Symptomatik
Kennzeichnend für die Anpassungsstörung ist der zeitliche Zusammenhang zwischen einem kritischen Lebensereignis oder einer Lebensveränderung und einem breiten Spektrum von internalisierenden und externalisierenden Symptomen.
Die Symptome gehen mit einem subjektiven Leiden und Beeinträchtigung einher, die soziale Funktionen und Leistungen behindern.
ICD-10 beschreibt einen Stressor
wie folgt: eine identifizierbare psychosoziale Belastung, von einem nicht außergewöhnlichen oder katastrophalen Ausmaß. Es können also viele verschiedene kritische Lebensereignisse oder Lebensveränderungen zur Entstehung einer Anpassungsstörung führen. Die Stressoren können akut oder chronisch über einen längeren Zeitraum verlaufen. Sie können kontinuierlich oder wiederkehrend sein. Häufig sind dies:
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Verlusterlebnisse, z. B. durch Trennung/Scheidung, Tod, Emigration, Umzug,
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Geburt eines Geschwisterkindes,
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neue Bezugspersonen,
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schulische Probleme oder Veränderungen, z. B. Schulwechsel,
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körperliche Erkrankungen,
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rechtliche Probleme.
Die Anpassungsstörung ist jeweils durch ein kritisches Lebensereignis oder eine Belastung, jedoch ein nicht traumatisches Ereignis definiert.
Grundsätzlich ist jedoch festzuhalten, dass die meisten Menschen stressreiche Lebensereignis
se erleben (Abschn.
3). Die Reaktionen auf solche Ereignisse können in sehr unterschiedlichem Ausmaß erfolgen. Dabei wird ein Kontinuum von PTBS über die Anpassungsstörung zu keinen Reaktionen angenommen. Die Diagnose Anpassungsstörung versucht diejenigen zu erfassen, die stärker unter den Reaktionen und dem Erlebten leiden, dadurch in ihrem Alltag klinisch relevant eingeschränkt werden, wobei die meisten davon dann aber doch zu ihrem vorherigen Wohlbefinden zurückfinden.
„Beispiel“, Fallbeispiel 1
Die 14-jährige weibliche Jugendliche Hanna wird von ihrer Mutter aufgrund von mehreren Belastungsfaktoren in der Familie vorgestellt. Diese sind: schwierige Trennung der Eltern, somatische Erkrankungen von Mutter und Vater, depressive Störung der älteren Schwester. Hanna berichtet, dass sie seit zwei Jahren eine starke Stimmungsverschlechterung erlebe, weniger schlafe und esse, häufig sehr müde sei, sich zurückziehe und sich bisher zweimal geritzt habe. Sie gibt an, der Familie keine Last sein zu dürfen, da sie sich um die Familie kümmern müsse. Sie beschreibt zudem einen geringen Selbstwert, z. B. „Wie soll ich das alles schaffen?“, „Ich bin langweilig, darum habe ich keine Freunde“ und ein Grübeln über die Vergangenheit „Wie konnte es so kommen?“.
Als prädisponierender Faktor ist eine genetische Komponente aufgrund einer Häufung
psychischer Störungen in der Familie naheliegend. Ebenfalls ist das schüchterne, stabile zurückhaltende Temperament ein Vulnerabilitätsfaktor. Die Jugendliche vermied schon früh neue Situationen und Herausforderungen sowie die Durchsetzung eigener Wünsche und Bedürfnisse, sodass sich Kompetenzen in den Bereichen Emotionsregulation, soziale Interaktionen und Problemlösen nicht ausreichend entwickeln konnten. Als Auslöser der Symptomatik wurden die Belastung innerhalb der Familie aufgrund
psychischer Störungen der Eltern und der Schwester, die körperlichen Erkrankungen der Eltern sowie die schwierige Trennung der Eltern gesehen. Zusammen mit den Entwicklungsaufgaben des Jugendalters reichen Hannas Ressourcen für diese Anpassungsleistungen nicht aus. Zudem wurden wichtige Grundbedürfnisse, wie sichere Bindung, Sicherheit und Kontrolle nicht erfüllt. Die Familie von Hanna stellt im Umgang mit Problemen dysfunktionale Modelle dar. So erlebte sie einen passiven und vermeidenden Umgang mit Problemen, gekennzeichnet durch Rückzug. Hanna wurde in der Familie als gesundes Mitglied häufig „übersehen“. Die Jugendliche beschreibt, dass sie sich irgendwann an die anderen angepasst habe. Dadurch kam es zu einem Verstärkerverlust und dem Erleben von Hilflosigkeit. Zusätzlicher Auslöser war die depressive Störung der Schwester, die bislang eine wichtige Unterstützung für Hanna darstellte. Insgesamt entwickelten sich dysfunktionale Kognitionen im Hinblick auf ein negatives Selbst-, Welt-, und Zukunftsbild. Ihre dysfunktionalen Kognitionen und das Vermeidungsverhalten verhinderten, dass sie selbstwertfördernde Erfahrungen und Erfolgserlebnisse sammeln konnte.
Ihre sozialen Kompetenzen zeigten sich bei Hanna, als sie nach teilweiser Überwindung des Stimmungstiefs nach Unabhängigkeit und Ablösung von der Familie strebte.
Therapieziele mit Hanna lauten: Vermittlung eines Störungskonzepts, Entwicklung eines positiven Selbstkonzepts und der Aufbau funktionaler Kognitionen sowie altersangemessener Aktivitäten, Verbesserung des Umgangs mit familiären Belastungen, Aufbau sozialer Kompetenzen und Emotionsregulation. Therapieziele mit den Eltern sind: Vermittlung eines Störungskonzepts, Förderung einer angemessenen Zuschreibung von Verantwortung für die familiäre Situation und Verstärkung offener Kommunikation, Stärkung der Erziehungskompetenz im Hinblick auf altersangemessene Anforderungen, klare Absprachen und angemessene Konsequenzen.
Hanna ist sehr eigenmotiviert, nimmt die Termine regelmäßig und zuverlässig wahr und bringt eigene Themen in die Therapie ein. Nach der
Psychoedukation zur Symptomatik wird das Zusammenspiel von Vulnerabilitäts- und Stressfaktoren erarbeitet und reflektiert. Dabei werden die drei zentralen Behandlungsbausteine Kognitionen/Selbstkonzept, Aktivitätsaufbau und soziale und emotionale Kompetenzen abgeleitet. In der Folge können der Zusammenhang zwischen Gedanken, Gefühlen und Verhalten erarbeitet und die Aufwärts- und Abwärtsspirale besprochen werden. Erster Schwerpunkt ist die Steigerung des Selbstwerts. Dabei wird die Wichtigkeit der Selbstfürsorge und eines „fairen Blicks“ auf sich selbst abgeleitet. Zunehmend gelingt es Hanna den „inneren Kritiker“ dem „wohlwollenden Begleiter“ entgegenzusetzen. Zur Stärkung des wohlwollenden Begleiters wird ein Positivtagebuch eingesetzt. Anhand des Tagebuchs können dysfunktionale Gedanken und Grundannahmen identifiziert und kritisch hinterfragt werden. Zudem können Bedürfnisse und Wünsche besprochen und mit der Umsetzung im Alltag verglichen werden. Bereits mit Beginn der Therapie hat Hanna begonnen, sich neue Freizeitaktivitäten zu suchen. Dies hat sich positiv auf ihre Stimmung ausgewirkt, nur zeigt sich anhand des Tagebuchs, dass sich Hanna mit den vielen Hobbies, den schulischen Pflichten und durch die hohen eigenen Anforderungen überfordert. In der Folge werden die Selbstfürsorge nochmals aufgenommen und zur Entlastung Imaginationsübungen durchgeführt. Des Weiteren werden depressive Denkfehler thematisiert. Im Hinblick auf Sozialkontakte hat Hanna den Wunsch nach einer engeren Vertrauensperson, ist aber zögerlich auf andere zuzugehen. Anhand des Aufzeichnens eines sozialen Netzes zeigte sich, dass sie über eher wenig enge soziale Kontakte verfügt, sich damit aber wohl fühlte. Nur in Bezug zu ihrer Schwester besteht der Wunsch nach einem wieder engeren Kontakt. Durch positive gemeinsame Aktivitäten mit der Mutter verbessert sich die Eltern-Kind Interaktion.
Als ein letzter Therapieschwerpunkt wird die Funktion von Emotionen, deren Ausdruck und Erkennung besprochen und geübt. Als eine zentrale Emotion benennt Hanna Einsamkeit. Diese diene ihr als Schutz davor, von anderen abhängig zu sein und verletzt zu werden. Jedoch habe sie den Wunsch diesen Schutzpanzer loszuwerden und sich mehr zu öffnen. Als weitere wichtige Emotion benennt sie Gleichgültigkeit. Es wird erarbeitet, dass Gleichgültigkeit aber nicht nur negativ sein muss, wenn man sie als Form von Gelassenheit versteht. Gegen Ende der Therapie hat Hanna den Wunsch die zukünftig freie Therapiezeit für Hobbies und Sozialkontakte zu nutzen. Hanna bilanziert, dass sie im vergangenen Jahr große Veränderungen bei sich festgestellt habe. Sie sei selbstsicherer, offener und zufriedener mit sich selbst. Insbesondere wisse sie nun, wie sie schwierige Situationen und Stimmungstiefs aus eigener Kraft bewältigen könne.
Kommentar: Als Diagnose wird eine Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion (F43.21) vergeben. Differenzialdiagnostisch sind die Kriterien für eine depressive Störung und eine soziale Angststörung nicht erfüllt.
Klassifikation
Eingeordnet ist die Anpassungsstörung im
DSM-5 (APA
2013) und dem Zero-to-Three
für das Vorschulalter (DC:0-5, 2016) bei den Trauma- und belastungsbezogenen Störungen, in der ICD-10 bei den neurotischen, Belastungs- und
somatoformen Störungen (F43.2). Die Diagnose Anpassungsstörung stellt häufig eine Restkategorie dar, wenn die Kriterien für eine andere Diagnose, z. B. PTBS nicht erfüllt sind.
Die Schwierigkeiten mit der Diagnose Anpassungsstörung können wie folgt zusammengefasst werden als: Schwierigkeiten in der Differenzierung einer normalen adaptiven Stressreaktion (falsch-positiv) von einer psychischen Störung (siehe Fallbeispiel 2), Schwierigkeiten in der Differenzierung von anderen
psychischen Störungen, z. B. einer depressiven Störung (siehe Fallbeispiel 3), die Abwesenheit von spezifischen Symptomkriterien und die schlecht validierten Subtypen. Andererseits ermöglicht die Diagnose einigen Patienten eine Entlastung. Die Akzeptanz der Diagnose ist auf Patientenseite relativ hoch, da sie dem Kausalerklärungsbedürfnis
entgegenkommt und prognostisch eher optimistisch ist (Simmen-Janevska und Maercker
2011; siehe Fallbeispiel 4).
Nach ICD-10 treten die Symptome innerhalb eines Monats auf. Zudem dauern die Symptome nach Ende des Ereignisses oder ihrer Folgen nicht länger als 6 Monate an, außer bei der längeren depressiven Reaktion.
Das breite Spektrum an Symptomen widerspiegelt sich in den Subtypen der Anpassungsstörung. Die Subtypen umfassen depressive Reaktionen, Angst, Angst und depressive Reaktion gemischt, vorwiegend Störung von anderen Gefühlen wie z. B. Sorgen, Anspannung, Ärger, vorwiegend Störung des Sozialverhaltens oder mit gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten.
Als wichtige Neuerungen für die ICD-11
sind die beiden Aspekte Beschäftigung mit dem Stressor oder dessen Konsequenzen, was exzessive Sorgengedanken, wiederkehrende, betrübliche Gedanken an den Stressor und konstantes Nachsinnen/Ruminieren
über dessen Auswirkungen einschließt sowie die Unfähigkeit sich an den Stressor anzupassen. Nach aktuellem Stand wird die Anpassungsstörung in der ICD-11 wie folgt beschrieben: „Eine Anpassungsstörung ist eine unpassende Reaktion auf einen identifizierbaren psycho-sozialen Stressor oder mehrerer Stressoren (z. B. Scheidung, Krankheit oder Behinderung, sozio-ökonomische Probleme, Konflikte zu Hause oder im Beruf), die innerhalb eines Monats auftreten. Die Störung ist durch die Beschäftigung mit dem Stressor oder dessen Konsequenzen charakterisiert. Dies schließt exzessive Sorgengedanken, wiederkehrende, betrübliche Gedanken an den Stressor oder konstantes Nachsinnen über dessen Auswirkungen, sowie die Unfähigkeit sich an den Stressor anzupassen ein, welche signifikante Beeinträchtigung im persönlichen, familiären, sozialen, Ausbildungs-, beruflichen Kontext und anderen wichtigen Bereichen nach sich zieht. Die Symptome sind nicht spezifisch oder schwer genug, um die Diagnose einer anderen psychischen Störung oder Verhaltensstörung zu rechtfertigen und remittieren üblicherweise nach 6 Monaten, außer der Stressor besteht für eine längere Zeit.“ (
https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http%3a%2f%2fid.who.int%2ficd%2fentity%2f264310751, abgerufen 04.06.2020).
Die Zero-to-Three-Klassifikation für Kinder im Vorschulalter (DC:0-5, 2016) erfordert wiederum einen zeitlichen Zusammenhang von einem (oder mehreren) Stressor(en) und dem Auftreten verschiedener Symptome, die mindestens zwei Wochen und maximal drei Monate anhalten. Die Diagnose kann nicht gestellt werden, wenn eine andere Diagnose die Symptome besser erklären kann oder die Symptome eine Steigerung einer präexistierenden Störung darstellen. Als wichtige Differenzialdiagnose beschreibt die DC:0-5 die komplizierte Trauerstörung. Der Verlust der Hauptbezugsperson ist ein besonders schwerwiegender Stressor. Jüngere Kinder haben in der Folge noch nicht die Ressourcen mit so einem Verlust umzugehen und zusätzlich sind die anderen Bezugspersonen möglicherweise auch nicht in der Lage das Kind angemessen zu unterstützen.
Maercker et al. (
2007) haben in Anlehnung an das Konzept eines Stress-Response-Syndrom
s (Abschn.
7) einen Vorschlag für Diagnosekriterien erstellt (Tab.
1). Zentrale Symptome dafür sind Intrusionen, Vermeidung und eine Fehlanpassung. In Bezug auf Kinder ist bei Kriterium B in Anlehnung an die Ergänzung im
DSM-5 bei der PTBS, wahrscheinlich auch bei der Anpassungsstörung, zu berücksichtigen, dass anstelle von Intrusionen das Ereignis im Spielverhalten zum Ausdruck kommen kann.
Tab. 1
Diagnostische Kriterien für eine Anpassungsstörung nach Maercker (
2002)
A | Reaktionen auf ein identifizierbares belastendes Ereignis treten innerhalb eines Monats nach dem Ereignis auf |
B | Intrusionen 1. wiederholte, belastende und unwillkürliche Gedanken an das Ereignis 2. wiederholte Erinnerungen oder ständiges Grübeln über das Ereignis während der Mehrzahl der Tage während mindestens 1 Monat 3. Auftreten von Stress bei Erinnerung an das Ereignis |
C | Vermeidung 1. Vermeidung von Stimuli, die mit dem Ereignis assoziiert sind 2. Bemühungen Gedanken zu vermeiden, die mit dem Ereignis assoziiert sind 3. Bemühungen Gefühle zu vermeiden, die mit dem Ereignis assoziiert sind 4. Bemühungen nicht über das Ereignis zu sprechen 5. Rückzug von anderen Menschen |
D | Fehlanpassungssymptome 1. Interesseverlust bei der Arbeit, sozialen Aktivitäten, der Sorge für andere Personen, Freizeitaktivitäten 2. Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafprobleme 3. Mangel an Selbstvertrauen bei Ausführung früher gewohnter Tätigkeiten |
| Subtypen: mit depressiver Stimmung, mit Angst, mit Störungen der Impulskontrolle |
Epidemiologie
Aufgrund fehlender reliabler Verfahren sind auch epidemiologische Daten zur Anpassungsstörung im Kindes- und Jugendalter mangelhaft.
Gemäß der Klassifikation der Zero-to-Three (DC:0-3) wurde bei 8 % von 1083 Kindern eine Anpassungsstörung diagnostiziert (Emde und Wise
2003). In einer Studie einer Spezialambulanz für Klein- und Vorschulkinder wiesen 6 % bzw. 5,4 % der Kinder eine Anpassungsstörung nach ICD-10 bzw. DC:0-5 auf (Equit et al.
2011).
Geschlechtsspezifische Merkmale wurden im Hinblick auf Stressor
en und Symptomen berichtet. Pelkonen et al. (
2005) berichten bei männlichen Jugendlichen mit einer Anpassungsstörung häufiger von schulassoziierten und rechtlichen Schwierigkeiten als Stressoren sowie von psychomotorischer Unruhe, während bei weiblichen Jugendlichen elterliche Erkrankungen häufiger als Stressoren fungierten und sich die Symptomatik häufiger in internalisierenden Symptomen zeigte.
Bekannt ist jedoch, dass Kinder in jedem Alter häufig belastende Lebensereignis
se erleiden. Bei Kindern im Vorschulalter (5–6, 9 Jahre) zeigte sich in einer Schuleingangsuntersuchung, dass mehr als 80 % der Kinder mindestens ein belastendes Lebensereignis in ihrem bisherigen Leben erlitten haben (Furniss et al.
2009). Dabei zeigte sich ein eindeutiger Zusammenhang von Lebensereignissen und klinisch auffälligem Verhalten. Relevant für die Entwicklung von kindlichen Verhaltensauffälligkeiten scheinen zu sein Trennung/Scheidung, kindliche Gesundheit, Umzug, Arbeit der Eltern (Verlust der Arbeit, Wiederaufnahme der Arbeit), Gesundheit der Eltern und Familienangehörige (Geburt eines Geschwisters, Auszug eines Geschwisters).
In der Bremer Jugendstudie berichteten 22,5 % der 12- bis 17-Jährigen irgendwann in ihrem bisherigen Leben ein traumatisches Ereignis erlebt zu haben (Essau et al.
1999). Am häufigsten wurden körperliche Angriffe, Verletzungen und Unfälle genannt.
Es kann festgehalten werden, dass viele Kinder ein stressreiches Lebensereignis erleben, aber dass die Mehrheit der Kinder in der Folge keine
psychischen Störungen entwickelt.
Diagnostik
Mit dem Strukturierten Interview für das Vorschulalter
(SIVA:0-6, Bolten et al.
2021) liegt ein Elterninterview vor, welches die Anpassungsstörung nach ICD-10 und DC:0-5 für Kinder zwischen einem und 6 Jahren als auch die komplizierte Trauerstörung nach DC:0-5 erfasst. Erste Gütekriterien liegen vor (In-Albon et al.
2020).
Im Kinder-DIPS-OA (Schneider et al.
2017) ist die Anpassungsstörung nicht explizit als Störungsbild beinhaltet. Im Überblick des Interviews wird zu Beginn nach Veränderungen oder Schwierigkeiten im letzten halben Jahr in den Bereichen Familie, Freunde, Klassenkameraden, Schule, Ausbildung, Beruf, Gesundheit und gesetzliche Angelegenheiten gefragt. Des Weiteren beinhaltet das Kinder-DIPS ein Traumascreening, welches jedoch Trauma im Sinne einer PTBS beinhaltet.
In der Exploration mit Kind und Eltern sollte zusätzlich zur Erfassung des belastenden Ereignisses, der Symptome sowie des zeitlichen Zusammenhangs zwischen Stressor/Ereignis und Symptomatik auch die subjektive Bedeutung des Stressors für das Kind, die subjektiven elterlichen Einstellungen, Ressourcen, Problemlösefähigkeiten und Bewältigungsmechanismen erhoben werden. Des Weiteren ist es sinnvoll soziale Kompetenzen zu beobachten und zu erfassen.
Störungskonzept und Erklärungsmodell
Ist die Tatsache, dass die Anpassungsstörung zwischen Normalität und Pathologie eine Art Übergangsbereich signalisiert, wirklich das Einzige, das wir an theoretischer Konzeptualisierung anführen können? Maercker et al. (
2007) konzipierten die Anpassungsstörung als eine Form eines Stress-Response-Syndrom
s. Sie sollte die nicht mehr adaptive normale Antwort des Menschen auf Stressbelastungen signalisieren. Darauf wurde ja schon in den Überlegungen zur Klassifikation eingegangen. Als Stress-Response-Syndrom rückt die Anpassungsstörung nahe an die
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) oder die
akute Belastungsstörung. Als wichtigsten Unterschied zwischen Anpassungsstörung und PTBS erkennt man das Ausmaß der Stressbelastungen. Stressoren, die mit der Anpassungsstörung verbunden sind, haben nicht den plötzlichen und unerwarteten Katastrophencharakter der Auslöser von PTBS und sind als Trauma nicht so heftig zu bewerten (Zelviene und Kazlauskas
2018). Beispiele für Stressoren im Rahmen einer Anpassungsstörung können sein Scheidungen, körperliche Krankheit, Geldprobleme oder Konflikte mit Gleichaltrigen (Abschn.
2).
Anpassungsstörungen wären somit nichtadaptive Reaktionen auf definierbare Stressoren. Die Störungskriterien dieses Konzepts sind in Tab.
1 beschrieben. Kernsymptome sind Intrusionen, Vermeidung und Fehlanpassung. Intrusion
en bezeichnen ständig wiederkehrende Erinnerungen an das Ereignis und die wiederholte Auseinandersetzung durch Grübeln oder sich sorgen. Dieses gedankliche Verhaftetsein kann spontan oder nach Auftreten von Schlüsselreizen erfolgen. Vermeidung zeigt sich sowohl beim Nicht-darüber-Sprechen als auch der Vermeidung von Schlüsselreizen, Aktivitäten und Situationen, die an das Ereignis erinnern. Fehlanpassung
beschreibt persönlichkeits- und verhaltensbezogene Symptome wie sozialer Rückzug, Vernachlässigung bisher als angenehm empfundener Aktivitäten und Tätigkeiten sowie eine Verminderung des Selbstwerts. Emotionale Reaktionen können als depressive Symptome, Angst und Impulsivität auftreten. Dies könnte einen ersten theoretischen Anhaltspunkt für die diagnostische Entität der Anpassungsstörung darstellen (Übersicht bei Zelviene und Kazlauskas
2018). Das Störungskonzept konnte bei Erwachsenen in Klinikpopulationen (Dannemann et al.
2010) und Bevölkerungsstudien (Maercker et al.
2008) belegt werden.
Nach dem Stress-Response-Syndrom sind Intrusionen, Vermeidung und Fehlanpassung Kernsymptome der Anpassungsstörung.
Das Stress-Response-Modell baut auf dem Erklärungsmodell von Horowitz (
1986) für die Anpassungsstörung auf. Demzufolge erzeugt ein belastendes Ereignis intensive Gefühle und ein Gefühl der Überwältigung. Darauf wird mit Zurückdrängen dieser intensiven Gefühle reagiert, z. B. durch Vermeidung oder dysfunktionalem Verhalten. In der Folge bilden sich Teufelskreise von sich aufdrängenden Gedanken und Vermeidungsversuchen. Als normale Folge kommt es dann zu einem Elaborieren und Durcharbeiten des Ereignisses, sodass ein Abschluss erfolgen kann. In pathologischer Form, wenn diese Verarbeitung nicht stattfindet, kann es zu anderen Störungen, wie
depressiven Störungen oder
Angststörungen kommen und ein Gefühl des Bruchs der subjektiven Lebenslinie kann bestehen bleiben (Simmen-Janevska und Maercker
2011).
Eigene Pathomechanismen des Auftretens von Symptomen im Sinne der Anpassungsstörung wie auch Besonderheiten für das Kindes- und Jugendalter sind bisher nicht beschrieben.
Behandlung
Eine Schwierigkeit in der Indikationsstellung
besteht darin, dass definitionsgemäß davon ausgegangen wird, dass die Störung von selbst remittiert und es daher unklar ist, wann eine
Psychotherapie notwendig ist. Explizite Behandlungsleitlinien für die Anpassungsstörung liegen keine vor, wie auch bislang keine Therapiestudien mit Kindern mit Anpassungsstörung durchgeführt wurden.
In den Leitlinien für
psychische Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter (AWMF 028/041,
2015) wird darauf hingewiesen, dass bei einer Anpassungsstörung mit leichtem Schweregrad eine Beratung
mit den Inhalten
Psychoedukation und Aktivierung von Ressourcen ausreichend sein kann (Abschn.
2, Fallbeispiel 3). Eine
Psychotherapie wird bei schwerer und chronisch verlaufender Anpassungsstörung als indiziert erachtet.
Diese verschiedenen Methoden, die bei einer Anpassungsstörung zur Anwendung kommen können, gehen einher mit Empfehlungen, die Therapie
modular anzusetzen (Bengel und Hubert
2010; Hoffmann und Hofmann
2008). Je nach Schwerpunkt der Symptomatik werden bewährte Elemente der störungsspezifischen Therapien verwendet (Abschn.
2, siehe Fallbeispiel 1, Fallbeispiel 4).
In Anbetracht der Einschätzung der Anpassungsstörung auf einem Traumakontinuum kann der Einsatz von traumatherapeutischen Element
en hilfreich sein, wie beispielsweise die biografische Einordnung des Lebensereignisses oder Expositionstechniken (Cohen et al.
2009). In der
Psychoedukation kann als Störungsmodell auf die mangelnde Passung von aktuell zur Verfügung stehenden Ressourcen und anstehenden Entwicklungsaufgaben verwiesen werden.
In der
Psychotherapie von
Anpassungsstörungen können verschiedene Methoden modular eingesetzt werden, dabei sind insbesondere auch traumatherapeutische Elemente häufig hilfreich.
Bei Indikation einer
Psychotherapie sollte aufgrund des fluktuierenden Verlaufs eine Kurzzeittherapie
anvisiert werden. Je jünger die Kinder sind, desto stärker sollten die Eltern in die Psychotherapie einbezogen werden. Dabei ist zu beachten, inwiefern auch die Eltern von dem Ereignis/Stressor betroffen sind, und ob diese selbst auch Symptome einer psychischen Störung aufweisen. Falls dies der Fall wäre, sollte den Eltern gegebenenfalls eine eigene Psychotherapie empfohlen werden.