötzlichen und unerwarteten Feststellung der Schwangerschaft der Wunsch bzw. Impuls der betroffenen Patientin, ihre Medikamente abzusetzen – weil sie ihrem Kind nicht schaden möchte. Nicht selten wird dieser Wunsch durch die Empfehlung vonseiten des behandelnden Psychiaters zur sofortigen Beendigung bzw. Umstellung der Medikation verstärkt, auch wenn diese Empfehlung sich bei besonnener Betrachtung und differenzierter Nutzen-Risiko-Abwägung, aber v. a. bei Berücksichtigung psychiatrischer Behandlungsprinzipien als nicht sinnvoll erweist
. Solche Reaktionen und Entscheidungen haben im Übrigen in den meisten Fällen kaum noch Konsequenzen für die Entwicklung des ungeborenen Kindes, da eine ungeplante Schwangerschaft meist erst um die 8. Schwangerschaftswoche oder später festgestellt wird und dann wesentliche Entwicklungsschritte der Organogenese bereits abgeschlossen sind (s. Abschn.
3.1). Abgesehen davon wird in der Regel auch nicht berücksichtigt, dass für die meisten in der Psychiatrie verwendeten Medikamente (praktisch alle
Antipsychotika und
Antidepressiva) keine substanziellen Hinweise auf teratogene Auswirkungen vorliegen (s. Abschn.
4).
Bei Feststellung einer Schwangerschaft entspricht das unvermittelte Absetzen bzw. Umstellen der Medikation nicht mehr den geltenden Behandlungsleitlinien. Es ist nicht lege artis, die werdende Mutter dadurch der Gefahr einer Destabilisierung ihres psychischen Zustands mit evtl. schweren Auswirkungen für ihre Gesamtprognose auszusetzen.
Arzneimitteltherapie des Vaters
Es gibt derzeit wenige gezielte Untersuchungen über etwaige Auswirkungen einer medikamentösen Therapie des Vaters auf das werdende Kind. Denkbar sind Einflüsse auf die Spermatogenese oder direkt auf die Spermatozoen. Am ehesten würden diese bei der Konzeption und beim Erhalt der Schwangerschaft in den ersten Wochen zum Tragen kommen. Theoretisch denkbar sind medikamentös bedingte chromosomale oder mutagene Abweichungen. Bislang gibt es jedoch keine Fallberichte, die klinisch manifeste Störungen der Kindsentwicklung durch eine Therapie des Vaters belegen. Allerdings kann die Erkrankung des Vaters insofern von Bedeutung sein, dass für ihn die Schwangerschaft seiner Partnerin und seine bevorstehende Vaterschaft zur Destabilisierung führen können. Und wenn beide zukünftigen Eltern psychisch krank sind, führt dies zu besonderen Herausforderungen hinsichtlich psychiatrischer und psychosozialer Unterstützung in der Schwangerschaft und Postpartalzeit.
Auswirkungen der Erkrankung der Mutter auf die Entwicklung des Kindes
Die unzureichend behandelte psychische Erkrankung der Mutter kann Auswirkungen
auf das (ungeborene) Kind haben. Zeskind und Stephens (
2004) diskutieren in ihrer Übersichtsarbeit, dass bei Kindern depressiv erkrankter Mütter, unabhängig von einer Medikation, Geburtskomplikationen häufiger auftreten, die Reifung des fetalen Herzrhythmus verzögert erfolgt, der neonatale Kortisol- und Norepinephrinspiegel erhöht und das Schlafverhalten gestört ist. Für einen Zusammenhang zwischen pränatalem Stress und späteren psychischen Problemen bei den Kindern (vermittelt über einen erhöhten Kortisolspiegel in der Schwangerschaft) gibt es mittlerweile eine Reihe von Hinweisen (Davis und Sandman
2010; Rice et al.
2010; Howard et al.
2014).
In den frühen Lebensjahren ist eine intakte Mutter-Kind-Beziehung von besonderer Bedeutung. Aus diesem Grunde sollten lange Krankheitsphasen und stationäre Aufenthalte
der Mutter wenn irgend möglich vermieden werden. Dies zeigen u. a. Untersuchungen zu den Auswirkungen einer postpartalen Depression
auf die Mutter-Kind-Bindung und dadurch indirekt auf die Entwicklung des Kindes (Brockington
2004; Ramchandani et al.
2008; Figueiredeo et al.
2009; Murray et al.
2011; LeTourneau et al.
2013). Die Nutzen-Risiko-Abwägung in Bezug auf eine medikamentöse Therapie der Mutter sollte auch diesen Aspekt immer berücksichtigen.
Was sagen die Leitlinien?
Ziel
medizinischer Leitlinien ist es, Entscheidungen in der medizinischen Versorgung auf eine rationale Basis zu stellen, unter Abwägung von Nutzen und Schaden das Vorgehen der Wahl zu definieren und nicht zuletzt auch die Stellung des Patienten als Partner im Entscheidungsprozess zu stärken. Anders als Richtlinien sind Leitlinien nicht rechtsverbindlich. Sie haben den Charakter von Orientierungshilfen im Sinne von Handlungs- und Entscheidungskorridoren, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann oder sogar muss AWMF, ÄZQ (
2001).
Hinweis: Die Auffassung der Autoren dieses Kapitels stimmt nicht immer mit den Angaben der Leitlinien überein, sie sehen es aber dennoch als ihre Aufgabe, diese zu zitieren.
Die Entwicklung von Leitlinien für Diagnostik und Therapie wird durch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) koordiniert und elektronisch kostenfrei im Volltext publiziert (
www.awmf-leitlinien.de. Zugegriffen am 01.08.2016; auch über die Fachgesellschaften, z. B. die DGPPN:
www.dgppn.de. Zugegriffen am 01.08.2016). Nicht zuletzt von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) wurde kritisiert, dass Verfasser von Leitlinien
aufgrund ihrer Industriekontakte beeinflussbar sein könnten. Leitlinienempfehlungen zum Einsatz bestimmter Medikamente müssen unter diesem Aspekt kritisch gelesen werden (Schott et al.
2013). Eine Offenlegung potenzieller Interessenkonflikte bei den Verfassern von Leitlinien ist inzwischen obligatorisch.
Für spezielle Therapiesituationen wie die Schwangerschaft, für die randomisierte Studien u. a. aus ethischen Gründen nicht infrage kommen, werden in den aktuellen Leitlinien zu Schwangerschaft und Stillzeit in der Mehrzahl Empfehlungen nach klinischem Konsens (KKP = Klinischer Konsenspunkt, Expertenkonsens) oder Statements (bei fehlender Evidenz und/oder Forschungsbedarf) formuliert.
Alle bisher aktualisierten S3-Leitlinien zu den großen psychiatrischen Krankheitsbildern, von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und
Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in Zusammenarbeit mit Fachgesellschaften herausgegeben, beinhalten mittlerweile auch Empfehlungen zur peripartalen Therapie psychischer Erkrankungen. Neben krankheitsübergreifenden allgemeinen Prinzipien (Nutzen-Risiko-Abwägung, Monotherapie, partizipative Entscheidungsfindung, Hinweise zum Umgang mit Patientin und Partner, Dokumentation etc. siehe Box unten: „Allgemeine Prinzipien für Schwangerschaft und Stillzeit“) sind konkrete Empfehlungen zu einzelnen Medikamenten, spezifischen Psychotherapien und alternativen Strategien zur Behandlung
psychischer Störungen in Schwangerschaft und Stillzeit formuliert.
Spezielle Krankheitsbilder
Schizophrenie
Die S3-Behandlungsleitlinie
Schizophrenie aus dem Jahr 2006 (DGPPN
2006) ist Ende 2010 abgelaufen und zur Überarbeitung neu angemeldet als Nationale Versorgungsleitlinie (AWMF-Reg.Nr.: nvl-010, geplant für 2017). Damit wird neben der unipolaren Depression eine zweite psychische Erkrankung unter den Nationalen Versorgungsleitlinien zu finden sein.
Bipolare Störung
Die S3-Leitlinie zur Bipolaren Störung
von 2012 (DGPPN und DGBS
2012) konstatiert, dass eine psychopharmakologische Behandlung von Frauen mit bipolarer Störung
im gebärfähigen Alter sowie in Schwangerschaft und Stillzeit bis auf Ausnahmefälle nötig ist und eine komplexe Herausforderung darstellt. Bei schwerer bipolar affektiver Erkrankung werde eine durchgehende pharmakologische Behandlung in Schwangerschaft und Stillzeit häufig notwendig, um nicht nur das Rückfallrisiko, sondern auch die Krankheitsschwere bei der Mutter zu vermindern. Oft könnten Sicherheit der Mutter und des ungeborenen Kindes sowie die
Versorgung des neugeborenen Kindes durch die Mutter nach der Geburt nur mittels dauerhafter medikamentöser Intervention gewährleistet werden. Eine Nutzen-Risiko-Analyse müsse für jeden Einzelfall neu erfolgen und neben detaillierter Aufklärung der bisher bekannten Risiken auch mögliche langfristige Folgen bei der Einnahme psychotroper Substanzen in der Schwangerschaft beinhalten.
Behandlungsprinzipien in Schwangerschaft und Stillzeit (gemäß S3-Leitlinie Diagnostik und Therapie Bipolarer Störungen, 2012)
Unipolare Depression in der Schwangerschaft und postpartal
S3-Leitlinie Unipolare Depression, DGPPN 2015
Fast gleichlautende allgemeine und spezielle Empfehlungen werden in der 2015 neu herausgegeben S3-Leitlinie Unipolare Depression (DGPPN et al.
2015)
, gleichzeitig Nationale Versorgungsleitlinie (was bedeutet, dass dazu u. a. auch eine Patientenfassung zur Verfügung steht), formuliert.
-
Psychopharmaka sollten nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung unter Berücksichtigung der individuellen Vorgeschichte und Präferenz der betroffenen Frauen gegeben werden:
-
möglichst als Monotherapie,
-
in niedrigstmöglicher Dosierung,
-
unter Berücksichtigung evtl. fluktuierender Plasmaspiegel durch die Schwangerschaft,
-
ggf. mit Durchführung eines „Drug Monitoring“,
-
kein abruptes Absetzen der Medikation.
-
Wegen möglicher
Anpassungsstörungen des Neugeborenen
(zentralnervös, gastrointestinal, respiratorisch) sollte die Entbindung in einer Klinik mit angeschlossener Neonatologie stattfinden.
-
Eine Ultraschall-Feindiagnostik in der 20. SSW wird empfohlen. Mögliche Konsequenzen der
Pränataldiagnostik sollten vorher mit der Patientin und ggf. ihrem Partner erörtert werden.
-
Bei Sertralin und Citalopram besteht kein erhöhtes Risiko von Fehlbildungen (Mittel der ersten Wahl).
-
Bei Paroxetin und
Fluoxetin besteht ein geringfügig erhöhtes Fehlbildungsrisiko (keine
Antidepressiva der ersten Wahl).
-
Lithium:
-
Bei
geplanter Schwangerschaft sollte keine Neueinstellung auf
Lithium vorgenommen werden. Bei der Behandlung ist auf ein möglicherweise erhöhtes Fehlbildungsrisiko und postpartale Komplikationen hinzuweisen.
-
Bei eingetretener Schwangerschaft sollte die Entscheidung über die Fortführung der Medikation mit der Patientin gemeinsam getroffen werden, unter Berücksichtigung der individuellen Vorgeschichte.
-
Mögliche Verschiebungen im
Wasserhaushalt sind zu beachten, häufige Kontrollen des Lithiumspiegels
durchzuführen.
-
Mehrere Einzeldosen pro Tag sollten verabreicht werden.
-
Die Möglichkeiten psychotherapeutischer und psychosozialer Interventionen sind auszunutzen.
-
Elektrokrampftherapie (EKT) kann bei schwerer behandlungsresistenter Depression angeboten werden.
-
Körperliche Maßnahmen sollten zur Reduktion depressiver Symptome empfohlen werden.
Angststörungen
In der S3-Leitlinie zur Behandlung von
Angststörungen 2014
(Bandelow et al.
2014) werden ähnliche Hinweise zur Aufklärung und Nutzen-Risko-Abwägung gegeben wie oben in den allgemeinen Hinweisen der S3-Leitlinie zu den
bipolaren Störungen bereits referiert.
-
Es wird auf die Bedeutung der Psychotherapie hingewiesen.
-
SSRI und
Trizyklika gelten als relativ sicher (Frühgeburtsrisiko, mögliche
Anpassungsstörungen beim Neugeborenen, evtl. erhöhtes Fehlbildungrisiko unter
Paroxetin).
-
Benzodiazepine: Unter Berücksichtigung des bestehenden Abhängigkeitspotenzials wird die Einnahme von Diazepam und Chlordiazepoxid als sicher bewertet, Alprazolam soll vermieden werden.
-
Es sei nicht gerechtfertigt, Müttern bei der Einnahme von Trizyklika (Ausnahme
Doxepin) oder SSRI (Ausnahme
Fluoxetin) vom
Stillen abzuraten. Säuglinge sollten hinsichtlich unerwünschter Wirkungen sorgfältig überwacht werden.
Zwangsstörungen
In der S3-Leitlinie zu
Zwangsstörungen 2013 (DGPPN
2013)
wird explizit darauf hingewiesen, dass in Schwangerschaft und Postpartalzeit ein erhöhtes Prävalenzrisiko besteht.
Abhängigkeitserkrankungen
In der S3-Leitlinie zu
Screening, Diagnose und Behandlung
alkoholbezogener Störungen
2015 (DG-Sucht und DGPPN
2015a) wird wegen der zusätzlichen Gefährdung des ungeborenen Kindes empfohlen, schwangere Frauen mit alkoholbezogenen Störungen besonders zu berücksichtigen. Vorrangig seien die Vermeidung von Folgeschäden, die Motivation zur Veränderung des Konsumverhaltens und eine Anbindung an das Suchthilfesystem zur Sicherstellung erforderlicher Behandlungsmaßnahmen. Die Vermittlung in eine qualifizierte Entgiftungseinrichtung sollte baldmöglichst erfolgen. Zum akuten Alkoholentzug sind bei schwangeren Frauen bevorzugt
Benzodiazepine (statt
Clomethiazol) einzusetzen.
Rauchende Schwangere sind nach S3-Leitlinie zu
Screening, Diagnostik und Behandlung des schädlichen und abhängigen Tabakkonsums 2015 (DG-Sucht und DGPPN
2015b) als eine der bedeutsamsten Hochrisikogruppen zu betrachten, da pränatale Tabakexposition nach Studienlage einen eklatanten Vulnerabilitätsfaktor für die Gesundheit des Kindes darstellt.
Rauchen in der Schwangerschaft ist mit einer deutlich erhöhten Rate von Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen,
Reifungsstörungen bzw. verzögerter Entwicklung, somatischen Erkrankungen in der Kindheit (und im Erwachsenenalter) und
psychischen Störungen verbunden.
Psychotherapeutische Verfahren zur Entwöhnung sind in jedem Stadium der Schwangerschaft zu empfehlen. Arzneimittel zur Tabakentwöhnung sollten nicht angeboten werden, in begründeten Ausnahmefällen jedoch ggf. Nikotinersatzpräparate.
Zum Umgang mit Drogenabhängigkeit gibt es derzeit keine S3- oder DGPPN-Leitlinien.
Bewertung der Teratogenität/Fetotoxizität von Psychopharmaka
Nicht selten werden die Risiken, die exogene Faktoren – insbesondere Arzneimittel – auf die embryonale Entwicklung haben, zu hoch eingeschätzt. Prinzipiell sind die Ursachen für angeborene Fehlbildungen nur in wenigen Prozent bei exogenen Einflüssen wie Arzneimitteln oder anderen Chemikalien zu suchen (Tab.
1). Bei den meisten teratogenen Substanzen führt die Anwendung in der Frühschwangerschaft maximal zur Verdopplung des Fehlbildungsrisikos – dessen
Prävalenz etwa 3 % beträgt.
Tab. 1
Ursachen angeborener Entwicklungsstörungen des Menschen in Prozent. (Nach Schaefer et al.
2015)
Monogenetische und chromosomale Anomalien | | 15–25 |
Anatomische Faktoren | Uterusanomalien | Bis 3 |
Zwillingsschwangerschaften |
Oligohydramnion |
Chemische und physikalische Ursachen | Arzneimittel | 2–4 |
Drogen (insbesondere Alkohol) |
Hyperthermie |
Ionisierende Strahlung |
Schadstoffe |
Mütterliche Erkrankungen | Diabetes mellitus (unzureichend behandelt) | Bis 3 |
|
|
Cytomegalie |
|
Lues |
Ringelröteln |
|
|
Varizellen |
Multifaktorielle Ursachen | Kombination und Interaktion exogener und endogener Faktoren | Bis 80 |
- Polygenetische Ursachen |
- Unbekannte Ursachen |
Bei den großen Gruppen der
Antidepressiva und der
Neuroleptika wurden teratogene Effekte bisher nicht sicher nachgewiesen. Einige Ergebnisse zur Assoziation spezieller Fehlbildungen mit einem bestimmten SSRI (beispielsweise
Paroxetin und Herzfehlbildungen; z. B. Reefhuis et al.
2015) müssen als Signale ernst genommen werden, auch wenn eine Kausalität noch nicht als erwiesen gilt.
Das teratogene Potenzial von
Lithium ist weit geringer als früher angenommen. Die
Ebstein-Anomalie des Herzens als teratogene Schädigung nach Therapie im 1. Trimenon betrifft etwa 1 von 1000 exponierten Feten (Giles und Bannigan
2006; Yacobi und Ornoy
2008). Die als Affektstabilisatoren
verwendeten
Antiepileptika Valproinsäure und
Carbamazepin sind jedoch erwiesene Teratogene
, die verschiedene Fehlbildungen verursachen können. Insbesondere die Valproinsäure ist mit ihrem bis zu 20-fachen Risiko für
Neuralrohrdefekte gefürchtet und seit 2015 von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) nicht mehr als Erstlinienpräparat für Frauen im gebärfähigen Alter zugelassen (Übersicht in Rohde et al.
2016).
Valproinsäure soll bei Frauen im gebärfähigen Alter unbedingt vermieden werden, da neben teratogenen Auswirkungen mittlerweile auch Einschränkungen der
kognitiven Entwicklung bei pränatal exponierten Kindern nachgewiesen wurden. Deshalb gehört Valproat zu den wenigen Substanzen in der psychiatrischen Behandlung, die auf jeden Fall spätestens bei Erwartung einer Schwangerschaft umgestellt werden sollten, beispielsweise auf ein atypisches Neuroleptikum.
Die vulnerablen Phasen in der Schwangerschaft
Die Kenntnis des zeitlichen Verlaufs der Schwangerschaft und der damit einhergehenden spezifischen Empfindlichkeit des Embryos gegenüber toxischen Einflüssen ist für die Beurteilung von Bedeutung, wann bei einer ungeplanten Schwangerschaft eine Umstellung (überhaupt noch) sinnvoll ist.
Arzneimittelstoffwechsel in der Schwangerschaft
Von den in der Schwangerschaft vielfach auftretenden Änderungen, wie etwa der abnehmenden Eiweißkonzentration und der gesteigerter Ausscheidungsleistung der Niere, ist auch der Arzneimittelstoffwechsel betroffen. Resorption im Magen-Darm-Trakt, Leberpassage, Verteilungsvorgänge und Ausscheidung der Mutter bestimmen maßgeblich die wirksamen Konzentrationen und Metaboliten eines Medikaments, die im embryonalen Organismus zu finden sind.
Auf der fetalen Plazentaseite finden sich bei den meisten Medikamenten 20–80 % der mütterlichen Medikamentenkonzentration. Nach Loebstein et al. (
1997) sind es folgende Faktoren, die diesen Gradienten beeinflussen:
-
die Perfusion der Plazenta,
-
eine maternofetale pH-Differenz und
-
spezifische Arzneieigenschaften.
Da fast alle pharmakokinetischen Untersuchungen den reifen Fetus bzw. die Verhältnisse um die Geburt wiedergeben, gibt es kaum Erkenntnisse zur Situation in der Frühschwangerschaft.
Die Plazentapassage wird durch eine Molekularmasse unter 600–800 begünstigt. Dies trifft für die meisten Arzneimittel zu. Nur der nicht an Protein gebundene Arzneimittelanteil kann die Plazenta überwinden.
Nach der Plazentagängigkeit kommt dem fetalen Gehirn eine bedeutende Rolle als Zielorgan toxischer Medikamentenwirkungen zu. Da beim Fetus die Blut-Hirn-Schranke noch nicht entwickelt ist, sind pharmakologische Auswirkungen auf das fetale ZNS möglich (Koenen et al.
2005). Prinzipiell sind auch über die Neonatalzeit hinaus anhaltende Effekte denkbar. Relevante Entwicklungsstörungen wurden bisher jedoch nicht nachgewiesen, außer für
Valproinsäure (Abschn.
3.3).
Da sich die Stoffwechselveränderungen in der Schwangerschaft und auch die Zunahme des Körpervolumens auf die verfügbaren Serumkonzentrationen auswirken, sollte insbesondere bei spiegelabhängig wirksamen Substanzen (wie etwa
Lithium,
Antiepileptika, hier v. a.
Lamotrigin) wiederholt und häufiger als sonst der Serumspiegel
bestimmt werden.
Langzeitauswirkungen von Psychopharmaka
Noch ist die Datenlage bezüglich der Langzeitauswirkungen
von Arzneimitteln, Zu
Valproinsäure die von der Mutter in Schwangerschaft und Stillzeit auf das Kind übergehen, leider recht unbefriedigend. Liegen Untersuchungen vor, die einen schädigenden Einfluss nachweisen konnten, z. B. auf die Entwicklung der verbalen Intelligenz (Banach et al.
2010). Naturgemäß kann gerade bei ZNS-wirksamen Medikamenten wie
Psychopharmaka nicht ausgeschlossen werden, dass sie Einfluss auf das fetale und kindliche ZNS im Sinne funktioneller Beeinträchtigungen ausüben. Diese könnten sich möglicherweise erst später manifestieren in Form von
Intelligenzminderung, Verhaltensauffälligkeiten etc. Für bereits länger eingeführte Präparate liegen jedoch diesbezüglich keine Hinweise auf erhebliche Störungen vor. Es ist allerdings auch sehr schwierig, derartige Zusammenhänge nachzuweisen
. Die Entwicklung des Kindes ist letztlich von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren abhängig (z. B. psychosoziale Situation, Erkrankungen, Ernährung und sonstige Umwelteinflüsse), sodass ein vorgeburtlicher Einflussfaktor nur schwer als Ursache identifiziert werden kann.
Pränataldiagnostik/Indikation zum Schwangerschaftsabbruch
Schwangerschaften unter psychiatrischer Medikation sind als Risikoschwangerschaften zu betrachten und entsprechend intensiv gynäkologisch und psychiatrisch zu betreuen. Insbesondere in der fortgeschrittenen Schwangerschaft sollten das zeitgerechte Wachstum des Kindes und die Plazentafunktion regelmäßig kontrolliert werden.
Betreuung rund um die Geburt
Bei psychisch kranken Patientinnen ist nicht nur von psychiatrischer, sondern auch von gynäkologischer Seite auf eine optimale Betreuung zu achten, da es Hinweise darauf gibt, dass psychisch kranke Patientinnen häufiger Fehl-, Tot- und
Frühgeburten erleiden (Howard et al.
2003; King-Hele et al.
2009; Jones et al.
2014; Stein et al.
2014). Gründe dafür und auch für die häufiger als sonst beobachteten Wachstumsretardierungen beim Fetus könnten neben Medikamenteneinflüssen in einem möglichen Alkohol- und Nikotinkonsum in der Schwangerschaft sowie in geringerer Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen liegen (Lin et al.
2009; Stein et al.
2014).
Schon früh sind die Patientin und ihre Angehörigen darüber zu informieren, dass die Entbindung möglichst in einem Perinatalzentrum mit Intensivneonatologie stattfinden sollte, damit beim Auftreten von Entzugssymptomen oder Anpassungsproblemen des Neugeborenen eine intensive Überwachung und optimale Versorgung gewährleistet ist und keine aufwendige Verlegung in eine Kinderklinik und die damit verbundene Trennung von Mutter und Kind erforderlich wird.
Geburtsvorbereitung – peripartales Management
Eine frühzeitige Planung und Vorbereitung der Geburt bei Frauen mit einer psychischen Erkrankung sind sowohl für die Mutter als auch für das Kind von besonderer Bedeutung.
Die Zeit nach der Entbindung ist mit dem höchsten Rezidivrisiko
verbunden – manische und psychotische Episoden beginnen zu 80 % in den ersten zwei Wochen post partum. Nach Studienlage war retrospektiv bei 50 % der Fälle bereits am 1–3. Tag die postpartal beginnende Symptomatik erkennbar (Heron et al.
2008; Jones et al.
2014). Deshalb sollte eine besonders intensive psychiatrische Betreuung und ggf. eine
sofortige Anpassung der Medikation mit Dosiserhöhung und evtl. auch Zugabe vorher bewährter Medikamente gewährleistet sein. Gemeinsam mit der Patientin und den Angehörigen sollten anhand der Vorgeschichte zu erwartende „Warnsignale“ eruiert und ein „Notfallplan“ erstellt werden, der beim Auftreten erster Symptome der psychischen Erkrankung in Kraft tritt. In der Praxis hat es sich bewährt, einen solchen peripartalen Managementplan
schriftlich zu verfassen und der Patientin mitzugeben (s. unten) (Rohde
2007; Rohde et al. 2015). Die Patientin kann dann diese Empfehlungen dem Geburtshelfer und auch der Hebamme vorlegen. Dies ist besonders wichtig, wenn die Geburt ungeplant in einer Klinik stattfindet, die in die
Geburtsvorbereitung nicht einbezogen war. Auch Unterstützungs- und Hilfsmöglichkeiten (wie etwa Elternzeit des Vaters direkt nach der Entbindung, Haushaltshilfe, Familienhebamme) sollten im Vorfeld besprochen werden.
Insbesondere wenn die ausgesprochenen Empfehlungen im Managementplan so formuliert sind, dass sie auch außerhalb der Psychiatrie verstanden und umgesetzt werden können, tragen sie bei allen Beteiligten zur Reduktion von Ängsten und Unsicherheiten bei. Die Einbeziehung der Patientin und ihres Partners bzw. ggf. anderer Angehöriger in die Entscheidungen führt darüber hinaus im familiären/sozialen Umfeld zum verantwortungsvollen Umgang mit der Situation und nach eigenen Erfahrungen in der Regel für alle Beteiligten auch zu einer positiven Erfahrung der Geburt des Kindes..
Zeit nach der Entbindung
Schon lange ist bekannt (z. B. Kendell et al.
1987; Viguera et al.
2007), dass die Zeit nach der Geburt eines Kindes selbst für bis dahin gesunde Frauen ein erhöhtes Risiko birgt, psychisch zu erkranken. Dies trifft naturgemäß in besonderer Ausprägung für Frauen mit einer psychischen Erkrankung in der Anamnese zu. Die Geburt mit allen hormonellen, somatischen und psychischen Aspekten ist ein relevantes Lebensereignis („life event“) und es besteht bei betroffenen Frauen das bereits erwähnte Rezidivrisiko
(Kap.
Frauenspezifische psychische Störungen in der Psychiatrie).
Psychisch erkrankte Frauen benötigen in dieser Zeit verstärkte Unterstützung durch den Partner und andere Angehörige (beispielsweise bei der Versorgung des Kindes, damit der Mutter ausreichender Nachtschlaf zukommt) sowie psychosoziale Hilfsangebote („Frühe Hilfen“). Nach entsprechender Verordnung können die Betroffenen eine verlängerte Hausbetreuung durch die Hebamme und Unterstützung im Haushalt erhalten, die im Allgemeinen von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert werden. Werdende Väter sind in der Regel der Idee gegenüber offen, direkt nach der Entbindung die ihnen zustehenden 2 Monate Elternzeit zu nehmen, um ihre Frau zu unterstützen. Bei vorauszusehendem längerfristigen Unterstützungsbedarf sollte bereits in der Schwangerschaft eine Familienhebamme beantragt werden, deren Kosten gewöhnlich vom Jugend- oder Sozialamt oder von der Kommune getragen werden. Diese speziell ausgebildete Hebamme betreut die Familie über das gesamte erste Lebensjahr des Kindes und richtet ihr Augenmerk insbesondere auf weiteren Unterstützungsbedarf.
Nicht zu vernachlässigen ist das Risiko einer
postpartalen Depression, das bei einer Frau mit psychischer Vorerkrankung nach der Entbindung besteht, zusätzlich zum Rezidivrisiko der Grunderkrankung
(Kap.
Frauenspezifische psychische Störungen in der Psychiatrie). Durch die zum peripartalen Management gehörende Implementierung familiärer und sozialer Unterstützungsmaßnahmen wird die Wahrscheinlichkeit einer postpartalen Depression deutlich reduziert, da bei der multifaktoriellen Genese einer postpartalen Depression die unzureichende Unterstützung ein wichtiger Auslöser ist (Rohde et al.
2016).
Meldung von Schwangerschaften
Da aus ethischen Gründen kontrollierte Medikamentenprüfungen an Schwangeren nicht durchgeführt werden, stammen maßgebliche Erkenntnisse aus klinischen Beobachtungen. Diese erfordern eine konsequente Erfassung und Auswertung durch spezialisierte Zentren.
Die zunehmende Sicherheit bei ärztlichen Kollegen hinsichtlich des empfehlenswerten Vorgehens kann in der Folge auch zu zunehmender Sicherheit bei den betroffenen Frauen führen. Es ist deshalb von besonderer Bedeutung,
jede Schwangerschaft unter Psychopharmaka erfassen zu lassen, und zwar im Schwangerschaftsverlauf, sodass eine prospektive Dokumentation möglich ist. Ein unkomplizierter Weg der Weitergabe dieser Informationen findet sich unter
www.embryotox.de. (Zugegriffen am 01.08.2016). Dabei ist es besonders wichtig, möglichst früh in der Schwangerschaft
alle Schwangerschaften zu melden und nicht nur diejenigen, die zu Komplikationen geführt haben.
Es sollte jede Schwangerschaft unter Medikation zur prospektiven Dokumentation gemeldet werden, und zwar so früh wie möglich. Unter
www.embryotox.de. (Zugegriffen am 01.08.2016) wird ein Meldebogen angeboten, der von der Patientin selbst online oder als Papierversion ausgefüllt werden kann.
Resümee
Weil die Behandlung von psychisch erkrankten Frauen in der Schwangerschaft und um die Zeit der Geburt mit vielen Befürchtungen und Unsicherheiten einhergeht, lassen Psychiater die Grundsätze der psychopharmakologischen Therapie und allgemeine Behandlungsleitlinien manchmal völlig außer Acht. Obwohl in der Regel Medikamente nicht abrupt abgesetzt werden dürfen, sondern das „Ausschleichen“ oder langsame Umstellen einer Medikation angezeigt wäre, wird bei Schwangeren mit psychischer Vorerkrankung allzu oft genau das Gegenteil praktiziert. Das Bedürfnis, das ungeborene Kind vor teratogenen und fetotoxischen Auswirkungen der Medikation zu schützen, steht dabei im Vordergrund, während die möglichen Auswirkungen auf die Erkrankung und die nicht selten gravierenden Folgen für die Mutter (Rezidiv, stationäre Behandlung) unberücksichtigt bleiben.
Die vorhandenen Daten und Leitlinien führen zu der Empfehlung, eine bewährte Medikation nicht ohne guten Grund abzusetzen, v. a. nicht, wenn sie die Funktion einer Rezidivprophylaxe hat.
Natürlich ist immer eine fundierte Nutzen-Risiko-Abwägung (eventuelle Folgen der Medikation vs. eventuelle Folgen der Erkrankung) vorzunehmen. Obsolet ist der Einsatz von Valproat bei Frauen im gebärfähigen Alter. Bei Polypharmazie ist die Anzahl der Substanzen möglichst zu reduzieren; oft ist in der Schwangerschaft auch eine Dosisreduktion möglich. Primat hat aber die psychische Stabilität der Schwangeren, da hierdurch die Wahrscheinlichkeit postpartaler Stabilität erhöht wird. Dies gilt insbesondere, wenn im Rahmen eines sorgfältigen peripartalen Managements die Möglichkeiten der medikamentösen Prophylaxe und psychosozialen Unterstützung ausgeschöpft werden.
Aufgrund der aktuellen Datenlage und insbesondere auch wegen der positiven Auswirkungen, die Schwangerschaft und Mutterschaft auf die einzelne Patientin haben können, scheinen Empfehlungen wie „Mit Medikamenten dürfen Sie nicht schwanger werden“ nicht mehr zeitgemäß – nicht zuletzt unter dem Aspekt der Patientinnenautonomie.