Definition und Phänomenologie
Akte der Selbstverletzung als Ausdruck emotionaler Überforderung oder religiöser Verzückung sind historisch gesehen nichts Neues. Schon im Mittelalter zogen Flagellanten durch die Städte, die sich mit kurzen Lederpeitschen die Rücken blutig schlugen und dabei schrien, um mit Klagegesängen die Barmherzigkeit Gottes zu erflehen. Selbstgeißelung und Auspeitschung waren dabei einer besonderen Form der Glaubenssehnsucht geschuldet. Kulturübergreifend ist festzustellen, dass auch bei Naturvölkern der Körper geschunden wurde, um Trauer, Angst oder Scham zu bewältigen (Resch
2017). Neben dem individuellen religiösen oder affektiven Beschwörungscharakter kann der Selbstverletzung aber auch schon in frühen Zeugnissen ein gruppenbezogener Aspekt abgewonnen werden: Durch Verletzungsakte und (gegenseitige) rituelle Verwundungen, kann die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder eine klare Abgrenzung vom Rest der Gesellschaft zum Ausdruck gebracht werden. In vielen Kulturen gab und gibt es Pubertätsriten, rituelle Beschneidungen, schmerzhafte Zeremonien, die die Anerkennung der Gruppe oder das Ende der Kindheit kennzeichnen und auf diese Weise zugleich der Zugehörigkeit und Abgrenzung dienen.
Als besonders häufig auftretendes Verhalten bei Jugendlichen haben Selbstverletzungen deutlich an klinischer Relevanz in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zugenommen. Trotz des Versuchs bestimmte Formen der Selbstschädigung als eigenständige diagnostische Entität im Diagnostischen und Statistischen Manual
Psychischer Störungen (
DSM-5, American Psychiatric Association
2018) in der Sektion mit Störungsbildern, welche weiterer Forschung bedürfen, festzumachen, ist das übergeordnete Phänomen des selbstverletzenden Verhaltens weiterhin begrifflich sehr unterschiedlich gefasst. Schon 1938 wurde von Menninger (
1985) der Versuch gemacht, eine neurotische Selbstverstümmelung („neurotic self-mutilation“) definitorisch von suizidalem Verhalten oder gravierenden Selbstverstümmelungen im Rahmen von Psychosen abzugrenzen (s. Übersicht bei Kaess und Edinger
2019). Von Pattison und Kahan (
1983) wurde die Beschreibung eines spezifischen selbstschädigenden Verhaltens mit Gewebeschädigung syndromatisch gefasst („deliberate self-harm“; DSH). Dieser Ansatz ist bis heute in der fachlichen Diskussion von Bedeutung geblieben. Die Frage, ob Selbstverletzungen ein Symptom unterschiedlicher psychischer Erkrankungen darstellen oder ob es sich dabei um eine eigene Krankheitseinheit handelt, konnte bis heute nicht wissenschaftlich entschieden werden. Wir gehen heute davon aus, dass es im englischen Sprachraum über 30 verschiedene Bezeichnungen für selbstverletzende Verhaltensweisen gibt (Plener et al.
2010). Der Ausdruck der absichtlichen Selbstbeschädigung („deliberate self-harm“) konnte sich bis heute in einer Reihe von Studien durchsetzen. Absichtliche Selbstverletzungen beschreiben dabei ein Verhalten mit oder ohne suizidale Intention. Am weitesten verbreitet ist heute die Definition des selbstverletzenden Verhaltens in Abgrenzung von suizidalen Verhaltensweisen: Man spricht von nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten (Non-Suicidal Self-Injury; NSSI
). Seit den 90er-Jahren fand dieser Ausdruck Einzug in die Forschungsliteratur. Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten
wird im deutschsprachigen Raum mit NSSV abgekürzt.
NSSV definiert sich als freiwillige direkte Zerstörung oder Veränderung des Körpergewebes ohne suizidale Absicht, die sozial nicht akzeptiert ist, eine unmittelbar verletzende Auswirkung hat und einen repetitiven Charakter aufweisen kann, wobei sie meist nur zu kleinen oder moderaten Schädigungen führt (Plener et al.
2017).
Als repetitives NSSV
wird definiert, wenn sich die Betroffenen innerhalb eines Jahres an fünf oder mehr Tagen absichtlich selbst eine Schädigung von Körpergewebe zugefügt haben (Kriterium A nach
DSM-5). Nicht als NSSV gelten repetitive Stereotypien im Rahmen von Entwicklungsstörungen oder erhebliche Selbstverletzungen, die ausschließlich im Rahmen von
Intoxikationen oder psychotischen Zuständen auftreten.
Die Angabe der Frequenz von mindestens fünf Selbstverletzungen innerhalb eines Jahres ist keine willkürliche Zahl. Eine große Untersuchung von Muehlenkamp et al. (
2017) identifizierte drei Gruppen, die mit einer Diskriminationsfunktionsanalyse herausgearbeitet werden konnten. Eine Frequenz von 25 und mehr Selbstverletzungstagen pro Jahr kennzeichnete eine besonders schwer betroffene Gruppe. Diese zeigte schwere Symptome psychischer Beeinträchtigungen. Eine zweite Gruppe mit psychischen Problemen lag bei einer Verletzungsfrequenz von 5–24 Verletzungstagen pro Jahr. Die Gruppe von unter fünf Tagen mit selbstverletzenden Akten pro Jahr zeigte zwar einen Bezug zu psychischen Belastungen, aber relativ wenig Psychopathologie. Nach Muehlenkamp et al. (
2017) können wir davon ausgehen, dass die derzeitige Schwelle von fünf Tagen mit Selbstverletzungen pro Jahr sehr valide jene Individuen erfassen kann, die eine erhöhte klinische Aufmerksamkeit benötigen.
Ein weiterer Punkt der Definition des NSSV betrifft die soziale Akzeptanz von Verhaltensweisen, die ebenfalls den Körper für Zwecke der Schönheit oder aus religiösen Gründen instrumentalisieren. So fallen Body-Piercings, Tattoos und andere religiös oder kulturell motivierte körperbezogene Akte, die durchaus mit Verletzungen einhergehen können, nicht unter diese Definitionen.
Einteilungen anhand der Motive und Verletzungsformen wurden ebenfalls vorgenommen und direkte und indirekte Selbstschädigungen, aber auch offene und heimliche Selbstverletzungen beschrieben. In der Regel werden Selbstverletzungen in offener Haltung präsentiert und sollen vom Gegenüber gesehen werden. Darin liegt eine durchaus provokative Komponente. Demgegenüber sind heimliche Selbstverletzungen von anderem Charakter. Es handelt sich dabei nicht selten um
artifizielle Störungen, also herbeigeführte Aggravierungen vorhandener Störungen (z. B. Verwundungen) oder vorgetäuschte Krankheiten. Solche Verhaltensweisen besitzen eine sozial-manipulative Komponente, die im medizinischen Untersuchungs- und Behandlungskontext zum Tragen kommt, um beispielsweise die Behandler zu zwingen, in eine pathologische Arzt-Patientenbeziehung einzutreten, die sich in repetitiven Untersuchungen, ambivalenten Verstrickungen und Handlungszwängen äußern kann. So können die Patienten nach Operationen die Wundnarben immer wieder öffnen, den Heilungsprozess durch Manipulationen oder Verschmutzungen verhindern, um so im medizinischen System eine bewusste Opferrolle durch Komplikationen einzunehmen.
Die Einteilung von Favazza (
1996) gilt immer noch als die wichtigste klassifikatorische Festlegung: Dabei werden vier unterschiedliche Formen der direkten Selbstverletzung unterschieden:
In besonderer Weise muss die Abgrenzung zu und der Zusammenhang mit
Suizidalität hervorgehoben werden. Schon die Definition NSSV grenzt theoretisch das Phänomen der suizidalen Verhaltensstörung (ebenfalls diagnostische Entität im
DSM-5) von den selbstverletzenden Verhaltensweisen ab, die nicht in suizidaler Intention ausgeübt werden. Klinisch können wir teilweise das Phänomen beobachten, dass selbstverletzende Akte drängende Suizidideen und Suizidimpulse zum Abklingen bringen können und damit sogar einen Suizid-protektiven Effekt entfalten. Wir gehen dann davon aus, dass selbstverletzende Verhaltensweisen eine paradoxe Form der Selbstfürsorge ermöglichen (Resch
2017). Selbstverletzende Akte sind also hier keine missglückten Suizidversuche, sondern haben gegebenenfalls sogar auto-protektiven Charakter. Das Verhältnis zwischen Suizidalität und NSSV ist trotzdem zwiespältig und in Forscherkreisen durchaus nicht eindeutig geklärt. Einerseits besteht bei NSSV die unterschiedliche Intention gegenüber der suizidalen Handlung, dass zwar der Tod nicht das zentrale Handlungsziel darstellt (Plener et al.
2010), auch wenn er gegebenenfalls billigend in Kauf genommen würde. Demgegenüber finden wir epidemiologisch jedoch einen starken Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der selbstverletzenden Verhaltensweisen und Suizidalität. Die aktuelle Datenlage legt sogar nahe, dass sich durch Selbstverletzungen zukünftige suizidale Akte vorhersagen lassen (z. B. (Koenig et al.
2017a)). Wir gehen davon aus, dass fast 50 % der Jugendlichen, die sich regelmäßig selbst verletzen, auch schon mehrere Suizidversuche unternommen haben (Brunner et al.
2007).
NSSV geschieht zwar per Definition ohne suizidale Intention. Häufig bestehen aber bei den betroffenen Individuen gleichzeitig Suizidgedanken und es besteht auch ein erhöhtes Risiko für suizidale Handlungen.
Die typische Verletzungsform ist die direkte Schädigung der Haut. Typische Körperstellen sind Unterarme und Handgelenke, demgegenüber sind Oberarme oder die Beine mit Ober- und Unterschenkel seltener betroffen. Unterarme und Handgelenke sind leicht erreichbar und bei Bedarf den Blicken im sozialen Umfeld rasch zu präsentieren oder durch Verhüllung zu entziehen. Die üblichste Form stellt das Ritzen mit einer Klinge oder scharfen Kante dar. Rasierklingen, Messer, Scheren, Skalpelle kommen ebenso zum Einsatz wie Glasscherben, Zirkelspitzen oder geöffnete Büroklammern. Selbstverletzende Akte stellen eine Aktionssprache dar.
Ein klinisches Charakteristikum stellt der typische Spannungsbogen des selbstverletzenden Aktes dar (Resch
2017): Zumeist beginnt der Zyklus mit negativen Gefühlen, die durch traumatische Erinnerungen oder aktuelle Beziehungsprobleme hervorgerufen werden. Die Umgebung kann oft die Trigger und Auslöser für die starke Betroffenheit bei den Jugendlichen nicht erkennen. Spezifische subjektive Entwertungs-, Demütigungs- oder Überwältigungserlebnisse stellen dafür die Basis dar. Wutgefühle, Verzweiflung, Angst vor Ablehnung und Dysphorie kennzeichnen Formen narzisstischer Fehlregulation, die mit Hoffnungs- und Hilflosigkeitsgefühlen einhergehen. Eskalierende Zyklen von Selbstvorwürfen, Scham und Selbsthass verstärken das negative Selbstbild. Der affektive Druck führt zu dissoziativen Entfremdungserlebnissen wie
Depersonalisation und verminderter Schmerzempfindung (Hypoalgesie). Der Schnitt wird auf dem Höhepunkt einer Spannung gesetzt, die von Angst vor Selbstverlust begleitet wird. Während das Blut rinnt, entsteht eine Gewissheit, noch am Leben zu sein, eine Gewissheit als Selbst noch zu existieren. Das Gefühl der Erleichterung bis hin zu einem paradoxen Wohlbefinden können einsetzen, und die Spannung scheint unterbrochen. Die positiven Gefühle halten jedoch nicht an, zunehmend bauen sich Emotionen des Ekels, der Scham und der Schuld auf, die noch durch Angst vor entstellenden Narben oder dem negativen sozialen Echo verstärkt werden. Selbstvorwürfe, dem Drang nicht standgehalten zu haben laden schließlich mit verstärkten negativen Emotionen den „Circulus Vitiosus“ auf. Der Spannungsbogen beginnt von vorne.
Epidemiologie
NSSV ist ein häufiges und insbesondere im Jugendalter verbreitetes Phänomen. In klinischen adoleszenten
Stichproben zeigten sich Jahresprävalenzen
von bis zu 60 % (Kaess et al.
2013) und über die gesamte Lebenszeit konnten sogar Häufigkeiten von bis zu 80 % (Adrian et al.
2011) nachgewiesen werden. Doch auch in der Allgemeinbevölkerung ist die Zahl der Jugendlichen, welche bestätigen, sich bereits selbst verletzt zu haben, alarmierend hoch: In systematischen Übersichtsarbeiten fanden sich Häufigkeiten von 17–18 % (Muehlenkamp et al.
2012; Swannell et al.
2014) und in einer europaweiten Vergleichsstudie berichteten gar 28 % der repräsentativen Stichprobe, sich zumindest gelegentlich selbst verletzt zu haben (Brunner et al.
2014). Im Vergleich dazu wurden in Erwachsenenpopulationen wiederholt niedrigere Raten von Lebenszeit-NSSV berichtet, wofür unterschiedliche Erklärungen diskutiert werden. Einerseits kann diese Veränderung auf einen Anstieg von Selbstverletzungen in den letzten Jahren hindeuten. Andererseits können die niedrigeren Zahlen bei Erwachsenen auf eine Erinnerungsverzerrung oder eine Reattribution des Verhaltens zurückgeführt werden („So oft habe ich mich gar nicht verletzt.“ oder „Das war gar keine Selbstverletzung.“) (Plener et al.
2015).
Im Jugendalter liegt die Häufigkeit von NSSV bei etwa 15–20 % in der Normalbevölkerung und bei etwa 50 % in klinischen Populationen.
In vielen empirischen Studien wurde weibliches Geschlecht
als wichtiger Risikofaktor
für NSSV identifiziert und auch im klinischen Alltag präsentieren sich männliche Jugendliche deutlich seltener mit NSSV. Aus einer Reihe von soziodemografischen Variablen ist Geschlecht außerdem nicht nur der stärkste Prädiktor, sondern auch der am besten untersuchte (Valencia-Agudo et al.
2018). Dieser Effekt wurde auch meta-analytisch bestätigt: Über eine große Anzahl von Studien zeigte sich, dass Frauen häufiger von NSSV berichteten als Männer, die Stärke des Effekts jedoch klein war. Weiter fanden Bresin und Schoenleber (
2015) deutlich größere Geschlechterunterschiede in klinischen
Stichproben, als dies in der Allgemeinbevölkerung der Fall war, was sich womöglich auf die ohnehin höhere Zahl an Frauen in psychiatrischen Populationen zurückführen lässt. Als mögliche Erklärung für diese Differenzen werden unterschiedliche Gründe diskutiert: Neben grundsätzlich abweichendem Hilfesuchverhalten beider Geschlechter werden bei jungen Frauen das vermehrte Auftreten internalisierender Störungen und Handlungen mit autoaggressivem Charakter genannt, wogegen externalisierende Störungen und Fremdaggression eher dem männlichen Geschlecht zugeschrieben werden. Auch in Hinblick auf die verwendeten Methoden der Selbstverletzung wurden geschlechtsspezifische Unterschiede gefunden. So berichteten in einer Studie von Sornberger et al. (
2012) Mädchen häufiger Methoden, welche Blut beinhalteten (schneiden, kratzen etc.), während sich Jungen eher schlugen oder die Haut verbrannten. Tatsächlich zeigt sich auch in der bereits oben genannten Meta-Analyse (Bresin und Schoenleber
2015) unter anderem häufigeres Schneiden und Kratzen bei weiblichen Jugendlichen, der Effekt für Schlagen konnte aber nicht bestätigt werden.
Verlauf und Prognose
NSSV folgt häufig einem „natürlich“ zu- und abnehmenden Verlauf über die Adoleszenz hinweg und ist Schwankungen unterworfen: NSSV wird typischerweise erstmals im frühen bis mittleren Jugendalter beobachtet, worauf ein deutlicher Anstieg folgt. In einer 32 Studien umfassenden Übersichtsarbeit untersuchten Plener und Kollegen (Plener et al.
2015) diesen Verlauf und lokalisierten den Beginn im Alter von 12–13 Jahren mit einem Gipfel der
Prävalenz bei 15- bis 16-Jährigen, gefolgt von einer deutlichen Abnahme zum Ende der Adoleszenz. Obwohl ein großer Anteil der Jugendlichen eine Spontanremission
bis zum Eintritt ins Erwachsenenalter erreicht, bleibt das selbstverletzende Verhalten bei einer nicht zu vernachlässigenden Subgruppe über längere Zeit bestehen.
In Anbetracht der besorgniserregend hohen
Prävalenzen von NSSV in der Adoleszenz weckt die häufig selbst ohne therapeutische Intervention auftretende Besserung über die Zeit Hoffnung. Gleichzeitig kann trotz einer Abnahme von Selbstverletzungen nicht automatisch von einer allgemeinen Verbesserung des psychosozialen Zustands ausgegangen werden und neben hohen Komorbiditäten (Abschn.
4) und einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer
Borderline-Persönlichkeitsstörung (Groschwitz et al.
2015), sollte die Gefahr einer Verschiebung der emotionsregulatorischen Funktion von NSSV auf andere dysfunktionale und riskante Verhaltensweisen wie Alkohol- und Drogenkonsum, aber auch
Suizidalität nicht vernachlässigt werden (Nakar et al.
2016).
Besonders relevant in der Prognose
des NSSV ist der zeitliche Zusammenhang mit suizidalem Verhalten. In klinischen
Stichproben der Kinder- und Jugendpsychiatrie konnte gezeigt werden, dass NSSV und Suizidversuche häufig von denselben Patienten berichtet werden, und dass NSSV im Leben junger Menschen in der Regel zeitlich vor dem ersten Suizidversuchen auftritt (Groschwitz et al.
2015). In einer prospektiven Studie mit weiblichen Jugendlichen aus der Allgemeinbevölkerung zeigte sich, dass Suizidgedanken im Jugendalter das Risiko für im späten Jugend- und frühen Erwachsenenalter berichtete Suizidversuche verdreifachte (Scott et al.
2015). In einer diversen Stichprobe aus jugendlichen Schüler*innen war NSSV zur Baseline ebenfalls prospektiv mit Suizidgedanken und -versuchen in den folgenden 2–3 Jahren assoziiert (Guan et al.
2012). Dieser Effekt blieb bestehen, selbst wenn für Depressionen und vergangene Suizidversuche kontrolliert wurde. Im Rahmen der deutschen SEYLE-Studie wurden zusätzlich zur bestätigten Assoziation zwischen Selbstverletzung und
Suizidalität zeitliche Veränderungen untersucht. Sowohl Jugendliche, welche bereits zur Baseline NSSV berichteten und dies auch nach einem Jahr taten, als auch Jugendliche, deren selbstverletzendes Verhalten zum zweiten Messzeitpunkt neu berichtetet wurde, hatten ein weiteres Jahr später ein 2- bis 3-mal erhöhtes Risiko für konkrete Suizidpläne und -versuche. Bei Jugendlichen, bei denen zwischen der Baseline und der 1-Jahresmessung hingegen die Selbstverletzungen sistierten, sank das Risiko für Suizidalität auf das Ausgangsniveau derjenigen, die nie Selbstverletzung berichteten (Koenig et al.
2017a). Es gibt sogar Daten zur Rolle der Selbstverletzung in der Vorhersage von vollendeten
Suiziden: In einer kürzlich veröffentlichten Studie (Hawton et al.
2020) wurden Jugendliche zwischen 10 und 18 Jahren nach einer Vorstellung im Spital wegen Selbstverletzungen im Kontext einer großen multizentrischen Kohortenstudie beobachtet. Im Studienzeitraum von bis zu 16 Jahren starben 1,4 % der Jugendlichen, davon der größte Anteil (44 %) durch Suizid. Damit lag die Suizidrate im Jahr nach dem ersten Spitalkontakt wegen Selbstverletzung in dieser Stichprobe 31-mal über der in der gleichaltrigen Allgemeinbevölkerung erwarteten 12-Monatsinzidenz.
NSSV ist ein transdiagnostischer Risikomarker
für
Suizidalität und gehört zu den am besten untersuchten und stärksten Prädiktoren für zukünftige Suizidversuche.
Störungsmodelle und Funktionen von NSSV
Die Schädigung des eigenen Körpergewebes lässt sich auf den ersten Blick nicht mit dem menschlichen Bedürfnis nach psychischer und physischer Unversehrtheit und dem naturgegebenen Überlebenswunsch vereinbaren. Jugendliche, welche sich selbst verletzen, sehen sich deshalb oft mit Unverständnis und Ablehnung durch Eltern, Freunde, aber auch Fachpersonen konfrontiert. Um bestehenden Stigmata entgegenzuwirken und Diagnostik und
Psychoedukation überhaupt erst zu ermöglichen, ist ein Verständnis für die dahinterliegenden Motive und Funktionen von nicht-suizidalen selbstverletzenden Verhaltensweisen und entsprechende Aufklärung von besonderer Bedeutung.
Klonsky (
2007) stellte das bis heute umfassendste Modell mit sieben wiederholt berichteten Funktionen von NSSV in einer Übersichtsarbeit vor (Tab.
1).
Tab. 1
Sieben Funktionen von NSSV, adaptiert nach Klonsky (
2007)
Affektregulation | Um akuten negativen Affekt oder Spannungen zu reduzieren. Dabei handelt es sich um die häufigste beschriebene Funktion von NSSV, welche gleichzeitig am intensivsten untersucht wurde. Die Selbstverletzung fungiert dabei als maladaptive Emotionsregulationsstrategie, wodurch negative Gefühle und Spannungszustände zumindest kurzfristig abgebaut werden. Langfristig entsteht jedoch ein sich verstärkender Teufelskreis |
Anti-Dissoziation | Um Depersonalisationen oder Dissoziationen zu stoppen. Die Aussage „wenigstens etwas spüren, auch wenn es Schmerz ist“, ist typisch für diese Funktion der Selbstverletzung. Schmerzen und das Fließen von Blut können dissoziatives Erleben unterbrechen und das Gefühl von Leere und Fremdsein lindern. Diese Funktion wird insbesondere von Patienten mit einer posttraumatischen Belastungsstörung oder einer Borderline-Persönlichkeitsstörung berichtet |
Anti-Suizid | Um Suizidimpulse zu regulieren. Suizidalität und nicht-suizidale Selbstverletzungen treten häufig in derselben Person auf. NSSV kann von Betroffenen zur Unterbrechung von Suizidgedanken und -impulsen genutzt werden, damit nicht „noch Schlimmeres“ passiert |
Interpersonelle Beziehung | Um die eigene Autonomie zu festigen und sich abzugrenzen. Selbstverletzungen können sowohl eine sozial abgrenzende als auch integrierende Funktion einnehmen. So können Narben ein Alleinstellungsmerkmal darstellen und das Gefühl von „anders sein“ stärken. Auf der anderen Seite wird selbstverletzendes Verhalten in jugendlichen Peer-Gruppen gehäuft beobachtet, wobei die gemeinsamen Erlebnisse und Verhaltensweisen ein Gefühl von Identität und Gemeinschaft bilden können |
Interpersonelle Beeinflussung | Um Hilfe von anderen zu erhalten oder sie zu manipulieren. Auf Selbstverletzungen wird vom Umfeld häufig mit Fürsorge und Aufmerksamkeit reagiert, wodurch der Eindruck von Manipulation entstehen kann, was wiederum zu Wut und Ablehnung bei Bezugspersonen führt. In der Selbstbeschreibung von Selbstverletzern werden vorwiegend intrapersonelle Gründe genannt (z. B. Emotionsregulation). Die tatsächliche Häufigkeit von Beeinflussung ist aber auch aufgrund von Scham und sozialer Erwünschtheit schwierig einzuschätzen |
Selbstbestrafung | Um Wut und Selbsthass auszudrücken. Themen wie Schuld, Scham und Selbstabwertung sind typisch für selbstverletzende Jugendliche. Die Selbstschädigung nimmt dabei die Funktion einer Bestrafung ein für tief verankerte und erlernte Gefühle von Selbsthass und einem niedrigen Selbstwert |
Sensation Seeking | Um Spannung oder Aufregung zu generieren. Selbstverletzung kann vereinzelt gewählt werden, um Unterhaltung und Nervenkitzel auszulösen. Diese Form lässt sich einordnen als Risikoverhaltensweise und ist vergleichbar mit riskantem Verhalten im Straßenverkehr oder Substanzmissbrauch |
Ein weiteres viel beachtetes Modell zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung von NSSV wurde bereits früh von Nock und Prinstein (
2004) aufgestellt (Tab.
2). Darin beschreiben sie verstärkende Funktionen selbstverletzenden Verhaltens anhand folgender Dimensionen: positiv vs. negativ und automatisch vs. sozial.
Tab. 2
Vierfaktorenmodell
von NSSV, adaptiert nach Nock und Prinstein (
2004)
Positiv | Zunahme des positiven Affekts | Generieren von Aufmerksamkeit |
Negativ | Abnahme des negativen Affekts | Abwenden von Anforderungen |
Der Hintergrund der automatischen (intrapersonellen) Funktion von selbstverletzendem Verhalten ist die Veränderung innerer Vorgänge, um positive Gefühlszustände hervorzurufen (automatisch positive Verstärkung; „Ich habe etwas gespürt, auch wenn es Schmerz war.“) oder negative zu beenden (automatisch negative Verstärkung; „Schlechte Gefühle haben aufgehört.“). Die soziale Verstärkung hingegen bezieht sich auf die interpersonelle Funktion von selbstverletzenden Verhaltensweisen, durch welche Aufmerksamkeit und Ressourcen aktiviert (sozial positive Verstärkung; „Meine Eltern haben mich besser behandelt.“) oder unangenehme Situationen vermieden (sozial negative Verstärkung; „Ich konnte vermeiden, in die Schule zu gehen“) werden können. Die automatisch negative Verstärkung im Sinne von Affektregulation (siehe Klonsky
2007) ist als Funktion von NSSV empirisch am besten belegt und kann auch im klinischen Kontext am häufigsten beobachtet werden.
Komorbidität
Auch wenn NSSV von einigen Experten als eigene diagnostische Entität betrachtet wird und nicht grundsätzlich in jedem Fall mit einer anderen psychischen Störung einhergehen muss, gibt es doch eine Reihe von psychiatrischen Syndromen, die in charakteristischer Weise mit selbstverletzenden Verhaltensweisen verknüpft sind. Solche Störungen, die gehäuft in Verbindung mit Selbstschädigungen zu beobachten sind, sollen im Einzelnen besprochen werden (Kaess und Edinger
2019).
Die
Borderline-Persönlichkeitsstörung wird sehr häufig mit NSSV in Verbindung gebracht, da selbstschädigendes Verhalten ein diagnostisches Kriterium der Störung darstellt. Hierbei muss jedoch beachtet werden, dass NSSV im Jugendalter sogar mehrheitlich bei Individuen vorkommt, die keine Borderline-Persönlichkeitsstörungs-Diagnose haben und dass umgekehrt nicht alle Individuen mit einer
Borderline-Persönlichkeitsstörung auch selbstverletzende Verhaltensweisen zeigen (Cipriano et al.
2017). Die Borderline-Persönlichkeitsstörung gehört jedoch zu den wesentlichen Differenzialdiagnosen
, die im Rahmen der Abklärung von NSSV näher beleuchtet werden sollten. Zu betonen ist, dass NSSV nicht selten ein erster Indikator für ein mögliches Auftreten einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sein kann und dass eine Früherkennung und Frühintervention von
Borderline-Persönlichkeitsstörungen im Jugendalter heute dringend empfohlen wird (Kaess et al.
2014). Bei zeitlich überdauernden repetitiven selbstverletzenden Verhaltensweisen sollte daher immer eine ausführliche und fachgerechte Diagnostik im Hinblick auf eine mögliche Symptomatik der Borderline-Persönlichkeitsstörung durchgeführt werden. Hierbei ist zu beachten, dass auch subklinische Symptomkonstellationen, die nicht für eine kategoriale Diagnosestellung ausreichen, schon mit deutlich erhöhter Psychopathologie und deutlich reduziertem Funktionsniveau einhergehen (Kaess et al.
2017) und daher gegebenenfalls störungsspezifisch behandlungsbedürftig sind.
Auch eine erhöhte
Depressivität sowie manifeste Diagnosen einer
depressiven Episode im Kindes- und Jugendalter findet sich bei Jugendlichen mit selbstverletzenden Verhaltensweisen gehäuft. Eine Übersichtsarbeit mit 32 Studien konnte aufzeigen, dass Depressivität ein wesentlicher Prädiktor für selbstverletzende Verhaltensweisen ist (Plener et al.
2015). Jugendliche mit
depressiven Episoden sind durch Niedergeschlagenheit und Traurigkeit sowie eine ausgeprägte Freudlosigkeit gekennzeichnet. Neben Interessenverlusten sind noch Störungen des Antriebs sowie Schlaf- und Appetitstörungen festzustellen. Psychosomatische Beschwerden oder neu hinzutretende Leistungsprobleme in der Schule können bei Jugendlichen auch auf eine depressive Symptomatik hinweisen. Bei männlichen Jugendlichen zeigen sich nicht selten expansive bis hin zu delinquenten Verhaltensweisen. Es ist davon auszugehen, dass NSSV gerade bei Jugendlichen eine mögliche Manifestationsform einer depressiven Episode darstellen könnten (Kaess und Edinger
2019). In klinischen
Stichproben von Jugendlichen mit NSSV sind die
affektiven Störungen die häufigste Komorbidität (Ghinea et al.
2020).
Störungen des Sozialverhaltens sind mit selbstverletzenden Verhaltensweisen gehäuft anzutreffen. In der Heidelberger Schulstudie zeigten sich delinquente Verhaltensweisen als zweitstärkster Prädiktor für selbstverletzendes Verhalten im Jugendalter. Die sozial delinquenten und autoaggressiven Verhaltensweisen sind inhaltlich und in der Häufigkeit ihres gemeinsamen Auftretens miteinander verknüpft (Brunner et al.
2007). Gerade bei männlichen Jugendlichen findet sich der Zusammenhang zwischen selbstverletzendem Verhalten, Sozialverhaltensstörungen und expansiven Symptomen deutlich. Therapeutische Interventionen können dadurch an ihre Grenzen stoßen (Kaess und Edinger
2019).
Der übermäßige Konsum von Zigaretten und Alkohol ist ebenso wie der Konsum illegaler Drogen (wie z. B. Marihuana,
Kokain oder
Opioide) als
Risikoverhalten eng mit dem Auftreten selbstverletzender Verhaltensweisen verbunden. Als Begründung für die hohe Korrelation von Substanzkonsum, anderen Risikoverhaltensweisen und selbstverletzenden Verhalten, ist vermutlich der gemeinsame deutliche Zusammenhang mit emotionaler Dysregulation und Impulsivität zu nennen. Alle Risikoverhaltensweisen könnten in diesem Zusammenhang als dysfunktionale Coping-Strategie angesehen werden. Es ist notwendig, bei Jugendlichen mit NSSV einen potenziellen vermehrten Substanzkonsum, sexuelles Risikoverhalten oder auch einen exzessiven Medienkonsum aktiv anzusprechen, da ansonsten eine Chronifizierung und die Entstehung diverser Folgeprobleme (z. B. Suchterkrankungen) im jungen Erwachsenenalter resultieren können.
Der Zusammenhang zwischen
gestörtem Essverhalten und selbstverletzenden Verhaltensweisen ist seit langem bekannt (Herpertz und Sass
1997). Die deutlichsten Befunde sind für den Zusammenhang zwischen
Bulimia nervosa und NSSV nachzuweisen. Unkontrollierbare Essattacken, gefolgt von Maßnahmen zur Gewichtsregulierung zeigen in Bezug auf den Spannungsbogen eine gewisse klinische Ähnlichkeit mit dem Akt der Durchführung einer Selbstverletzung.
Auch im Rahmen von
posttraumatischen Stressstörungen, dissoziativen Störungen, Zwangsstörungen und dissoziativen Identitätsstörungen, kommen selbstverletzende Verhaltensweisen signifikant häufiger vor (Cipriano et al.
2017). Bei erwachsenen Patienten konnte nachgewiesen werden, dass ein Zusammenhang zwischen selbstverletzenden Verhaltensweisen in der Biografie und aktuell negativen Einstellungen gegenüber dem eigenen Körper, nachzuweisen waren. Auch in nichtklinischen
Stichproben zeigten jene, die selbstverletzende Verhaltensweisen aufwiesen, verstärkte Angst- und Depressionssymptomatik. Insgesamt kann festgehalten werden, dass Adoleszente, die selbstverletzende Verhaltensweisen offenbaren, in der Regel mehrere Risikoverhaltensweisen, wie Substanzmissbrauch oder riskantes Sexualverhalten, gleichzeitig an den Tag legen.
Ein besonderes Thema stellen die
suizidalen Verhaltensweisen dar. Denn ungeachtet der Tatsache, dass
Suizidalität und selbstverletzende Verhaltensweisen definitorisch und theoretisch getrennt werden, zeigen alle Untersuchungsdaten einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit selbstverletzender Verhaltensweisen und Suizidalität. Es besteht also eine hohe Komorbidität zwischen nicht-suizidaler Selbstverletzung und Suizidalität (Übersicht bei Kaess und Edinger
2019). Da
Suizide im Jugendalter in Europa die zweithäufigste Todesursache, gleich nach Unfällen, darstellen, muss auf die Differenzierung von selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität besonderer Wert gelegt werden. Die genaue und sorgfältige Anamnese und Klärung der intentionalen Hintergründe hat schließlich Einfluss auf die entsprechenden therapeutischen Interventionen.