Intervention im schulischen Kontext
Wenn Eltern im schulischen Kontext nach Hilfe suchen, sind Beratungslehrer, Schulsozialarbeiter oder Schulpsychologen (vor Ort an der Schule oder über den schulpsychologischen Dienst) die richtigen Ansprechpartner. Letztere bieten Beratungsgespräche für Betroffene, Schulungen von Lehrkräften, Interventionen an Schulen und Begleitung bei Schulwechsel von Betroffenen an. Auch die polizeiliche Kriminalprävention kann ein kompetenter Ratgeber zum Thema Mobbing, speziell bei Cybermobbing und Körperverletzung sein.
Dennoch sollten sich alle Erwachsenen an der Schule für das Beenden von Mobbing-Vorfällen verantwortlich fühlen und darin geschult sein, um sich kompetent und sicher zu fühlen und dies auch ihren Schülern zu vermitteln.
Bei der Intervention auf schulischer Ebene muss zwischen dem unmittelbaren Eingreifen in eine beobachtete Situation („on the spot“) und der konsequenten Nachverfolgung und Nachbereitung der Vorkommnisse unterschieden werden. Für Ersteres empfiehlt Olweus im Rahmen seines Programms das sog. 6-Schritte-Modell
(Olweus und Limber
2007).
Wird bei unakzeptablen oder unklaren Situationen konsequent eingegriffen, werden wichtige Signale gesendet: Unterstützung für den (möglicherweise) betroffenen Schüler; die Fähigkeit und Bereitschaft, in die Situation einzugreifen sowie eine Botschaft an die unbeteiligten Zuschauer. Das Einschreiten der Erwachsenen minimiert den Gewinn, den der Täter aus dem Mobbing zieht. Olweus empfiehlt, lieber zu oft als zu selten einzugreifen, denn es ist kein Problem, sich zurückzuziehen, wenn sich herausstellt, dass die Situation unproblematisch ist.
Auf die sofortige Intervention im sog. Schlüsselmoment folgt die Nachbereitung in Form von Einzelgesprächen. Wurde das Mobbing nicht direkt beobachtet, sondern es besteht lediglich ein Verdacht, sollten im Vorfeld Informationen eingeholt und dokumentiert werden (Befragung von Mitschülern und/oder Kollegen, Verhaltensbeobachtungen, Soziogramme etc.). Im vertraulichen Einzelgespräch wird zunächst mit dem Opfer, dann nacheinander mit den Tätern, das Geschehene reflektiert. Bei wiederholten oder massiven Vorfällen sollten ebenfalls die Eltern hinzugezogen werden.
Im Gespräch mit dem Opfer hat der Betroffene zunächst die Möglichkeit zu erzählen, wie es ihm geht. Die wichtigste Botschaft ist die, dass die Erwachsenen künftig darauf achten werden, das Mobbing zu stoppen. Sie übernehmen die Verantwortung. Es sollte dem Betroffenen die Angst vor Rache genommen werden und er wird ermutigt, evtl. erneute Vorfälle unmittelbar zu melden. Dem Opfer wird versichert, dass es keine Schuld an den Vorkommnissen trägt. Ein weiterer verbindlicher Gesprächstermin zur Nachverfolgung wird vereinbart, um den Erfolg der ergriffenen Maßnahmen zu überprüfen.
Die Täter sollten darauf hingewiesen werden, dass Informationen zu ihrem unakzeptablen Verhalten aus mehreren Quellen vorliegen. Das minimiert das Risiko für Racheakte am Opfer und die Versuche, sich aus der Situation herauszureden. Es wird klar gemacht, dass Mobbing an dieser Schule nicht akzeptiert wird und dass die Erwachsenen dafür sorgen werden, dass es aufhört. Sollte der Täter versuchen, die Vorkommnisse abzustreiten, sollten klare Beispiele dokumentiert vorliegen. Versucht ein Täter, die Schuld auf seine Mittäter abzuwälzen, wird ihm vermittelt, dass in diesem Gespräch ausschließlich sein Verhalten im Mittelpunkt steht und dass ebenfalls Gespräche mit den Mittätern geführt werden bzw. wurden. Dem Täter werden klare Konsequenzen benannt und auch mit ihm wird ein Folgetermin zur Überprüfung vereinbart, um sicherzustellen, dass das Mobbing nachhaltig gestoppt wurde. Dem Täter wird dennoch niemals feindselig begegnet. Es wird nicht seine Persönlichkeit als Ganzes angegriffen, sondern sich stets konkret auf das unerwünschte Verhalten bezogen. Oberste Priorität bei Olweus hat der Schutz des Opfers.
Eine etwas andere Herangehensweise, die in Deutschland weit verbreitet ist, ist der sog. No Blame Approach
(Blum und Beck
2016). Dieses lösungsorientierte Vorgehen arbeitet ohne Schuldzuweisung und Sanktion, auch wird sich weniger auf vergangene Vorfälle bezogen. Ziel ist es vielmehr, konkrete Ideen zu entwickeln, die eine bessere Situation für den von Mobbing betroffenen Schüler herbeiführen. Im Rahmen der Intervention werden Schüler dafür gewonnen, bei der Lösung des Mobbings mitzuhelfen. Die Intervention erfolgt in 3 Schritten:
1.
Das Gespräch mit dem Opfer: Ziel des Gesprächs ist es, das Vertrauen des Schülers für die geplante Vorgehensweise zu gewinnen und Zuversicht zu vermitteln, dass sich die belastende Situation beenden lässt. Insistierendes Nachfragen wird vermieden, auch wird nicht nach den genauen Details des Mobbings gefragt, lediglich die Tätergruppe muss benannt werden.
2.
Bildung einer Unterstützungsgruppe: 6–8 Personen (Haupttäter, Mitläufer und unbeteiligte Zuschauer) bilden eine Helfergruppe und werden zu einem Treffen eingeladen, bei dem gemeinsam eine Lösung der problematischen Situation erarbeitet wird.
3.
Nachgespräche: Nach ca. 1–2 Wochen wird in Einzelgesprächen mit den Mitgliedern der Unterstützergruppe und dem Opfer gesprochen, um zu prüfen, wie sich die Situation in der Zwischenzeit entwickelt hat.
Deutschlandweit haben sich bereits mehr als 15.000 Personen in der Anwendung des No Blame Approachs qualifiziert. Im Gegensatz zum Olweus Bullying Prevention Program (Abschn.
7.3) beläuft sich die positive Evaluation dieses Konzepts allerdings auf die sehr kleine Datenbasis von knapp 200 Fällen, wohingegen zu Olweus Daten von mehr als 100.000 norwegischen und amerikanischen Schülern der letzten 30 Jahre vorliegen und das Programm auch von unabhängigen Experten empfohlen wird. Zudem stellt das Olweus-Programm ein umfassendes und schwerpunktmäßig präventives Programm dar, das die gesamte Lehrer- und Schülerschaft einbindet, während es sich beim No Blame Approach um ein reines Interventionskonzept für einzelne ausgebildete Lehrer handelt. Es ist fraglich, inwieweit reine Intervention auf individueller Ebene effektiv sein kann, wenn sie nicht durch Maßnahmen auf Schul- und Klassenebene ergänzt wird.
Intervention im klinischen Kontext
Wirkt der Betroffene psychisch stark belastet und droht die Verfestigung psychopathologischer Symptome, sollte er bei einem Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder Kinder- und Jugendpsychiater vorstellig werden. Anerkannte, spezifische Therapiekonzepte für Betroffene sucht man jedoch weitestgehend vergeblich. Die Therapie von Mobbing und den damit einhergehenden Folgen ist ein bisher in der Forschung vernachlässigtes Thema. So ergab ein aktuelles systematisches Review zur Intervention und Therapie von Schulmobbing lediglich zehn Therapiestudien mit kontrolliertem Design (Hess et al.
2017). Hierbei zeigte sich, dass Behandlungsangebote, die sich sowohl an die betroffenen Personen als auch an ihr soziales Umfeld richten, besonders effektiv in der Behandlung von Mobbing-Folgen sind. Es wurden sowohl Einzel- als auch Gruppen- oder Familienmaßnahmen eingesetzt. Klientenzentrierte und kognitiv verhaltenstherapeutische Interventionen, Gruppentrainings für soziale Fertigkeiten, Psychodrama-Techniken,
interpersonelle Psychotherapie und familientherapeutische Interventionen waren am häufigsten vertreten. Insgesamt ergab sich eine moderate Effektivität der berichteten Verfahren. Im Einzelnen konnten folgende Behandlungsansätze bei Opfern stabile positive Effekte erzielen:
-
die kognitiv behaviorale Familienintervention (Healy und Sanders
2014): Reduktion von Viktimisierung, emotionalem Distress und internalisierenden Symptomen sowie Entwicklung von Coping-Strategien;
-
die kognitiv behaviorale Gruppenintervention mit begleitendem Elternprogramm (Berry und Hunt
2009): Rückgang von Viktimisierung und Angst.
Erfolgversprechende Behandlungsalternativen zur Reduktion internalisierender Symptome bieten zudem die Psychodrama-Intervention (Jamshidi et al.
2014) sowie die individuelle
interpersonelle Psychotherapie (Tang und Huang
2013), wobei hier noch weitere Evaluationsstudien zum Nachweis der Effektivität dieser Maßnahmen ausstehen.
Im Allgemeinen bieten sich Techniken aus der Therapie von Depression und Angst sowie auch der
posttraumatischen Belastungsstörung an, um Betroffene zu stabilisieren und künftige Opferwerdung zu verhindern. Die Stärkung des Selbstwerts, der Ausbau sozialer Fähigkeiten und ausgleichender Begabungen, die Aktivierung von Ressourcen, die Verbesserung von Coping-Fertigkeiten sowie die Förderung von Stress-Resilienz stehen dabei als mögliche Strategien im Vordergrund. Vermeidung ist bei Mobbing eine sehr häufige Strategie der Kinder und Jugendlichen, die im therapeutischen Prozess angegangen werden sollte. Hier können Strategien der Desensibilisierung und Exposition eingesetzt werden. Ergänzend erscheinen Selbstbehauptungs- bzw. soziale Kompetenztrainings und das Erlernen von Entspannungstechniken sinnvoll. Von zentraler Bedeutung ist es, die Thematik ernst zu nehmen und Versuche des Kindes, Kontakte nach außen zu knüpfen zu unterstützen, um alternative positive Erfahrungen zu ermöglichen. Der Behandler sollte immer gut mit dem Betroffenen im Gespräch sein, da es sich bei Mobbing um ein hoch schambesetztes Thema handelt und es große Überwindung kostet, sich anzuvertrauen. Auch die
Psychoedukation hat einen wichtigen Stellenwert im therapeutischen Verlauf: Der Betroffene hat nicht selbst Schuld, weil er komisch oder anders ist. Es handelt sich nicht um manifeste persönliche Eigenschaften, sondern variable soziale Rollen. So kann es gelingen, hinaus aus der Ohnmacht im Sinne einer erlernten Hilflosigkeit zu finden. Ob ein Schulwechsel erforderlich ist, sollte immer im Einzelfall gemeinsam mit Eltern, Lehrern und Betroffenen abgewogen werden. In besonders schweren Fällen ist ein Settingwechsel evtl. angebracht, inwiefern das tatsächlich zu einer Reduktion des Mobbings beiträgt ist allerdings empirisch nicht gesichert. In jedem Fall sollte sorgsam geprüft werden, ob ein Schulwechsel Aussicht auf Erfolg hat. Liegen schwere interaktionelle Probleme im Sinne einer ubiquitären Prädisposition vor? In diesem Fall kann davon ausgegangen werden, dass sich diese sozialen Probleme auch in neuer Umgebung zeigen. Oder handelt es sich um eine ungünstige Entwicklung, die an den jetzigen Schulstandort geknüpft ist?
Evidenzbasierte, gezielte Interventionen zur Behandlung von Mobbing und dessen Folgen werden dringend benötigt, um zeitnah, aber auch über die Beendigung des eigentlichen Mobbingprozesses hinaus, mit den Betroffenen effektiv therapeutisch arbeiten zu können. Mobbing-Täterschaft oder -Opferstatus stellen keine Diagnose im Sinne der ICD-10 oder des
DSM-5 dar. Bei den Vorstellungsanlässen der Opfer handelt es sich daher zumeist um die Folge-Störungen Depression, Suizidversuch,
Angststörungen, Schulphobie,
posttraumatische Belastungsstörung oder
akute Belastungsreaktion. In der Regel erfolgt keine gezielte Behandlung der Opferproblematik, sondern dieser aufgeführten Störungen. In Ermangelung einer ursächlichen Zugriffsmöglichkeit auf das Mobbing behandelt der Therapeut also symptombezogen statt ursächlich. Hess und Kollegen (
2017) empfehlen daher die Aufnahme eines „Bullyingsyndroms“, das mit verschiedenen psychopathologischen Auffälligkeiten assoziiert ist. Dieses könne sowohl die Forschung zum Phänomen Mobbing als auch die klinische Versorgung der Betroffenen verbessern.
Prävention im schulischen Kontext
Mobbing ist ein systemisches soziales Problem, der Umgang damit die kollektive Verantwortung aller an der Schule. Wie bereits in Abschn.
4.4 beschrieben, stellt das schulische Umfeld einen wichtigen Risiko- bzw. Schutzfaktor in der Entstehung von Mobbing dar.
Im Kontext Schule können zentrale Ursachen und Aufrechterhaltungsmechanismen von Mobbing positiv beeinflusst werden. Insbesondere primär-präventive Programme für die gesamte Schule erscheinen vielversprechend.
Zudem müssen die ökonomischen Konsequenzen von Mobbing bedacht werden, die u. a. durch eine Überbeanspruchung des Gesundheitssektors durch Betroffene und verschlechterte schulische Leistungen und damit einhergehende spätere Produktivitätsverluste verursacht werden. Auch die Prävention von antisozialem oder kriminellem Verhalten der Mobbing-Täter würde eine erhebliche Kostenreduktion versprechen. Die potenzielle Kosteneffizienz von Interventionen ist heutzutage ein sehr wichtiger Entscheidungsfaktor bei der Vergabe von Ressourcen, wird jedoch im Bildungssektor bislang kaum berücksichtigt. Die zunächst hoch erscheinenden Kosten primärer Präventionsprogramme führen oftmals dazu, dass keine oder nur verwässerte Maßnahmen gegen Mobbing ergriffen werden, obwohl viele Schulen den Handlungsbedarf im Problemfeld erkennen. Der langfristige Nutzen effektiver Mobbingprävention und die hohen, durch Mobbing verursachten Kosten werden meist nicht erkannt. Es besteht daher die Notwendigkeit, über die klinische und psychosoziale Dimension von Mobbing hinaus eine ökonomische Bewertung vorzunehmen. Es existieren Hinweise dafür, dass die effektive Prävention von Mobbing nicht nur individuelle negative Entwicklungen verhindern, sondern auch enormen volkswirtschaftlichen Nutzen verursachen könnte. Diese Kostenreduktion sollte in anschließenden Kosten-Nutzen-Analysen den Kosten präventiver Programme gegenübergestellt werden. Schließlich wären finanzielle Einsparungen ein starkes Argument für die Implementierung solcher Programme.
Olweus und Limber (
2010) benennen jedoch vier Herausforderungen, denen bei der Implementierung von schulbasierten Präventionsprogrammen begegnet werden muss:
(a)
Einige Lehrkräfte und Eltern leisten Widerstand, da sie glauben, dass Mobbing an ihrer Schule kein Problem sei.
(b)
Die Anwender wollen einfachere oder schnellere Lösungen anstatt einer dauerhaften Änderung der Schulkultur und der Verhaltensnormen.
(c)
Die Schule wendet bereits Strategien an, die nutzlos oder sogar schädlich sind.
(d)
Die Anwender picken sich die unkomplizierten Programmkomponenten heraus und verzichten auf die aufwendigeren.
Ein Präventionsprogramm kann zudem nur erfolgreich umgesetzt werden, wenn ein Problembewusstsein, Motivation und entsprechende Ressourcen (Finanzierung und zeitlicher Rahmen) vorhanden sind. Oftmals widerspricht ein kontinuierliches Präventionsprogramm dem aktuell vorherrschenden Projektdenken. Ferner sind die deutschen Schulen mit einer unübersichtlichen Programmvielfalt konfrontiert ohne abschätzen zu können, welche Programme sich als effektiv und anwenderfreundlich erweisen.
Eine aktuelle Meta-Analyse zur Wirksamkeit schulbasierter Mobbing-Prävention belegt deren allgemeine Effektivität sowohl auf Opfer- als auch auf Täterseite. Die 100 eingeschlossenen Programmevaluationen ergaben eine Reduktion der Opferrate um 15–16 % (
Odds Ratio = 1,24) sowie der Täterrate um 19–20 % (OR = 1,31), wobei die Effektgrößen der einzelnen Studien erheblich variierten (Gaffney et al.
2018). Lediglich drei deutsche Evaluationsstudien erfüllten die angelegten Einschlusskriterien, wobei es sich um eine Arbeit zum Programm Medienhelden (Chaux et al.
2016) sowie zwei Studien zum fairplayer.manual (Bull et al.
2009; Wölfer und Scheithauer
2014) handelt.
Bei Medienhelden handelt es sich um ein Programm zur Prävention von Cybermobbing. Es beinhaltet eine Stärkung der Empathie und Erhöhung der Sensibilisierung für bzw. des Wissens über Cybermobbing und bietet den unbeteiligten Zuschauern effektive Interventions- und Präventionsstrategien. Die Täterrate kann so signifikant reduziert werden (OR = 1,62; p = .001), für die Opferrate ergab sich jedoch keine signifikante Reduktion (OR = 1,24; p = .26). Das fairplayer.manual basiert auf einem 15-wöchigen Curriculum für Klassen, das durch ausgebildete Lehrer oder externe Trainer vermittelt wird. Ziel hierbei ist die Reduktion von Mobbing durch die Stärkung der sozialen und moralischen Kompetenzen der Schüler durch erhöhte Sensibilisierung, Einstellungsänderung und Ermutigung der unbeteiligten Zuschauer. Die beiden genannten Programmevaluationen ergaben jedoch keine signifikante Reduktion der Mobbingrate durch das Programm, weder für Täter noch für Opfer.
Bedauerlicherweise sind die bislang bestuntersuchten, evidenzbasierten Programme aktuell nicht im deutschen Sprachraum erhältlich. Zu nennen ist an dieser Stelle beispielsweise KiVa (Salmivalli, Universität Turku, Finnland), No Trap! (Palladino, Universität Florenz, Italien) oder das Olweus Bullying Prevention Program (Olweus, Universität Bergen, Norwegen).
Die 41 Studien umfassende Meta-Analyse von Ttofi und Farrington (
2011) gibt darüber hinaus Einblick, welche Programmbausteine sich als besonders effektiv erwiesen haben. Als entscheidend für die Wirksamkeit eines Programms zeigten sich demnach dessen Intensität und Dauer, der Einbezug der Eltern (Elternabend oder -training), die Anwendung von klaren Disziplinierungsmaßnahmen sowie die Bildung einer regelmäßig stattfindenden Steuergruppe. Speziell auf Täterseite zeigten eine verbesserte Aufsicht, Lehrertrainings und klare Klassenregeln den größten Erfolg, auf Opferseite der Einsatz von Videomaterial (Fallbeispiele etc.). Eindeutig empfohlen wurden hier das Olweus-Programm sowie Programme, die auf den Prinzipien von Olweus aufbauen. Daher soll das Programm an dieser Stelle abschließend kurz erläutert werden.
Das Olweus-Programm ist ein Programm für die ganze Schule, d. h. das gesamte Schulpersonal und alle Schüler werden einbezogen. Der Fokus des Programms liegt jedoch auf der Arbeit mit den Erwachsenen. Das Programm arbeitet auf drei Ebenen: Schule, Klasse und einzelner Schüler und hat vier zentrale Bausteine:
1.
Olweus-Gruppen: Diese Kleingruppen von 6–15 Personen umfassen das gesamte Kollegium. In den Kleingruppen wird zunächst das Programm über einen Zeitraum von ca. 18 Monaten erarbeitet. Die Gruppen befassen sich mit folgenden Inhalten: Mechanismen und Formen des Mobbings unterscheiden; Mobbing erkennen, intervenieren und nachhaltig stoppen; prosoziales Verhalten bei Schülern fördern; angemessen verstärken und sanktionieren; systematisch mit Kollegen und Eltern zusammenarbeiten. Im Anschluss an die Implementierungsphase geht das Format der Treffen von einer Studiengruppe in eine gegenseitige Supervision über, konkrete Fälle bzw. andere schwierige soziale Situationen und soziale Themen im weitesten Sinne können besprochen werden.
2.
Gute Klassenleitung („class room management“): Ziel hierbei ist das Schaffen einer ungestörten und positiven Lernumgebung in der Klasse. Dafür sind unter anderem Wissen über die einzelnen Schüler, Beziehungsarbeit, positive Erwartungen und Gespräche erforderlich. Andererseits sind jedoch auch klare Grenzen für inakzeptables Verhalten und eine konsequente Anwendung von angemessenen positiven Verstärkern und negativen Sanktionen nötig. In den Olweus-Gruppen wird ein klar definiertes System von korrigierenden Maßnahmen (Sanktions-Leiter), aber auch ein System positiver Verstärker erarbeitet.
3.
Klassengespräche: Regelmäßig werden Klassengespräche mit den Schülern geführt. Diese geben Einblick in die sozialen Beziehungen der Klasse, fördern ein gutes Klassenklima und etablieren positive soziale Gruppennormen. Die von Klassenlehrkräften angeleiteten Gespräche haben folgende Inhalte: Klassenregeln gegen Mobbing einführen, erläutern, einüben, überwachen und verstärken; den Begriff Mobbing und verschiedene Rollen im Mobbing-Geschehen verstehen; Arbeit mit den Olweus-Materialien (Film, Arbeitsblätter, Diskussionsleitfäden, Rollenspiele etc.).
4.
Pausenaufsicht: Die Pausenaufsicht nach dem Olweus-Prinzip zeichnet sich durch gezielte Präsenz, Konsequenz und Einheitlichkeit aus. Die jährliche, anonyme Olweus-Schülerbefragung gibt Auskunft darüber, wo und unter welchen Umständen Mobbing an der jeweiligen Schule stattfindet. Das Programm thematisiert geeignete Möglichkeiten der Intervention und Weiterverfolgung bei Mobbing-Fällen/Verdachtsfällen und der Verbesserung des Informationsaustauschs zum Pausengeschehen unter den Lehrkräften und liefert Informationen zur Erkennung von direkt beobachtbaren Mobbing-Situationen.
Ergänzend finden, wenn nötig, Interventionen bei Mobbing-Fällen bzw. Verdachtsfällen statt. Die jährliche Schülerbefragung sowie Elterninformation durch Broschüren und Elternabende runden das Programm ab. Jede Schule wird von einem sog. Olweus-Coach begleitet. Dieser erhält eine 5-tägige Ausbildung zum Programm und unterstützt die Schulen in dessen Aufbau.
Das Thema Geschwistermobbing macht jedoch deutlich, dass oftmals häusliches Verhalten auf das schulische Umfeld übertragen wird. Effektive Prävention sollte somit auch das häusliche Umfeld und die Eltern-Kind- sowie Geschwisterbeziehungen berücksichtigen.
Trotz der beschriebenen massiven negativen Auswirkungen von Mobbing sowie der nachgewiesenen Effektivität primärer schulischer Prävention ist diese im deutschen Schulsystem kaum verbreitet bzw. fehlt es an Systematik, klaren Richtlinien und deren Verankerung im Schulgesetz, um dem Problem Mobbing in der Schule zu begegnen. Die Kosten präventiver Programme und der erforderliche Zeitaufwand werden gescheut, der langfristige Nutzen effektiver Mobbing-Prävention und die hohen durch Mobbing verursachten Kosten werden oftmals nicht erkannt. Zudem ist das Angebot an Programmen sehr unübersichtlich und dem Anwender ist unklar, welche Programme sich als effektiv und nutzerfreundlich erweisen. Kosten-Effektivitäts-Studien wären das geeignete Mittel, um fundierte Entscheidungen treffen zu können und sicherzustellen, dass die Vorteile eines präventiven Programms dessen Kosten überwiegen. In vielen Bereichen des Gesundheitswesens ist Kosten-Effektivität und Wirtschaftlichkeit bereits ein zentraler Entscheidungsfaktor, doch in den bildungsbezogenen Bereichen wird sie bislang kaum berücksichtigt. Unsicherer Umgang mit einzelnen Mobbing-Vorfällen und eine Mentalität des Wegschauens (mangelnde Verantwortungsübernahme der Erwachsenen) sind Faktoren, die zur Entstehung von Mobbing beitragen. Wenn alle sich bewusst werden, dass Mobbing nicht ein Problem des Betroffenen ist, sondern vielmehr die gesamte Schulgemeinschaft betrifft und jedes Verhalten der Erwachsenen eine Auswirkung hat, wäre ein Grundstein für die effektive Prävention von Mobbing gelegt.