Psychische Störungen und psychisch auffälliges Verhalten im Kindes- und Jugendalter
Epidemiologische Zahlen untermauern, dass
psychische Störungen als größte gesundheitsbezogene Herausforderung des 21. Jahrhunderts gelten. In Europa sind ca. 38,2 % der Bevölkerung von einer psychischen Störung betroffen (Wittchen et al.
2011).
Metaanalysen bei Kindern und Jugendlichen zeigen, dass weltweit 13,4 % von einer psychischen Störung und in Deutschland 17,6 % von einer emotionalen bzw. Verhaltensstörung betroffen sind (Barkmann und Schulte-Markwort
2012; Polanczyk et al.
2015). Das bedeutet, dass unter Berücksichtigung der in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen derzeit nach konservativen Schätzungen ca. 1,9 Millionen von einer psychischen Störung betroffen sind. Eine Vielzahl der
psychischen Störungen nehmen ihren Beginn im Kindes- und Jugendalter und zeigen sich zunächst durch subklinische oder partielle Auffälligkeiten, die dann in einer manifesten psychischen Störung münden. Im Folgenden wird ausschließlich auf Störungsbilder eingegangen werden, die in den folgenden Kapiteln im Rahmen der Prävention
weiterhin eine Rolle spielen.
Lange Zeit wurde davon ausgegangen, dass die externalisierenden Störungsbilder, wie die hyperkinetische Störung oder die Störung des Sozialverhaltens im Kindesalter, deutlich häufiger vorkommen als die internalisierenden Störungen (z. B. Depression,
Angststörungen). Epidemiologische Studien nach der Jahrtausendwende belegen allerdings, dass beispielsweise
depressive Störungen mit 2,8 % und Angststörungen mit 3,5 % in der Altersgruppe vor dem 13. Lebensjahr vergleichbare Prävalenzraten aufweisen (Cartwright-Hatton et al.
2006; Costello et al.
2006). Während Jungen zwischen dem dritten und zehnten Lebensjahr häufiger von
psychischen Störungen betroffen sind (17,8 % vs. 12,2 %), vermindert sich dieses Geschlechterverhältnis ab dem elften Lebensjahr deutlich und gleicht sich bis zum dreizehnten Lebensjahr an (22,9 % vs. 21,0 %) (Klasen et al.
2017). In der mittleren (15.–16. Lebensjahr) sowie in der späten Adoleszenz (17.–21. Lebensjahr) wird eine deutliche Zunahme
psychischer Störungen nachgewiesen. So zeigt sich ein deutlicher Anstieg der
depressiven Störungen auf 5,9 % bei Mädchen und 4,6 % bei Jungen zwischen dem 13. und 18. Lebensjahr (Costello et al.
2006). Bei Angststörungen ist die Entwicklung diffiziler, da der Anstieg der Angststörungen nicht auf alle Formen übertragbar ist. Man könnte sagen, dass sich je nach anstehender Entwicklungsaufgabe die
Prävalenzen verändern. So ist beispielsweise die Trennungsangst im Kindesalter häufiger als im Jugendalter und die
soziale Phobie im Kindesalter im Vergleich zum Jugendalter noch gering ausgeprägt (Beesdo-Baum und Knappe
2012). Auch bei den
Essstörungen zeigt sich für die
Anorexia nervosa (AN) und
Bulimia nervosa (BN) ein deutlicher Anstieg der Erkrankungen mit Beginn der mittleren Adoleszenz, wobei weibliche Adoleszente deutlich häufiger betroffen sind als männliche (Favaro et al.
2009; Smink et al.
2016). Das Geschlechterverhältnis psychischer Störungen verändert sich zu Ungunsten der weiblichen Jugendlichen, die ab dem 14. Lebensjahr deutlich mehr psychische Störungen aufweisen als männliche Jugendliche (19,6 % vs. 15,1 %) (Klasen et al.
2017). Der vollendete
Suizid, als schwerste Folge einer psychischen Störung, stellt zwischen dem 15. und 29. Lebensjahr die zweithäufigste Todesursache in der westlichen Welt dar (WHO
2018). Diese Zahlen belegen zum einen das epidemische Ausmaß der psychischen Störungen und zum anderen den dringenden Handlungsbedarf im Kindes- und Jugendalter. Mit Blick auf die Lebenszeitprävalenz wird deutlich, dass bereits im Alter von 14 Jahren 50 % aller psychischen Erkrankungen manifest sind (Kessler et al.
2005) und ein Handeln bereits im Bereich der Kindheit und frühen Adoleszenz, also zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr, anzuraten ist. Weiterhin wird durch die epidemiologischen Daten klar, dass es unterschiedlicher Schwerpunkte für Prävention
und Frühintervention in der jeweiligen Altersgruppe bedarf.
Nicht nur die Häufigkeit und die Neuerkrankungen, sondern vor allem die Persistenz
psychischer Störungen untermauert den Handlungsbedarf. So waren in der BELLA-Studie (Befragung zum seelischen Wohlbefinden und Verhalten) 40,7 % der betroffenen Kinder nach 6 Jahren weiterhin auffällig (Ravens-Sieberer et al.
2015). Trotz der verbesserten Möglichkeiten und der Weiterentwicklung im Bereich der pharmakotherapeutischen und psychotherapeutischen Behandlungen sind Morbidität und Mortalität
psychischer Störungen nahezu unverändert hoch, die Krankheitsverläufe bisweilen schwer und die Heilungsquote bei psychischen Störungen immer noch nicht befriedigend. Dass wir es also nicht mit einem vorübergehenden, entwicklungspsychologischen oder leicht zu behandelnden Phänomen zu tun haben, zeigt sich bereits für Störungen des Kindesalters. Für die Depression zeigt sich, dass die erste
depressive Episode zwar bei 60–90 % der Patienten remittiert, aber 50–70 % in den nächsten 5 Jahren erneut von einer Episode betroffen sind (Dunn und Goodyer
2006). Erschwerend kommt hinzu, dass kindliche und adoleszente Depressionen eine hohe Vorhersagekraft für weitere komorbide psychische Störungen (z. B.
Angststörungen, Substanzmissbrauch,
bipolare Störungen etc.) besitzen (Fergusson et al.
2005), mit einer hohen
Suizidalität einhergehen (Windfuhr und Kapur
2011) sowie mit multiplen psychosozialen Schwierigkeiten und körperlichen Erkrankungen im Erwachsenenalter verbunden sind (Thapar et al.
2012). Ähnliches gilt für die Angststörungen, die typischerweise einen chronischen Verlauf nehmen und häufig mit einer hohen Komorbiditätsrate einhergehen (Beesdo-Baum et al.
2012).
Essstörungen gelten seit Jahren als schwer behandelbar und sind ebenfalls mit einem hohen Mortalitäts- und Morbiditätsrisiko assoziiert (Smink et al.
2013). Die Sterberate der AN ist mit 5,7 % als hoch anzusehen (Arcelus et al.
2011).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass
psychische Störungen die größte gesundheitsbezogene Herausforderung im 21. Jahrhundert darstellen. Die Häufigkeit sowie die schweren Verläufe, die durch Chronizität, Begleiterkrankungen und ein niedriges psychosoziales Funktionsniveau gekennzeichnet sind, verdeutlichen die Notwendigkeit eines präventiven bzw. vorbeugenden Handelns. Weiterhin darf nicht unerwähnt bleiben, dass
psychische Störungen enorme Kosten für das Gesundheitssystem verursachen und durch den Arbeitsausfall und die verminderte Produktivität der Betroffenen zusätzlich ein enormer volkswirtschaftlicher Schaden für die Gesellschaft entsteht (Olesen et al.
2012).
Letztlich ist eine Verhinderung bzw. Verminderung von
psychischen Störungen nur möglich, wenn Risiko- und Schutzfaktoren bekannt sind und diese bei der Entwicklung von vorbeugenden Maßnahmen Berücksichtigung finden.
Risiko- und Schutzfaktoren im Kindes- und Jugendalter
Die Prävention von
psychischen Störungen sollte sich grundlegend an den Erkenntnissen aus der Forschung zu Risiko- und Schutzfaktoren von
psychischen Störungen orientieren. In der Regel wird von einem bio-psycho-sozialen Modell ausgegangen. Das heißt, dass jede Dimension (biologische, individuelle, familiäre und soziokulturelle) des Modells die Wahrscheinlichkeit, zu erkranken, erhöhen (Risikofaktor) oder senken (Schutzfaktor) kann. Prävention bedeutet demnach eine zielgerichtete Beeinflussung der Dimensionen und damit den Abbau von Risiko- und den Aufbau von Schutzfaktoren. Obwohl bereits Risiko- und Schutzfaktoren identifiziert sind, liegt vor allem das Zusammenspiel dieser bei der Entstehung von psychischen Störungen noch im Dunkeln. Wir können annehmen, dass je nach Erkrankung die Faktoren und ihr Auftreten in der jeweiligen Altersgruppe gesondert betrachtet werden müssen. Grundlegend kann davon ausgegangen werden, dass die in der Übersicht beschriebenen Faktoren die Wahrscheinlichkeit erhöhen bzw. vermindern, an einer psychischen Störung zu erkranken.
Es wird von einer komplexen Wechselwirkung der Risiko- und Schutzfaktoren
ausgegangen (Übersicht). Letztlich wird darauf hingewiesen, dass es spezifische und unspezifischer Risiko- und Schutzfaktoren gibt. So sind unspezifische Risikofaktoren eine Belastung, die verschiedene psychische Störungen auslösen können, während spezifische nur eine ganz bestimmte psychische Störung wahrscheinlicher machen. Umgekehrt gilt dies auch für Schutzfaktoren.
Die Entwicklung im Kindes- und Jugendalter ist demnach durch eine Vielzahl von biologischen, individuellen sowie soziokulturellen und familiären Risiko- und Schutzfaktoren sowie deren komplexe Wechselwirkung beeinflusst. Ein Faktor des multiplen Zusammenspiels sind die biologischen Faktoren
, die sich bespielweise in genetischen und epigenetischen Anlagen zeigen und das Risiko, zu erkranken, erhöhen können (Hohmann et al. 2015). Weiterhin haben prä- (z. B. Frühgeburt, niedriges Geburtsgewicht), peri- (z. B. CTG-Score nach Fischer ≤ 4, Laktat ≥ 8 mmol/l mit der Folge einer 7-tägigen stationären Behandlung) und neonatale (zerebrale Krampfanfälle, neonatale Sepsis) Komplikationen einen deutlichen Einfluss auf die Entwicklung einer psychischen Störung (Esser und Schmidt 2017). Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die starken körperlichen Veränderungen im Rahmen der Adoleszenzentwicklung einen Risikofaktor für das Auftreten einer psychischen Störung darstellen und den Anstieg der Inzidenz in dieser Altersgruppe bedingen. Dabei gehen in der Adoleszenz die hormonellen Veränderungen den psychosozialen Entwicklungen meist voraus. Der Beginn der Pubertät, der Startschuss der körperlichen Entwicklung in der Adoleszenz, ist in den westlichen Industrienationen in den letzten 120 Jahren stetig gesunken. Hierzu zählt die, als säkulare Akzeleration bezeichnete, Verschiebung des Menarchealters vom 17. Lebensjahr auf das 13. Lebensjahr. Es wird angenommen, dass die verbesserte Ernährung und medizinische Versorgung verantwortlich für diese Entwicklung ist. Seit den 1980er- und 1990er-Jahren wird keine Vorverlegung des Menarchealters in den europäischen Ländern mehr festgestellt (Gohlke und Woelfle 2009). Die hypothalamisch-hypophysär-gonodale Achse befindet sich nach der Neugeborenenperiode zunächst in einer Art Ruhephase, deren Stabilität jedoch auf besondere Weise im Sinne einer Co-Regulation durch enge Bindungspersonen erreicht wird. In der Adoleszenz wird diese Achse wahrscheinlich durch das Zusammenspiel einer verminderten Hemmung der Hormonsekretion und wegen der geringen Empfindlichkeit des Hypothalamus gegenüber den vermehrt freigesetzten Sexual- und Wachstumshormonen (z. B. Östradiol, Progesteron, Testosteron) aktiviert (Sisk und Foster 2004). Die tiefgreifende biologische Metamorphose ist neben den hormonellen Veränderungen auch durch weitgreifende Reifungs-und Ausdifferenzierungsprozesse des Gehirns bestimmt, welche sich bis ins junge Erwachsenenalter fortsetzen. Neben der bereits genannten Interaktion zwischen dem Nervensystem und den gonadalen Hormonen wird die neuronale Entwicklung auch durch weitere Wechselwirkungen (z. B. mit der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse oder GABAerges System) beeinflusst (Shen et al. 2007). Das heutige Wissen über die neuronalen Entwicklungsprozesse während der Adoleszenz ist vorrangig durch die Weiterentwicklung der bildgebenden Verfahren in den letzten Jahrzehnten möglich. Dadurch kann der Entwicklungsverlauf, welcher sich durch eine Zunahme der grauen Substanz in der Kindheit, mit einem maximalen Volumen in der frühen Adoleszenz und in der Folge einer kontinuierlichen Abnahme zeigt, sichtbar gemacht werden. Gleichzeitig zur Abnahme der grauen Substanz zeigt sich eine Zunahme der weißen Substanz in der Adoleszenz. Die Ergebnisse sprechen für eine zunehmende Myelinisierung des Gehirns. Als Folge dieses Prozesses gehen in einigen Hirnregionen über 50 % der neuronalen Verbindungen verloren, wobei sich auch neue Verknüpfungen bilden (Giedd et al. 1999). Dieser Prozess verdeutlicht die Chancen, aber auch Risiken der Entwicklungen im Jugendalter vor dem Hintergrund der Umstrukturierung des Gehirns. Besonders stark scheinen präfrontale Strukturen, die bei der Verhaltenskontrolle/-steuerung eine große Rolle spielen, und das limbische System von dieser Umstrukturierung betroffen zu sein. Das Zusammenspiel und die Rolle dieser beiden Strukturen ist maßgeblich für die Emotionsregulation sowie die Steuerung exekutiver Funktionen zuständig.
Im Bereich der individuellen Faktoren
sind die Adoleszenten mit einer Reihe von Entwicklungsaufgaben konfrontiert, die sich durch das Zusammenspiel der biologischen Veränderungen des Organismus sowie der eigenen Erwartungen und Anforderungen des sozialen Umfeldes ergeben. Diese Aufgaben unterliegen auch zeitlichen Komponenten. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Shell Jugendstudie (2015) wurden die Entwicklungsaufgaben in vier Bereiche geclustert:-
Erwerb schulischer und beruflicher Qualifikation,
-
Entwicklung einer Geschlechtsidentität und Aufbau sozialer Bindungen zu Gleichaltrigen,
-
Nutzung von Konsum-, Medien- und Freizeitangeboten sowie
-
Aufbau eines eigenen Wertesystems.
Aufgrund der starken biologischen Veränderungsprozesse und Entwicklungsaufgaben, die die Adoleszenz beinhaltet, wird auch der Begriff der „emerging adulthood
“ als eigenständige Entwicklungsphase zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr vorgeschlagen. Besonders charakteristisch ist eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, eine vermehrte Experimentierfreudigkeit und Instabilität des Individuums sowie eine starke Fokussierung auf die eigene Person. Der Adoleszente befindet sich demnach in einem Spannungsfeld, weil er sich nicht mehr als Kind, aber auch noch nicht als „vollwertiger“ Erwachsener fühlt. Vergleichen wir die biologische Entwicklung und die anstehenden Entwicklungsaufgaben, dann wird ersichtlich, dass die Pubertät biologisch gesehen immer früher einsetzt, während der Eintritt in das Berufs- und familiäre Leben auf einen späteren Zeitpunkt verschoben ist. Die individuellen Risikofaktoren sind: Identitätsentwicklung (körperlich und sozial), Autonomieentwicklung (in Bezug auf Familie und Gleichaltrige), Aufbau bzw. Entwicklung eines altersentsprechenden Selbstwertgefühls (körperlich, sozial, individuell). Diese Faktoren stehen im Zusammenhang mit der zunehmenden Differenzierung kognitiver Fertigkeiten sowie der emotionalen Steuerungsfähigkeit und beeinflussen sich wechselseitig.
In Bezug auf die soziokulturellen
und familiären Faktoren gibt es durch die BELLA-Studie Hinweise, dass persistierende Familienkonflikte, chronische und/oder psychische Erkrankung eines Elternteils, geringe psychische Lebensqualität der Eltern sowie niedriger sozioökonomischer Status und elterliche Alltagsbelastung im Kindes- und Jugendalter einen hohen prädiktiven Wert für die Entwicklung psychischer Auffälligkeiten besitzen (Klasen et al. 2017). Weiterhin zeigte sich, dass Kinder alleinerziehender Mütter mit niedrigem Bildungsniveau eher psychisch auffällig werden, wobei das Bildungsniveau den stärkeren Einfluss besitzt (Meyrose et al. 2018). Letzteres hat seine Wirkung auch dadurch, dass in Deutschland ein hoher Zusammenhang zwischen Bildungs- und sozioökonomischem Status besteht. Es kann allerdings nicht nachgewiesen werden, was als Mediator oder Moderator wirken könnte. Weiterhin zeigte sich anhand der Daten der BELLA-Studie, dass Kinder im Vergleich zu Adoleszenten nicht nur über mehr protektive Faktoren verfügen, sondern diese auch effektiver den negativen Einfluss von Risikofaktoren abmildern (Wille et al. 2008). Die Studie verdeutlicht auch, dass es ratsam ist, den Einsatz von Präventionsmaßnahmen anhand der Anzahl der bestehenden Risiko- und Schutzfaktoren für die jeweilige Altersgruppe abzuwägen. Die Mannheimer Risikokinderstudie, die die psychische Entwicklung und ihre Störungen bei Kindern und Adoleszenten bereits mit einem Verlauf von 25 Jahren untersucht, zeigte ähnliche Befunde wie die BELLA-Studie (Übersicht).
Die genannten psychosozialen Risiken können zu einer strukturellen und funktionalen Veränderung, u. a. des frontalen Cortex und der Amygdala-Hippocampus-Region, führen. Dies ist besonders relevant, wenn die widrigen Lebensereignisse zu einem frühen Zeitpunkt der Entwicklung stattfinden (Holz et al.
2017). Dass traumatische Erlebnisse
wie körperliche Misshandlung, Vernachlässigung und sexueller Missbrauch ein hohes Risiko besitzen, sich negativ auf die psychische und körperliche Gesundheit auszuwirken, ist ebenfalls bekannt. Studien belegen, dass die Ausbildung von externalisierenden, internalisierenden und psychotischen Symptomen sowie das erhöhte Risiko, eine posttraumatischen Belastungsstörung oder eine Persönlichkeitsstörung (insbesondere Borderline-Persönlichkeitsstörung) zu entwickeln, stark mit Traumata in der Kindheit verbunden ist (Jaffee 2017). Die in diesem Zusammenhang stehenden, vermittelnden neuronalen Prozesse, die für Mediatoren gehalten werden, waren lange Zeit nicht bekannt. Derzeit wird angenommen, dass sich das traumatische Erleben in der Kindheit auf die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse auswirkt. Genauer gesagt, zeigt sich ein vergrößertes Volumen der Amygdala bei gleichzeitig geringerer Cortisolausschüttung durch die Nebenniere. Diese veränderten Strukturen und Prozesse sind wahrscheinlich durch eine Hyperaktivierung aufgrund der kindlichen Traumata entstanden. Für eine Bestätigung dieser Annahme sind weitere prospektive Längsschnittstudien nötig (Kaess et al. 2018). Ein weiterer soziokultureller Risikofaktor ist das Bullying. Wenn ein Schüler über einen längeren Zeitraum systematisch negativen Handlungen von einem oder mehreren Mitschülern ausgesetzt ist, dann kann posttraumatischer Stress entstehen, welcher schwerwiegende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit besitzt. Verwunderlich ist, dass sich die Forschung im Vergleich zu anderen Bereichen bisher wenig mit Bullying beschäftigt hat. Dementgegen spricht, dass in der Adoleszenz die Gleichaltrigen immer mehr an Bedeutung gewinnen und eine europaweite Studie zeigte, dass Bullying keine Seltenheit ist und 26 % als Täter, Opfer oder Täter und Opfer involviert sind (Craig et al. 2009). Wir haben es demnach mit einem hoch relevanten Risikofaktor zu tun, der durch das sogenannte Cyberbullying auch außerhalb des Schulhofs betroffene Kinder und Adoleszente weiter belastet und in der Folge voraussichtlich die schon schwerwiegenden Auswirkungen noch weiter potenziert. Letztlich soll darauf hingewiesen werden, dass psychische Auffälligkeiten und dysfunktionale Verhaltensweisen die wohl drängendsten Anzeichen für die Entwicklung einer manifesten psychischen Störung darstellen. Spätestens hier besteht die letzte Möglichkeit, im Sinne einer selektiven Prävention die Entwicklung einer manifesten Erkrankung zu verhindern.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Forschung zu Risiko- und Schutzfaktoren in den letzten Jahrzehnten deutlich spezifischer Einflussfaktoren für die Entwicklung einer psychischen Störung benennen kann. Über das Zusammenspiel bzw. die Wechselwirkung ist nach wie vor wenig bekannt. Klar ist allerdings, dass die Berücksichtigung von Risiko- und Schutzfaktoren die Grundlage für eine wirksame Prävention darstellt. Während im Kindesalter, in dem die Anzahl der negativen Faktoren noch geringer und die Wirkung der protektiven Faktoren höher ist, universelle Programme zur Stärkung der Ressourcen und die Stärkung der Familien sinnvoll erscheint, sind im Jugendalter durch den Anstieg der Risikofaktoren und die Abnahme des protektiven Effektes von Schutzfaktoren selektive Maßnahmen wahrscheinlich erfolgversprechender.
Der Begriff Prävention wird im folgenden Kapitel definiert.