Der Einfluss der Kultur auf die
Schizophrenie hat schon seit jeher erhebliches Interesse auf sich gezogen. So wurde in verschiedenen Untersuchungen deutlich (Pfeiffer
1994), dass es zu kulturspezifischen Ausprägungen der Erkrankung kommt. Kulturvergleichende Untersuchungen lassen auch seit langem vermuten, dass
Inzidenz und Prävalenz der Schizophrenie in Entwicklungsländern im Vergleich zu Industrieländern niedriger zu sein scheinen (Torrey
1980).
Migrationsstudien
Über Jahrhunderte hinweg sind die Grundmotive, die Menschen zur
Migration veranlasst haben, unverändert geblieben. So gelten Vertreibung, Verfolgung, Flucht vor gewaltsamen Konflikten, wie auch Naturkatastrophen, schleichende Klimaveränderung, Armut und Arbeitslosigkeit als wesentliche wanderungsbestimmende „Push-Faktoren
“. Zu allen Zeiten sind beträchtliche „Pull-Effekte
“ vom Bedarf an Arbeitskräften, dem relativen wirtschaftlichen Wohlstand und politischer Stabilität ausgegangen. Was sich verändert über die Zeit sind hingegen der Stellenwert und die Gewichtung der die Migration bestimmenden Faktoren. Umfang und Richtung von Migrationsströmen wurden immer auch durch die jeweiligen Migrationsregime der Aufnahmeländer (wie etwa durch Aufnahmestrategien, Einbürgerungsbestimmungen, arbeitsrechtliche Regelungen) maßgeblich gesteuert (Lay und Rössler
2010).
Es ist offensichtlich, dass Europa sich in den letzten 100 Jahren von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungskontinent gewandelt hat. Insgesamt stieg die Zahl internationaler Migranten in Europa zwischen 1970 und 2000 von 18,7 auf 32,8 Mio., was einem Anstieg des Anteils an der Gesamtbevölkerung von 4,1 % auf 6,4 % entspricht (International Organization for
Migration [IOM]
2005). Deutschland, Frankreich und Großbritannien zählen zu den wichtigsten Aufnahmeländern innerhalb Europas. Zusammen haben diese Länder ca. 10 % aller internationalen Migranten aufgenommen und stehen damit im weltweiten Vergleich gemäß einer Statistik der UN für das Jahr 2000 an 3., 5. und 11. Stelle. Der Anteil der Frauen am Migrationsgeschehen ist in Europa zwischen 1970 und 2000 von 48,0 % auf 51,0 % gestiegen. Dies entspricht dem internationalen Trend, der in vielen Regionen der Welt beobachtet wird. In der internationalen Migration unterrepräsentiert sind Frauen (IOM
2005).
Migration ist in vielen Fällen mit einem erhöhten Risiko für
psychische Störungen verbunden. Der Einfluss der Umwelt auf das Erkrankungsrisiko im Besonderen auf schizophrene Erkrankungen wird durch verschiedene Migrationsstudien gestützt. So weisen eine Reihe von Studien eine im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung gut dokumentierte erhöhte Inzidenzrate für schizophrene Erkrankungen von Immigranten auf, z. B. von Surinamesen in Holland (Selten et al.
1997), afrikanischen Flüchtlingen in Schweden (Johansson et al.
1998), griechischen Migranten in Belgien (Charalabaki et al.
1995), skandinavischen Migranten in Dänemark (Mortensen et al.
1997) und v. a. von Immigranten aus Trinidad und Jamaika in Großbritannien (z. B. Davies et al.
1995). Wenngleich der Einfluss solcher ungünstiger Umweltbedingungen auf das Erkrankungsrisiko plausibel erscheint, müssen andere konfundierende Faktoren in Betracht gezogen werden.
Der gewichtigste und seit vielen Jahren erhobene Einwand gegen ein erhöhtes Erkrankungsrisiko in einer fremden und potenziell „feindlichen“ Umgebung ist, dass Selektionsprozesse
in der Ursprungsbevölkerung die
Migration steuern, d. h. dass z. B. prämorbid belastete oder psychisch auffällige Menschen eher bereit sind auszuwandern (wiederum mit einem erheblichen Krankheitsrisiko für ihre Nachfahren). Ødegaard (
1932) z. B. konnte in einer klassischen Studie ein 2fach erhöhtes Erkrankungsrisiko norwegischer Emigranten belegen. Die Studien von Häfner (
1980) belegen hingegen das Gegenteil, nämlich dass die Inzidenzrate von an
Schizophrenie erkrankten Türken in Deutschland im Vergleich zur deutschen Bevölkerung erniedrigt ist. Dies erklärt sich vermutlich damit, dass bei der Auswahl von Gastarbeitern für Deutschland besonders strenge Kriterien an deren (auch psychische) Gesundheit angelegt wurden.
In zahlreichen neueren englischen epidemiologischen Untersuchungen (Übersicht bei Fearon und Morgan
2006) findet sich trotz erhöhtem Krankheitsrisko für Immigranten aus Trinidad und Jamaika der 2. Generation jedoch kein erhöhtes Erkrankungsrisiko in der Ursprungsbevölkerung. Die Ergebnisse sind inzwischen so robust, dass für diese Bevölkerungsgruppe in Großbritannien die Umwelt einen gesicherten Risikofaktor
darstellt. Auch für andere Migrantengruppen gibt es gute Belege, dass die Umwelt ein Risikofaktor für das Erkrankungsrisiko ist. Die vorgenannte holländische Untersuchung fand für Zuwanderer nach Holland aus den ehemaligen Kolonien Surinam und den Holländischen Antillen ein 4fach erhöhtes Erkrankungsrisiko im Vergleich zur holländischen Allgemeinbevölkerung (Selten et al.
1997). Selektionsprozesse in der Ursprungsbevölkerung spielen für dieses Untersuchungsergebnis keine wesentliche Rolle, da große Teile der Ursprungsbevölkerung von der Wanderungsbewegung nach Holland erfasst worden waren.
Wenn wir uns fragen, welche ungünstigen Lebensbedingungen genau denn das Erkrankungsrisiko von Migranten erhöhen, ist die Datenlage noch nicht überwältigend. Doch gibt es vereinzelte Studien (vgl. Fearon und Morgan
2006), die darauf hinweisen, dass v. a. soziale Exklusion, Isolation, Arbeitslosigkeit sowie Stigmatisierung und Diskriminierung als Umweltfaktoren zu dem Erkrankungsrisiko beitragen können. Migranten sind diesen Risiken in erhöhtem Maße ausgesetzt.
Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung durch Migranten
Neben dem erhöhten Risiko,
psychische Störungen zu entwickeln, sind Migranten auch erheblichen Benachteiligungen in der
psychiatrischen Versorgung ausgesetzt. Im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung werden Migranten (insbesondere Frauen) weniger in psychiatrische
Krankenhausbehandlung überwiesen, erfahren jedoch gesamthaft zwangsweise mehr Krankenhausaufenthalte selbst bei geringerer Krankheitsschwere. Letzteres gilt vor allem wiederum für Migrantinnen mit psychotischen Störungen. Während einer psychiatrischen Krankenhausbehandlung erhalten Migranten dann allerdings vergleichsweise weniger Psycho-, Ergo- und Physiotherapie, wie wir in verschiedenen Schweizer Untersuchungen aufzeigen konnten (Lay et al.
2005,
2006,
2007). Migranten, die häufig in besonderem Ausmaß seelischen und körperlichen Risiken am Arbeitsplatz ausgesetzt sind, sind auch häufig benachteiligt bei der Inanspruchnahme ambulanter Institutionen, insbesondere ambulanter psychiatrischer Institutionen. In einem „sprechenden“ Fach wie der Psychiatrie hat die Sprachbarriere
besonders ungünstige Auswirkungen (Assion
2007). Nicht zuletzt ist das Hilfesuchverhalten durch kulturelle Einflüsse, durch Informationsdefizite und die häufig prekäre soziale Situation der Migranten wesentlich mitgeprägt (Lindert et al.
2008). Illegal anwesende Migranten finden sich häufig in einer besonders schwierigen Situation im Hinblick auf ihre Gesundheitsversorgung. Illegale Migranten fallen in der Krankenversorgung durch nahezu alle Maschen der Gesundheitsversorgung je nach Ausgestaltung der nationalen Gesetzgebung.
Verlaufsstudien
Verschiedene Studien der Weltgesundheitsorganisation (Sartorius et al.
1972; WHO
1974,
1975) belegen zunächst einmal, dass der Verlauf der schizophrenen Erkrankung in Entwicklungsländern im Vergleich zu Industrieländern deutlich unterschiedlich ist. Schizophreniekranke in Entwicklungsländern
, die bei Erkrankungsbeginn eine ähnliche Symptomatologie wie Patienten in Industrieländern aufwiesen, zeigten einen weniger chronischen Verlauf der Erkrankung, weniger Rückfälle und eine bessere soziale Anpassung (Sartorius et al.
1987; Jablensky et al.
1992). Neben dem Einflussfaktor Entwicklungs-versus Industrieländer konnten noch weitere signifikante psychosoziale Einflussfaktoren – namentlich Familienstand und soziales Netzwerk – identifiziert werden (Sartorius et al.
1996), die Einfluss auf den Krankheitsverlauf nehmen. Die Erklärung für diese Verlaufsunterschiede
in Industrie- und Entwicklungsländern wird dabei in den überschaubareren sozialen Interaktionsmustern in weniger komplexen Gesellschaften im Vergleich zu den komplexen, konfliktträchtigen und schwer überschaubaren Anforderungen moderner Industriegesellschaften gesucht. Alternativ muss auch diskutiert werden, ob in Entwicklungsländern weniger Anforderungen an Autonomie und Konkurrenzverhalten vulnerabler Individuen gestellt werden und gleichzeitig ein Leben in kleineren, stabileren und längerfristig angelegten sozialen Netzwerken
ermöglicht wird.