Sigmund Freuds Entwicklungstheorie
Neben Sigmund Freud
s Entwicklungstheorie, die Siegler et al. (
2020) zusammenfassend darstellen, stellen soziale Lerntheorien und kognitive Theorien, die an anderer Stelle beschrieben werden, wichtige theoretische Rahmenkonzepte für das Verständnis entwicklungspsychologischer Prozesse dar. Freuds theoretischer Ansatz, wird als eine Theorie der psychosexuellen Entwicklung bezeichnet, weil Freud annahm, dass auch sehr junge Kinder bereits eine Sexualität haben, die ihr Verhalten motiviert und ihre Beziehungen zu anderen Menschen beeinflusst. Nach Freud durchlaufen Kinder eine Reihe von universell auftretenden Phasen, in denen die biologisch bedingten Triebe, die Verhalten, Gedanken und Gefühle beeinflussen auf verschiedene erogene Zonen des Körpers (z. B. den Mund, den Anus und das Genital) fokussiert sind, die sinnliche Lustgefühle auslösen. In jeder Entwicklungsphase entstehen im Zusammenhang mit der jeweiligen erogene Zone Konflikte, die es zu lösen gilt. Erfolg oder Misserfolg beim Lösen dieser Konflikte wirken sich nach Freud lebenslang auf die Entwicklung aus (Freud
1920).
Im 1. Lebensjahr befindet sich der Säugling in der oralen Phase
, in der die primäre Quelle für Befriedigung und Lust orale Tätigkeiten wie Saugen, Lutschen und Essen sind. Diese mit dem
Stillen assoziierte Lust ist so intensiv, dass auch andere Stimulationen des Mundes, wie am Daumen oder Schnuller zu saugen, ebenfalls Lust bereiten. Die biologischen Triebe, mit denen das Kind auf die Welt kommt, bilden das Es – die früheste und primitivste der drei Persönlichkeitsstrukturen, die Freud postuliert. Das Es ist völlig unbewusst und bildet die Quelle der psychischen Energie. Das Es wird vom Lustprinzip geleitet – dem Ziel, schnellstmöglich maximale Befriedigung zu erlangen. Das nach dem Realitätsprinzip arbeitende Ich entwickelt sich als zweite psychische Instanz allmählich gegen Ende des 1. Lebensjahres, damit die Konflikte zwischen den ungezügelten Forderungen nach sofortiger Befriedigung des Es und den von der externen Welt auferlegten Einschränkungen in Einklang gebracht werden können. Durch die fortwährende Aussöhnung zwischen den Anforderungen des Es und den Anforderungen der Realität, wird das Ich im Lauf der Zeit stärker, differenziert sich weiter aus und entwickelt sich schließlich zu der individuellen Erfahrung des Selbst.
Im Verlauf des 2. Lebensjahres tritt das Kind in die anale Phase ein, die bis zum Alter von etwa drei Jahren andauert und in der das erotische Interesse des Kindes, die Libido, auf den lustvollen Spannungsabbau beim Stuhlgang fokussiert. Wenn die Eltern Anforderungen an das Kind stellen, hauptsächlich, wenn sie auf Sauberkeit bestehen, entwickelt sich ein intrapsychischer Konflikt. Diese Anforderungen nehmen In den folgenden Jahren zu und das Kind lernt zunehmend, seine Impulse zu kontrollieren und Befriedigungen aufzuschieben.
In der phallischen Phase, die das 3. bis 6. Lebensjahr umfasst, interessieren sich Kinder nach Freud für ihre eigenen Genitalien und die ihrer Eltern und Spielgefährten. Sowohl Jungen als auch Mädchen beziehen Lustgefühle aus der Masturbation. Kinder identifizieren sich mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, wodurch Geschlechterunterschiede in Einstellungen und Verhalten entstehen. Die Auseinandersetzung mit den eigenen sexuellen Wünschen stößt beim Kind die Entwicklung des Über-Ichs, der dritten Persönlichkeitsstruktur an. Durch das Über-Ich kann das Kind sein eigenes Verhalten auf der Grundlage seiner Überzeugungen zu dem was richtig und was falsch ist steuern. Das Über-Ich beruht auf der Internalisierung der Regeln und Normen, anhand derer die Eltern akzeptables und unangemessenes Verhalten definieren. Bei Jungen führt der Weg zum Über-Ich über den Ödipus-Komplex und seine Überwindung. Dabei handelt es sich um einen psychosexuellen Konflikt, in dem ein Junge eine Form des sexuellen Begehrens seiner Mutter empfindet und sie ausschließlich für sich haben möchte. Im Ödipus-Konflikt erlebt der Sohn sein Verlangen nach seiner Mutter und seine Feindseligkeit gegenüber dem Vater als so bedrohlich, dass ihn sein Ich durch Verdrängung davor schützt und die gefährlichen Gefühle ins Unbewusste verbannt. Bei Mädchen wird die Gewissensbildung über den Elektra-Komplex angestoßen, in dem sie nicht akzeptable Gefühle für ihren Vater entwickeln.
Die etwa vom 6. bis zum 12. Lebensjahr andauernde Latenzphase ist durch eine Zeit äußerlicher Ruhe gekennzeichnet. Sexuelle Wünsche werden sicher im Unbewussten verborgen, und die psychische Energie kanalisiert sich in konstruktiven, sozial akzeptablen Handlungen intellektueller und sozialer Art.
Mit der sexuellen Reifung beginnt die fünfte und letzte Phase, die genitale Phase, in der die sexuelle Energie mit voller Kraft wieder zur Geltung kommt, die sich nun primär auf gegengeschlechtliche Gleichaltrige richtet. Im Rahmen einer normalen Entwicklung hat die Person bereits ein starkes Ich entwickelt, welches das Zurechtkommen mit der Realität erleichtert, und ein Über-Ich, das weder zu stark noch zu schwach ausgeprägt ist.
Werden grundlegende Bedürfnisse in einer der Phasen psychosexueller Entwicklung nicht erfüllt, dann kann die Person auf diese Bedürfnisse fixiert bleiben und permanent versuchen, sie zu befriedigen und die begleitenden Konflikte zu lösen, wodurch
psychische Störungen in Form von Neurosen entstehen können. Diese Prozesse laufen weitgehend unbewusst ab und kommen auf indirekte oder symbolische Weise zum Ausdruck. Die Art, in der das Kind die Phasen der psychosexuellen Entwicklung durchlaufen hat, formt die Persönlichkeit der Person ein Leben lang.
Nach Siegler et al. (
2020) waren sein Hinweis auf die Bedeutung frühester Lebenserfahrungen und emotionaler Beziehungen und auf die besondere Rolle subjektiver Erfahrungen und unbewusster geistiger Aktivität die wichtigsten Beiträge Freuds zur Entwicklungspsychologie. Die zentralen Aussagen der Freud’schen Theorie entziehen sich jedoch meist einer empirischen Überprüfung, weitgehend deshalb, weil sie zu ungenau formuliert sind. Manches gilt, so Siegler et al. (
2020), generell als fragwürdig. Dennoch ist Freuds Theorie immer noch sehr einflussreich. Ein Aspekt der Freud'schen Theorie, der die Psychologie nachhaltig beeinflusst hat, betrifft den Einfluss früher Erfahrungen und früher Beziehungen, die das Grundthema der heutigen Bindungsforschung sind (Kap. „Bindung im Kindes- und Jugendalter“). Darüber hinaus gehört Freuds Einsicht, dass unsere mentalen Vorgänge zum großen Teil außerhalb des Bewusstseins stattfinden, zu den Grundannahmen der modernen Kognitionspsychologie und Neurowissenschaft.
Entwicklung von Emotionen
Emotionen sind für viele menschliche Funktionen grundlegend und verändern sich in den ersten Lebensmonaten und -jahren. Emotionsausdruck
, Emotionsverständnis
und Emotionsregulation
lassen sich als drei Aspekte emotionaler Kompetenzen voneinander abgrenzen. Sie beeinflussen die Entwicklung der sozialen Interaktionen maßgeblich (Saarni
1999). Betrachtet man die Entwicklung dieser drei Kernkompetenzen, ergeben sich viele Überschneidungen mit anderen Bereichen, insbesondere der sozialen Wahrnehmung, der sozialen Kognition und der Selbstregulation.
Zunächst stehen globale, an der positiven oder negativen Valenz der Gefühle orientierte Unterscheidungen sowohl im Emotionsausdruck als auch beim Erkennen der Gestimmtheit anderer Personen im Vordergrund, die sich in den folgenden Monaten zunehmend ausdifferenzieren (Pauen und Vonderlin
2019). Das Neugeborene kommt mit angeborenen emotionalen Ausdrucksreaktionen zur Welt, die der Bezugsperson in den ersten Lebensmonaten dessen aktuelle Bedürfnisse anzeigen. So signalisiert Schreien einen dringenden Bedarf, z. B. nach Nahrung (Emotion Missbehagen), während Lächeln zunächst den Abschluss eines Spannungs-Entspannungszyklus andeutet und mit der Emotion Wohlbehagen verknüpft ist. Eine visuelle Aufmerksamkeitsfokussierung mit leicht geöffnetem Mund signalisiert die Neuartigkeit externer Stimulation (Emotion Interesse), der Schreckreflex mit aufgerissenen Augen und Körperanspannung signalisiert eine bedrohliche Überstimulation (Emotion Erschrecken) und Naserümpfen mit Vorstrecken der Zunge, um Mundinhalte auszuspucken signalisiert Ungenießbares (Emotion Ekel) (vgl. Holodynski und Oerter
2018). Tab.
1 gibt eine Übersicht über Emotionen und ihre Entwicklung sowie ihre Regulationsfunktionen bezüglich der eigenen Person und dem Interaktionspartner.
Tab. 1.
Regulationsfunktionen von Emotionen in Bezug auf die eigene Person (intrapersonal) und in Bezug auf den Interaktionspartner (interpersonal), nach Holodynski und Oerter (
2018, S. 521)
Ekel (ab 0 Monaten) | Wahrnehmung schädlicher Substanzen/Individuen | Weist schädliche Substanzen/ lndividuen zurück | Signalisiert Fehlen an Aufnahmefähigkeit beim Individuum |
Interesse/Erregung (ab 0 Monaten) | Neuartigkeit, Abweichung, Erwartung | Öffnet das sensorische System | Signalisiert Aufnahmebereitschaft für Information |
Freude (ab 2 Monaten) | Vertraulichkeit, genussvolle Stimulation | Signalisiert dem Selbst, die momentanen Aktivitäten fortzuführen | Fördert soziale Bindung durch Übertragung von positiven Gefühlen |
Ärger (ab 7 Monaten) | Zielfrustration durch andere Person | Bewirkt die Beseitigung von Barrieren und Quellen der Zielfrustration; | Warnt vor einem möglichen drohenden Angriff; Aggression |
Trauer (ab 9 Monaten) | Verlust eines wertvollen Objekts, Mangel an Wirksamkeit | Niedrige Intensität: fördert Empathie; höhere Intensität: führt zur Handlungsunfähigkeit | Löst Pflege- und Schutztendenzen sowie Unterstützung und Empathie aus |
Furcht (ab 9 Monaten) | Wahrnehmung von Gefahr | Identifiziert Bedrohung, fördert Impuls zu fliehen oder sich zu verteidigen | Signalisiert Unterwerfung |
Überraschung (ab 9 Monaten) | Verletzung von Erwartungen | Unterbricht Handlungsablauf | Demonstriert Naivität der Person, beschützt sie vor Angriffen |
Verlegenheit (ab 18 Monaten) | Wahrnehmung, dass eigene Person Gegenstand intensiver Begutachtung ist | Führt zu Verhalten, das Selbst vor weiterer Begutachtung zu schützen | Signalisiert Bedürfnis nach Zurückgezogenheit |
Stolz (ab 24 Monaten) | Wahrnehmung eigener Tüchtigkeit bezüglich eines Wertmaßstabs im Angesicht anderer | Signalisiert soziale Zugehörigkeit, Steigerung des eigenen Selbstwertgefühls | Führt zur Selbsterhöhung als Zeichen, dass man „groß“ ist, Appell zur Bewunderung |
Scham (ab 30 Monaten) | Wahrnehmung eigener Unzulänglichkeit bezüglich eines Wertmaßstabs im Angesicht anderer | Signalisiert Gefahr des sozialen Ausschlusses, führt zu Vermeidungsverhalten | Führt zu Unterwürfigkeit, um sozialen Ausschluss zu verhindern |
Schuld (ab 36 Monaten) | Erkenntnis, falsch gehandelt zu haben, und das Gefühl, nicht entkommen zu können | Fördert Versuche zur Wiedergutmachung | Führt zu unterwürfiger Körperhaltung, welche die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs reduziert |
Parallel zum Emotionsausdruck entwickeln sich auch die emotionale Eindrucksfähigkeit (Pauen und Vonderlin
2019) zunächst als Gefühlsansteckung. Der Säugling lässt sich in seinem Erleben vom emotionalen Ausdruck einer anderen Person beeindrucken, wenn ein anderes Baby schreit, reagiert das Kind ebenfalls mit Geschrei. Schon nach wenigen Monaten können die Mimik anderer Personen gedeutet werden und ab etwa 9 Monaten kann der Ausdruck der Bezugsperson als deren innere Befindlichkeit wahrgenommen werden. Mit fortschreitender sprachlicher Entwicklung können mit zwei bis drei Jahren Gefühle benannt und Überlegungen über deren Anlass angestellt werden. Das Erkennen und Benennen von Emotionen entwickeln sich vor allem im Vorschulalter weiter.
Positive Emotion
en entwickeln sich mit einem frühen Lächeln, das nach dem 1. Lebensmonat vermutlich eher durch biologische Zustände als durch soziale Interaktion primär reflexhaft ausgelöst wird, z. B. wenn Säuglinge sanft gestreichelt werden (Sroufe
1995). Während des 3. Lebensmonats setzt das soziale Lächeln ein, das sich gezielt an andere Menschen, meist die Eltern richtet. Im Alter von ungefähr sieben Monaten fangen die Kinder an, hauptsächlich vertraute Menschen anzulächeln. Säuglinge reagieren dann auch auf eine positive Spielbereitschaft der Eltern und auf deren Lächeln mit Erregung und Vergnügen. Im weiteren Verlauf des 1. Lebensjahres vermehrt sich der Ausdruck positiver Emotionen der Kinder (Rothbart und Bates
2006) und während des 2. Lebensjahres beginnen die Kinder herumzualbern und sind erfreut, wenn sie andere zum Lachen bringen. Im Kindergarten- und Grundschulalter nehmen vor allem starke positive Emotionsäußerungen in sozialen Situationen ab, vermutlich, weil Kinder lernen, ihre Gefühle zu kontrollieren. Was Kinder zum Lächeln und Lachen bringt, ändert sich mit dem Alter und der kognitiven Entwicklung. So fangen Kinder im Vorschulalter an, Witze und Wortspiele lustig zu finden. In der mittleren Kindheit werden die Akzeptanz durch Gleichaltrige und die Zielerreichung immer bedeutsamer, und Erfolge in diesen Bereichen werden wichtige Quellen von Freude und Stolz (vgl. Siegler et al.
2020).
Die erste negative Emotion
, die Säuglinge erkennen lassen, ist ein allgemeines Missbehagen, das durch Hunger und Schmerz oder auch Überstimulierung ausgelöst werden kann und durch Distress-Schreien erkennbar ist. Beim zwei Monate alten Kind kann man schon klar zwischen Hunger- und Schmerzschreien unterscheiden. Mit vier Monaten scheinen sich Säuglinge vor unbekannten Objekten und Ereignissen in Acht zu nehmen. Im Alter von ungefähr sechs oder sieben Monaten beginnen dann deutliche Anzeichen von Angst aufzutreten, insbesondere vor Fremden, die sich zunächst weiter verstärkt und dann etwa bis zum 2. Lebensjahr fortbesteht. Allerdings variiert die Angst vor Fremden stark (Sroufe
1995) und wird unter anderem vom Temperament des Kindes beeinflusst. Im Alter von etwa sieben Monaten entwickeln sich auch andere Ängste, beispielsweise vor lauten Geräuschen oder plötzlichen Bewegungen, die bis zum Alter von etwa 12 Monaten in der Regel zu- und danach wieder abnehmen. Mit etwa acht Monaten beginnt die Trennungsangst, die normalerweise bis zum 15. Lebensmonat anwächst und dann beginnt wieder abzuklingen. Wenn sich im Vorschulalter die kognitive Fähigkeit der Kinder entwickelt, fiktive Phänomene zu repräsentieren, beginnen sie oft, Fantasiegestalten wie Geister oder Monster zu fürchten. Solche Ängste vermindern sich dann im Grundschulalter wahrscheinlich aufgrund des besseren Realitätsverständnisses wieder. Stattdessen sind die Ängste von Schulkindern allgemein auf wichtige reale Inhalte bezogen (wenn auch manchmal in übertriebener Weise), wie die Anforderungen in der Schule (Klassenarbeiten und Noten, aufgerufen zu werden, den Lehrern zu gefallen), Gesundheit (die eigene und die der Eltern) und persönliche Verletzung (beraubt, überfallen oder erschossen zu werden).
Wut
hebt sich von anderen negativen Emotionen im Alter von vier bis acht Monaten ab. Im Verlauf des 2. Lebensjahres, wenn die Kinder fähiger werden, ihre Umwelt zu kontrollieren, regen sie sich immer häufiger auf, wenn man ihnen die Kontrolle entzieht oder wenn sie auf andere Weise frustriert sind (Sullivan und Lewis
2003). Die Ursachen von Wut verändern sich, wenn die Kinder in den ersten Schuljahren ein besseres Verständnis der Intentionen und Motive anderer entwickeln. So wird ein Kind im frühen Kindergartenalter Ärger empfinden, wenn es von einem Gleichaltrigen geschubst wird, unabhängig davon, ob der Schubs nun beabsichtigt war oder nicht. Kinder im Grundschulalter sind hingegen seltener wütend, wenn sie glauben, dass andere ihnen unbeabsichtigt Schaden zugefügt haben (Siegler et al.
2020).
Traurigkeit
zeigen Kleinkinder oft in denselben Situationen, in denen sie auch Ärger zeigen, z. B. nach einem schmerzhaften Ereignis oder wenn sie etwas nicht kontrollieren können. Wenn ältere Säuglinge oder Kleinkinder von ihren Eltern über eine längere Zeitspanne getrennt sind und man sich während dieser Zeit nicht einfühlsam um sie kümmert, zeigen sie oft intensive und lang anhaltende Anzeichen von Traurigkeit (Bowlby
1973).
Verlegenheit
, Stolz
, Scham
und Schuld
sind selbstbezogene Emotionen, weil sie mit der Entwicklung einer elementaren Wahrnehmung der eigenen Person verknüpft sind sowie mit der Erkenntnis, dass andere auf die eigene Person, das Selbst, reagieren. Sie entstehen etwas später als die meisten anderen Emotionen, wahrscheinlich während des 2. und 3. Lebensjahres (Thompson
2006). Im Alter von ungefähr 15–24 Monaten beginnen einige Kinder, Verlegenheit zu zeigen, wenn sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Die ersten Anzeichen von Stolz zeigen sich beispielsweise im lächelnden Blick der Kinder gegenüber anderen, wenn sie eine Herausforderung erfolgreich bewältigt haben. Schuldgefühle nehmen im Zusammenhang mit schlechtem oder verletzendem Verhalten zwischen dem 2. und 3. Lebensjahr zu (Siegler et al.
2020).
Entwicklung von Emotionsregulation
Die Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu regulieren, ist während des ganzen Lebens entscheidend, um eigene Ziele zu erreichen und zwischenmenschliche Beziehungen zu gestalten. Diese emotionale Selbstregulierung ist ein komplexer Prozess und schließt unter anderem das Initiieren, Hemmen und Modulieren der folgenden Komponenten emotionaler Funktionen ein (Siegler et al.
2020):
1.
Innere Gefühlszustände (die subjektive Erfahrung von Emotionen).
2.
Emotionsbezogene Kognitionen (z. B. Gedanken über eigene Wünsche und Ziele, die Interpretation einer emotionsauslösenden Situation oder auch die Selbstbeobachtung der eigenen Gefühlszustände).
3.
Emotionsbezogene physiologische Prozesse (z. B. Pulsfrequenz, hormonelle oder andere physiologische Reaktionen einschließlich der neuronalen Aktivität, die mit der Regulierung der Gefühlszustände und der Gedanken einhergehen).
4.
Emotionsbezogenes Verhalten (z. B. Handlungen, Gestik oder Mimik in Verbindung mit Emotionen).
Die Selbstregulation eigener Emotionen und des emotionalen Verhaltens verändert sich mit dem Alter. Säuglinge müssen sich noch ganz darauf verlassen, dass ihnen Erwachsene helfen, ihre Emotionen zu regulieren. Sie werden leicht von lauten Geräuschen, abrupten Bewegungen, Hunger oder Schmerz überwältigt und müssen sich auf ihre Bezugspersonen verlassen, um wieder beruhigt zu werden.
Die Regulierung der Emotionen gelingt in der frühen Kindheit immer besser, beispielsweise indem Kinder ihre Aufmerksamkeit auf etwas Anderes richten, sich selbst beruhigen oder sich mit anderen Aktivitäten ablenken. Ihre Fähigkeit, Handlungen zu unterdrücken, verbessert sich mit dem Alter. Im Alter von neun bis 12 Monaten beginnen die Kinder, sich der elterlichen Forderungen bewusst zu werden, und regulieren ihr Verhalten entsprechend (Kopp
1989). Diese Entwicklung kindlicher Kontrollfunktionen, bei denen Aufmerksamkeit und Verhalten aktiv initiiert, moduliert oder gehemmt wird, wird als „effortful control
“ bezeichnet (Kochanska et al.
2000). Jüngere Kinder regulieren ihre negativen Emotionen vor allem, indem sie Verhaltensstrategien anwenden und sich beispielsweise durch Spielen ablenken. Ältere Kinder nutzen zusätzlich kognitive Strategien, insbesondere Problemlösen, um sich auf emotional schwierige Situationen einzustellen (Zimmer-Gembeck und Skinner
2011). So können sie sich z. B. auf positive Aspekte einer negativen Situation konzentrieren oder an etwas ganz Anderes denken. Kinder können schließlich zunehmend besser mit negativen Situationen umgehen, indem sie immer besser zwischen kontrollierbaren und nicht kontrollierbaren Belastungen unterscheiden lernen. Außerdem gelingt es ihnen zunehmend besser Strategien zum Belohnungsaufschub einzusetzen. In der
Pubertät tragen die neurobiologischen Veränderungen im Kortex zur weiteren Verbesserung der Selbstregulierung bei und vermutlich auch zur Reduktion von Risikoverhalten beim Übergang von der Pubertät ins frühe Erwachsenenalter (Steinberg
2010).
Temperament
Obwohl die Entwicklung der Emotionen und der Emotionsregulation insgesamt bei allen Kindern ziemlich ähnlich abläuft, gibt es große individuelle Unterschiede, die vermutlich genetisch mitbedingt sind, wobei auch Stressoren in der Umwelt eine relevante Rolle spielen (Saudino und Wang
2012).
Säuglinge unterscheiden sich schon von Geburt an sehr stark in ihrer emotionalen Reaktionsfähigkeit. Daher liegt es nahe, dass sie mit unterschiedlichen emotionalen Eigenschaften geboren werden, die als Temperamentsmerkmale bezeichnet werden und die als veranlagungsbedingte individuelle Unterschiede der emotionalen, motorischen und aufmerksamkeitsbezogenen Reagibilität und Selbstregulierung definiert werden (Rothbart
2011). Solche Temperamentseigenschaften erweisen sich über Situationen hinweg als konsistent und im Zeitverlauf als relativ stabil. Die Pionierarbeit auf dem Gebiet der Temperamentforschung war die New Yorker Langzeitstudie (Thomas und Chess
1977), die auf der Basis von Elterninterviews drei Gruppen von Säuglingen identifizierten:
-
Sog. einfache Babys, die sich leicht auf neue Situationen einstellen und als vergnügt und leicht zu beruhigen eingeschätzt werden.
-
Schwierige Babys reagieren dagegen eher negativ und intensiv auf neuartige Reize und sind in ihren Alltagsroutinen und Körperfunktionen unregelmäßig.
-
Langsam auftauende Babys reagieren zunächst etwas schwierig, werden mit der Zeit aber einfacher, sobald sie wiederholt mit neuen Gegenständen, Menschen und Situationen in Berührung gekommen waren.
Neuere Studien legen jedoch nahe, dass das Temperament des Kleinkindes durch sechs Dimensionen erfasst werden kann (Rothbart und Bates
2006):
1.
Angstvolles Unbehagen und Hemmung in neuen Situationen.
2.
Reizbares Unbehagen (Aufgeregtheit, Wut und Frustration), besonders wenn das Kind nicht tun darf, was es will.
3.
Aufmerksamkeitsspanne und Ausdauer bei Objekten oder Ereignissen, die von Interesse sind.
4.
Aktivitätsniveau, d. h. wie stark ein Kind sich bewegt (z. B. die Arme bewegen, treten, krabbeln).
5.
Positiver Affekt und Annäherung bei Menschen sowie Kooperationsbereitschaft und Folgsamkeit.
6.
Rhythmus, d. h. die Regelmäßigkeit und Vorhersagbarkeit der Körperfunktionen des Kindes, beispielsweise beim Essen und Schlafen.
Diese Merkmale bleiben über längere Zeit relativ stabil. So zeigen Kinder, die als Säuglinge bei neuartigen Reizen Verhaltenshemmungen erkennen ließen, im Alter von zwei Jahren ebenfalls ein erhöhtes Angstniveau in neuen Situationen und im Alter von viereinhalb Jahren eine erhöhte soziale Hemmung. Vergleichbare Stabilitätsmuster zeigten sich bei Kindern, die im Alter von drei Jahren eher zu negativen Emotionen neigten und die auch mit sechs oder acht Jahren häufiger negativer gestimmt sind (Guerin und Gottfried
1994), während Kinder, die zu positiver Stimmung neigen, über den gleichen Zeitraum hinweg eher positiv gestimmt bleiben (Sallquist et al.
2009). Auch die Regulierung von Aufmerksamkeit und Verhalten bleibt von der Kindheit bis ins Jugendalter relativ stabil. Solche relativ hohen Stabilitäten wurden auch in der Dunedin-Study, einer großen Längsschnittstudie in Neuseeland, belegt. Kinder, die in jungen Jahren negativ, impulsiv und unreguliert waren, hatten als Jugendliche oder junge Erwachsene häufiger Anpassungsprobleme, zeigten häufiger dissoziales Verhalten (Caspi et al.
1995) und hatten auch mit 32 Jahren häufiger mit Substanzabhängigkeit, Delinquenz und Spielsucht zu tun (Slutske et al.
2012).
Moralische Entwicklung
Piagets Buch über das moralische Urteil beim Kinde (Piaget
1990) legte die Grundlage der kognitiven Theorien über die Entwicklung des Moralempfindens. In diesem grundlegenden Werk beschrieb Piaget, wie sich das moralische Denken von Kindern von der starren Übernahme der Gebote und Regeln von Autoritätspersonen hin zu einem Verständnis von veränderbaren moralischen Regeln als einem Ergebnis sozialer Interaktionen verändert. Unter diesem Konzept von Piaget beschrieb Kohlberg (
1976) auf der Basis von Langzeitbeobachtungen eine diskontinuierliche Abfolge von qualitativ unterschiedlichen Stufen, in der sich das moralische Denken und Urteilen von Kindern und Jugendlichen entwickelt (Siegler et al.
2020).
Kohlberg erfasste das moralische Urteil, indem er Kindern hypothetische moralische Dilemmata präsentierte und sie dann über Aspekte befragte, die diese Dilemmata kennzeichneten. Auf dieser Basis unterschied Kohlberg drei Ebenen des moralischen Urteils: das präkonventionelle, das konventionelle und das postkonventionelle (oder prinzipientreue) Niveau:
-
Präkonventionelles Denken zielt darauf ab, Belohnungen zu bekommen und Strafen zu vermeiden.
-
Konventionelles moralisches Denken ist an sozialen Beziehungen orientiert und konzentriert sich auf die Übereinstimmung mit sozialen Pflichten und Gesetzen.
-
Postkonventionelles moralisches Denken richtet sich an Idealen aus und konzentriert sich auf moralische Prinzipien.
Jedes dieser drei Niveaus umfasst zwei Stufen des moralischen Urteils. Kohlbergs Theorie und seine empirischen Befunde lösten zahlreiche Kontroversen aus. So werden in diesem Konzept kulturelle Unterschiede in der moralischen Entwicklung nicht abgebildet und die Kohlbergs Dilemmata und sein Bewertungssystem scheinen vor allem Ausdruck einer intellektualisierten westlichen Auffassung von Moral zu sein (Simpson
1974). So wird in manchen Gesellschaften die Aufrechterhaltung von Gruppenharmonie oder der Gehorsam gegenüber Autoritäten, Älteren oder religiösen Geboten höher bewertet als die Prinzipien der Freiheit und der individuellen Rechte, was sich dann auch in den moralischen Urteilen von Kindern widerspiegelt. Weitere Studien weisen darauf hin, dass das Konzept der qualitativen Stufen in der moralischen Entwicklung nicht aufrechterhalten werden kann. Vielmehr scheinen Kinder und Jugendliche parallel verschiedene Stufen der moralischen Entwicklung zu nutzen, wenn diese mit ihren Zielen, Motiven oder Überzeugungen in einer bestimmten Situation übereinstimmen (Siegler et al.
2020).
Entwicklung des Selbst und der Identität
Das Selbst
beschreibt ein System von Konzepten, das aus Gedanken und Einstellungen zu sich selbst besteht und Kognitionen über das eigene materielle Dasein (z. B. Körper, Eigentum), die eigenen sozialen Merkmale (z. B. Beziehungen, Persönlichkeit, soziale Rollen) und auch intrapsychische Vorgänge, wie das eigene Denken und Fühlen einschließen. Die Vorstellung des Kindes vom Selbst entsteht in den ersten Lebensjahren, besonders in Interaktion mit anderen wichtigen Menschen, und entwickelt sich weiter bis ins Erwachsenenalter. Im Grundschulalter differenzieren Kinder ihre Vorstellungen vom Selbst durch soziale Vergleiche bezüglich ihrer Eigenschaften, Verhaltensweisen und Besitzstände weiter aus. Die Vorstellungen der Kinder vom Selbst verändern sich im Laufe der Adoleszenz grundlegend, vermutlich auch weil sich in diesem Entwicklungsabschnitt das abstrakte Denken herausbildet. Dabei werden Jugendliche auch mit den Widersprüchen in ihrem Verhalten und ihren Eigenschaften konfrontiert und sie befassen sich zunehmend mit der Frage „Wer bin ich?“ (Broughton
1978). Obwohl Jugendliche in der Spätadoleszenz besser in der Lage sind als in den Jahren zuvor, Widersprüche bei sich zu erkennen und sie sich wegen dieser Unstimmigkeiten häufig im Konflikt befinden, gelingt es noch nicht diese Widersprüche zu einem kohärenten Selbstkonzept zu integrieren. Diese Identitätsentwicklung mit der Festlegung auf bestimmte persönliche, berufliche, sexuelle und weltanschauliche Rollen wurde vor allem von Erikson (
1968) untersucht.
In der Nachfolge von Eriksons Darstellung der Identitätsentwicklung
wurden vier Identitätskategorien herausgearbeitet:
-
Im Zustand der Identitätsdiffusion hat sich eine Person in Bezug auf eigene Werte und Rollen noch nicht eindeutig festgelegt.
-
Im Zustand der übernommenen Identität entwickelt die Person eine berufliche und weltanschauliche Identität, die aber im Wesentlichen auf der Übernahme der Werten anderer beruht.
-
Im Zustand des Moratoriums erkundet die Person verschiedene berufliche und weltanschauliche Optionen, legt sich aber auf keine davon bereits fest.
-
Im Zustand der erarbeiteten Identität hat die Person eine kohärente und gefestigte Identität erreicht, die auf persönlichen Entscheidungen über Beruf, Weltanschauung oder sexueller Orientierung beruht. Die Person ist überzeugt, dass sie diese Entscheidungen eigenständig getroffen hat und sie fühlt sich ihnen verpflichtet (vgl. Siegler et al.
2020).
Empirische Studien zeigen, dass sich die meisten jüngeren Jugendlichen im Zustand der Identitätsdiffusion oder der übernommenen Identität befinden und dass der Anteil von Jugendlichen im Moratoriumszustand zwischen dem 17. und 19. Lebensjahr am höchsten ist (Nurmi
2004). Im weiteren Verlauf der Adoleszenz und im frühen Erwachsenenalter wird meist der Zustand der erarbeiteten Identität erreicht (Kroger et al.
2010).
Entwicklung von Gleichaltrigenbeziehungen
Gleichaltrige, vor allem Freunde, beeinflussen die sozial-emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in erheblichem Maße. Schon sehr junge Kinder bevorzugen manche Kinder. Bereits im 2. Lebensjahr spielen Kinder mit Freunden komplexere und kooperativere Spiele als mit Nichtfreunden. Kinder befreunden sich in der Regel mit Kindern, die hinsichtlich Alter, Geschlecht und Ethnie mit ihnen übereinstimmen und die sich hinsichtlich ihrer Aggressivität, Geselligkeit und Kooperation ähnlich verhalten (Siegler et al.
2020). Mit dem Alter vergrößern sich die Spielgruppen und ab dem Kindergartenalter bilden sich Dominanzhierarchien. In der mittleren Kindheit gehören die meisten Kinder Gruppen gleichgeschlechtlicher Gleichaltriger an, deren Mitglieder sich häufig hinsichtlich Aggressivität und ihrer Einstellung zur Schule ähneln.
Anhand soziometrischer Urteile lassen sich beliebte Kinder von abgelehnten und ignorierten Kindern abgrenzen. Beliebte Kinder sind meistens sozial geschickt, prosozial und können ihre Emotionen und ihr Verhalten gut regulieren. Kinder, die von ihren Peers abgelehnt werden, verhalten sich häufig (aber nicht immer) aggressiv oder sind sozial zurückgezogen. Abgelehnte aggressive Kinder besitzen geringe soziale Fähigkeiten, unterstellen anderen oft feindliche Absichten und verfügen nicht über konstruktive Strategien der Konfliktlösung. Kinder, die sich zwar von ihren Gleichaltrigen zurückziehen, sich jedoch nicht aggressiv verhalten, werden später im Grundschulalter häufig abgelehnt. Ignorierte Kinder, die von ihren Peers weder positiv noch negativ nominiert werden, sind meist weniger kontaktfreudig. Beliebte oder abgelehnte Kinder zeichnen sich in zahlreichen Kulturen durch ähnliche Eigenschaften aus, wobei ein sehr zurückhaltendes Verhalten in einigen ostasiatischen Kulturen stärker wertgeschätzt sein kann. Die Ablehnung durch Gleichaltrige in der Kindheit, besonders aufgrund von Aggressivität sagt späteren sozialen Rückzug, Einsamkeit und Depressivität vorher.
Die Vorstellung von Freundschaft
ändert sich bei Kindern mit dem Alter. Jüngere Kinder definieren Freundschaft vorwiegend auf der Basis der Aktivitäten mit ihren Gleichaltrigen. Mit zunehmendem Alter werden auch Aspekte wie Loyalität, gegenseitiges Verständnis, Vertrauen, Gegenseitigkeit und Selbstoffenbarung wichtige Komponenten von Freundschaften. Freunde zu haben, wirkt sich positiv auf die Entwicklung sozialer Kompetenzen und auf Anpassungsleistungen aus. Jugendliche Freunde nutzen Freundschaften als eine Arena zur Selbsterkundung und zur Lösung persönlicher Probleme sowie als Quelle aufrichtiger Rückmeldung (Siegler et al.
2020).
Im Jugendalter verringert sich meist die Bedeutung von sozialen Gruppen und Jugendliche gehören oft mehr als einer Gruppe an. Mit zunehmendem Alter sind Jugendliche nicht nur autonomer, sondern orientieren sich mehr an individuellen Beziehungen als an sozialen Gruppen, wenn es um die Befriedigung ihrer sozialen Bedürfnisse geht. In der Adoleszenz treffen männlichen und weibliche Jugendliche häufiger zusammen, sowohl im Rahmen sozialer Gruppen als auch in Zweierbeziehungen. Unter bestimmten Umständen kann die Gleichaltrigengruppe zur Entwicklung von unsozialem Verhalten, Alkoholkonsum und Drogenmissbrauch beitragen, wobei sich jedoch auch Gleichaltrige mit ähnlichen Problemen im Sozialverhalten in Gruppen zusammenfinden können.