Präventionsmaßnahmen im Bereich Essstörungen
Essstörungen zählen zu den schwerwiegendsten kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen. Sie verlaufen häufig chronisch, sind schwer zu behandeln und oft begleitet von schweren somatischen Komplikationen sowie einer hohen Morbidität und Mortalität (Arcelus et al.
2011; Smink et al.
2013). Die Unzufriedenheit mit dem Körper, negativer Affekt sowie ein niedriges Selbstwertgefühl, im Besonderen gegenüber der eigenen Figur und dem eigenen Gewicht, sind Prädiktoren für die Entwicklung von essstörungsspezifischen Verhaltensweisen (Jacobi et al.
2011). Epidemiologische Studien in Deutschland zeigen, dass ca. 20 % der Kinder und Jugendlichen von essstörungsspezifischen Verhaltensweisen betroffen sind (Hammerle et al.
2016). In diesem Zusammenhang zeigt sich in der frühen und mittleren Adoleszenz auch eine leichte Steigerung der Inzidenz in den letzten Jahrzehnten (Swanson et al.
2011). Diese Datenlage verweist auf die Notwendigkeit, durch den Einsatz von geeigneten Präventionsprogrammen, den Entwicklungen entgegenzuwirken. Die ersten Schritte der Prävention von
Essstörungen waren wenig vielversprechend.
Austin (
2000) beschrieb in ihrem Review von 20 Studien, dass drei der Präventionsprogramme zu einer Erhöhung von essgestörten Verhaltensweisen geführt hatten und ein Großteil keine Wirksamkeit nachweisen konnte. Erfreulicherweise zeigte sich sieben Jahre später durch die
Metaanalyse von Stice et al. (
2007), dass 51 % der Studien zu einer signifikanten Reduktion mindestens eines Risikofaktors führten. Einschränkend muss angemerkt werden, dass nur bei knapp einem Drittel der Studien eine signifikante Verminderung von essstörungsspezifischen Symptomen erreicht werden konnte. Die wirksamen Studien wiesen die in der Übersicht aufgeführten Merkmale auf.
Weiterhin wurde deutlich, dass die sogenannten „covered“ Präventionsprogramme, die nicht offen thematisierten, dass sie die Reduktion essstörungsspezifischer Risikofaktoren und Verhaltensweisen zum Ziel haben, Programmen mit rein psychoedukativem Inhalt deutlich überlegen sind. Die Effektstärken der Essstörungsprävention sind als gering einzuschätzen, und die Mehrzahl der Studien weist erhebliche methodische Schwächen auf. Das Cochrane Review von Pratt und Woolfenden (
2010) unterstreicht dies und zeigt, dass die Qualität und Wirksamkeit der Prävention von
Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen nicht gegeben ist (Pratt und Woolfenden
2010). So hielten nur zwölf Studien den Gütekriterien stand und lediglich zwei Studien konnten durch eine Reduktion im Bereich verminderte Internalisierung des Schönheitsideals, aber nicht für ein essstörungsspezifisches Verhalten, einen Effekt im Vergleich zu einer Kontrollgruppe erzielen (Kusel
1999; Neumark-Sztainer et al.
2000). Weiterhin zeigt sich eine unzureichende Evaluation der Wirksamkeit. So werden beispielsweise Risikofaktoren für
Essstörungen erhoben und eine differenzielle Untersuchung auf Ebene der Symptomkriterien nach ICD-10/
DSM-5 findet häufig nicht statt. Daher ist nicht klar, ob die Programme wirklich vor einer manifesten
Essstörung schützen. Zusätzlich muss angemerkt werden, dass bei wirksamen Programmen eine Übertragung der Ergebnisse im Sinne der Effectiveness nur vereinzelt erfolgt. Das heißt, es ist unklar, ob eine Durchführung mit geschultem Personal im Alltag noch eine Wirksamkeit zeigt. Es ist anzunehmen, dass viele der Studien unter „real world“-Bedingungen und mit einem vertretbaren Budget nicht durchführbar sind.
Die bisherigen
Metaanalysen verweisen darauf, dass die selektive Prävention ab dem 18. Lebensjahr derzeit die stärkste Wirksamkeit besitzt. Berücksichtigt werden muss dabei, dass die Intervention von bereits betroffenen Gruppen per se höhere Effektstärken erzielt, da gesunde Teilnehmer auf der Symptomebene bzw. mit den vorhandenen
Messverfahren im Sinne des „floor effects“ scoren. Dadurch sind nur geringe Veränderungen messbar und demzufolge kann nur eine geringe Effektstärke erzielt werden. Eine Fallzahlschätzung bei der Konzeption der Studie wäre notwendig, um die Anzahl der Teilnehmenden entsprechend anzupassen. Derzeitige Studien zur Evaluation universeller Prävention sind in der Regel „underpowered“. Erst nach Korrektur dieses Problems macht eine zielgerichtete Aussage über die Wirksamkeit universeller Maßnahmen Sinn. Betrachten wir den derzeitigen Stand der Forschung, dann zeigt sich außerdem, dass 85 randomisierte, kontrollierte Studien an weiblichen Hochrisikogruppen über 15 Jahre publiziert wurden und im Vergleich lediglich 13 randomisierte, kontrollierte Studien mit universellen Präventionsmaßnahmen unter dem 15. Lebensjahr existieren. Dieses Ergebnis verstärkt den Unterschied der Wirksamkeit zwischen universeller und selektiver Prävention und ist, da der Erkrankungsgipfel sowohl für essstörungsspezifische Verhaltensweisen als auch manifeste
Essstörungen zwischen dem 14. und 17. Lebensjahr liegt, überraschend. Der Beginn der Prävention sollte kurz vor diesem Zeitpunkt ansetzen. Neuere Programme für Kinder und Jugendliche, wie beispielsweise „Life Smart“ (Wilksch
2015); „MABIC-Project“ (Sanchez-Carracedo et al.
2016) oder „MaiStep“ (Mainzer Schultraining zur Essstörungsprävention) (Buerger et al.
2019), versuchen diese Lücke zu schließen. Diese Programme haben gemeinsam, dass sie protektive Verhaltensweisen
bzw. „Life-Skills
“ (z. B. Umgang mit Emotionen und gewichtsbezogenem Mobbing, Selbstwertstärkung) durch interaktive Programminhalte aufbauen und stärken, um damit die Auswirkung von Risikofaktoren abzupuffern. Die Programme zeigen durch die Reduktion von figur- und gewichtsbezogenen Sorgen, die Verminderung der körperlichen Unzufriedenheit und des gewichtsbezogenen Mobbings sowie die Verbesserung von anorektischem Essverhalten, dass auch die universelle Prävention in Schulen wirksam ist. In einer der bisher wohl aufwendigsten randomisierten, kontrollierten Studien verglichen Wilksch und Kollegen (
2015) drei wirksame Präventionsprogramme („Life Smart“, „Media Smart“, „HELPP“ [Helping, Encouraging, Listening and Protecting Peers]). Das Programm „Media Smart“ erwies sich am wirksamsten für den Einsatz sowohl bei
Essstörungen als auch
Adipositas. Dieses Ergebnis verweist darauf, dass auch Präventionsprogramme mit dem Schwerpunkt „media literacy
“ (Förderung der Medienkompetenz in Bezug auf die Internalisierung des wesentlichen Schönheitsideals) für das Kindes- und Jugendalter einen protektiven Wert besitzen (Wilksch
2015). Letztlich soll darauf verwiesen werden, dass auch Programme mit dem Ansatz der „kognitiven Dissonanz
“ erfolgversprechend sind (Adametz et al.
2017). Hierbei wird versucht, über widersprüchliche Informationen Diskussionen anzuregen und Einspruch zu provozieren. Diese Methode wurde bereits im Rahmen der Prävention von Substanzmissbrauch genutzt, um eine Änderung der Einstellung und des Verhaltens zu erzielen. Das heißt, es werden beispielsweise die Gründe einer Person dargestellt, Drogenmissbrauch zu betreiben. Die Teilnehmer sollen dadurch angeregt werden, die Sinnhaftigkeit dieses bzw. ihres eigenen Verhaltens zu hinterfragen. Während die Erfolge für das junge Erwachsenenalter deutlich belegt sind (Stice et al.
2017), ist die Wirksamkeit für den Bereich der Essstörungen aufgrund methodischer Schwächen bisheriger Studien im Kindes- und Jugendalter noch abzuwarten. Eine vielversprechende Möglichkeit der Prävention stellt sicherlich der Einsatz von internetbasierten Methoden dar. Bisher ist eine verbesserte Wirksamkeit der internetbasierten Prävention allerdings nicht nachgewiesen. So zeigte sich bei Studierenden ein klarer Vorteil der „face-to-face“-Prävention des Programms „Body Project“, auch wenn dieses durch peer coaches durchgeführt wurde (Stice et al.
2017). Bei der Durchführung eines gestuften internetvermittelten Ansatzes („Young Es[s]prit“) mit Schülern der 7.–10. Klassenstufe zeigte sich kein signifikanter Unterschied zwischen Interventions- und Kontrollgruppe. Es bleibt abzuwarten, inwiefern weitere Projekte eine Wirksamkeit von internetbasierten Präventionsmaßnahmen nachweisen können.
Zusammenfassend wird festgestellt, dass die Prävention von
Essstörungen geringe Effektstärken nachweisen kann. Derzeit zeigt die selektive Prävention von weiblichen Betroffenen über dem 18. Lebensjahr die stärkste Wirksamkeit. Kritisch muss angemerkt werden, dass die Evaluation eine Erhebung der Symptomkriterien nach ICD10/
DSM-5 vermissen lässt und dadurch der protektive Wert für viele Programme fragwürdig ist. Bezüglich der Inhalte und Methoden zeigt sich erfreulicherweise eine Diversität („life-skill“-Ansatz, media literacy, kognitive Dissonanz), die viele Zugangswege zur Verhinderung essstörungsspezifscher Verhaltensweisen annehmen lässt. Hierbei ist zukünftig eine Evaluation wünschenswert, die Rückschlüsse auf die Wirksamkeit einzelner Programminhalte zulässt. Bei der Evaluation der Wirksamkeit ist eine Messung möglicher Nebenwirkungen dringend anzuraten, da speziell im Bereich der
Essstörungen anhand der Befunde Anfang der 1990er-Jahre die Gefahr besteht, dass der vermeintliche Schutz zu einer Erhöhung der Inzidenzen führen kann.
Präventionsmaßnahmen im Bereich Angststörungen und Depression
Insgesamt 90 Millionen Menschen sind in Europa an einer Depression oder Angststörung erkrankt (Beesdo-Baum und Knappe
2012; Wittchen et al.
2011). Der volkswirtschaftliche Schaden für diese Erkrankungen wird für die europäischen Staaten jährlich mit 192 Milliarden Euro geschätzt (Beesdo-Baum und Knappe
2012; Sobocki et al.
2006). Bereits 20 % der Adoleszenten sind vor dem 18. Lebensjahr an einer Depression oder Angststörung erkrankt (Costello et al.
2003).
Angststörungen im Kindesalter erhöhen nicht nur das Risiko für eine Chronifizierung im Erwachsenenalter, sondern begünstigen die Entwicklung komorbider
psychischer Störungen (besonders von Depressionen) sowie
Suizidalität und psychiatrischer Hospitalisierung (Beesdo-Baum und Knappe
2012). Derzeit wird davon ausgegangen, dass nur 15 % der Patienten mit einer Angststörung eine leitliniengerechte Behandlung erhalten. Der frühe Beginn einer depressiven Erkrankung steht in Zusammenhang mit schlechten klinischen Verläufen, niedrigem sozioökonomischem und akademischem Status, Drogen- und Alkoholmissbrauch, Suizidalität, sexuellem Risikoverhalten sowie somatischen Gesundheitsproblemen. Bereits das Bestehen subklinischer depressiver Symptome bei Adoleszenten, die noch nicht klinisch behandlungsbedürftig sind, sorgt für eine Verschlechterung des psychosozialen Funktionsniveaus und erhöht das Risiko, ohne präventive Maßnahmen an einem Vollbild zu erkranken (Bertha und Balazs
2013). Viele der betroffenen Adoleszenten finden aus den verschiedensten Gründen (erkennen die Symptome nicht als Störung an; haben Angst vor einer Stigmatisierung; sind nicht informiert, an wenn sie sich wenden können) nicht den Weg zu einer adäquaten Anlaufstelle für ihre Probleme. Der Einfluss von Informationsmaterialien, sich in ein entsprechendes Setting zu begeben, scheint keine signifikante Veränderung dieses Verhaltens zu bewirken (Gulliver et al.
2012). So bleibt vielen die dringend benötigte Hilfe verwehrt. Diese epidemiologischen Fakten unterstreichen, dass der Einsatz von präventiven Maßnahmen notwendig ist, um diesen schwerwiegenden Verläufen vorzubeugen und gegebenenfalls frühzeitig in geeignetes Behandlungssetting zu überweisen.
Erfreulich ist, dass im Bereich der Prävention von
Angststörungen und Depressionen
zahlreiche Studien existieren. Das aktuelle Review von Werner-Seidler und Kollegen (
2017) unterstreicht dies und zeigt mit 90 randomisierten Studien ein intensives Forschungsfeld. Die Effektstärken für die Prävention der Depression sind als gering zu bezeichnen (Hedges g = .23). Die Wirksamkeit der Programme scheint mit Abstand zur Durchführung abzunehmen, da die Effekte im Follow-up > 12 Monate geringer werden (Hedges g = .11) (Werner-Seidler et al.
2017). Merry und Kollegen (
2012) sprachen in ihrem Cochrane Review daher nicht von einer Verminderung, sondern nur von einer Abschwächung bzw. Verzögerung depressiver Symptome im Hinblick auf die Ergebnisse der Langzeiterhebungen. Von insgesamt 53 Studien verminderte sich die Anzahl von 15 wirksamen Programmen zum Messzeitpunkt der Postintervention auf zwei gering wirksame Programme zum Messzeitpunkt nach 24 Monaten und auf ein Programm nach 36 Monaten. Hierbei sollte erwähnt werden, dass lediglich 21 der ursprünglich 53 Studien einen Zeitraum von 36 Monaten untersuchten. Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Dauer des Untersuchungszeitraums in fast allen Studien verlängert werden sollte, da eine Wirksamkeit nur dann besteht, wenn diese über einen langen Zeitraum nachgewiesen werden kann.
Im Bereich der
Angststörungen zeigen sich ebenfalls niedrige Effektstärken direkt nach einer Intervention (Hedges g = .20) bzw. bei Langzeituntersuchungen > 12 Monate (Hedges g = .13). Das Absinken der Wirksamkeit scheint auch hier auffällig. Insgesamt wiesen nur 5 Studien ein Follow-up von mindestens 12 Monaten auf. Parallel zur Prävention bei Depressionen zeigt sich hier eine Schwachstelle der laufenden Studien. Die Prüfung der Wirksamkeit über einen längeren Zeitraum ist dringend erforderlich, um nachzuweisen, inwiefern eine Wirksamkeit längerfristig gegeben ist. Die abnehmenden Effektstärken könnten durch eine Verringerung der protektiven Wirkung der Maßnahme, aber auch durch die Verminderung der Strichprobengröße aufgrund von Drop-outs bedingt sein. Beide Faktoren können nur systematisch untersucht werden, wenn Nachuntersuchungen mit entsprechendem Abstand zur Intervention stattfinden. Bei nachlassender Wirksamkeit könnten Booster-Sessions wieder in den Unterricht eingebaut werden oder via Online-Tutorials protektiv wirkende Faktoren stabilisiert bzw. ihre Wirkung verstärkt werden. Letztlich sollte erwähnt werden, dass das Outcome der Studien sowohl im Bereich Depression als auch Angststörungen mit der Dauer der bestehenden psychopathologischen Verhaltensweisen und Kognitionen konfundiert ist. Sind diese noch nicht verfestigt und stabil, hat die präventive Arbeit eine deutlich größere Aussicht auf Erfolg.
Niedrige Effektstärken
im Bereich der Prävention müssen nicht zwangsläufig mit einer niedrigen Wirkung einhergehen. Wenn die Wirksamkeit in der Gesamtpopulation gemessen wird, dann können die Effekte meist nur niedrig sein, da nur ein kleiner Teil der Gruppe betroffen ist und somit auch nur bei einem kleinen Teil der Population ein maximaler Nutzen nachweisbar sein wird. Dass sich dennoch ein Nutzen zeigt, wird dadurch belegt, dass das Ausmaß der internalisierenden Symptome bei den Betroffenen im Durchschnitt 6–9 Monate nach Durchführung des Programms um 53 % rückläufig ist (Stockings et al.
2016). Steigt die Anzahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen in der Population, so erhöht sich auch die Effektgröße. Letzteres verleitet zu der Annahme, dass die selektive Prävention
immer wirksamer sein muss. Der deutliche Vorteil selektiver Programme, welcher noch in früheren Reviews beschrieben wurde (Munoz et al.
2010), zeigte sich im aktuellen Review von Werner-Seidler et al. (
2017) in deutlich abgeschwächter Form bzw. gar nicht mehr. Hier waren selektive Programme im Bereich Depression zum Postzeitpunkt noch überlegen. Diese Überlegenheit zeigte sich bei den Follow-up-Erhebungen nicht mehr. Im Bereich der
Angststörungen hingegen zeigte sich die gleiche Wirksamkeit für universelle und selektive Prävention, unabhängig vom Erhebungszeitpunkt. Im Vergleich zur Prävention von
Essstörungen existieren im Bereich Angststörungen und Depressionen deutlich mehr Studien über die universelle Prävention mit deutlich jüngeren Populationen. Die Prävention von Ängsten setzt bereits im Grundschulalter ein. Die Notwendigkeit eines frühen Einsatzes von Prävention liegt darin begründet, dass eine protektive Wirkung dann am sinnvollsten ist, wenn die psychische Störung noch nicht begonnen hat bzw. nur wenige positive Fälle nachzuweisen sind und ein Erkrankungsgipfel noch bevorsteht. Die Wirksamkeit bei der Prävention von Angststörungen und Depressionen war dieser Annahme folgend in der Kindheit sowie frühen und mittleren Adoleszenz deutlich höher als in der späten Adoleszenz. Demzufolge ist anzuraten, im Bereich der Depression zwischen dem 11. und 14. Lebensjahr und bei der Angststörung vor dem 10. Lebensjahr mit Präventionsmaßnahmen zu beginnen.
Weitere Einflussfaktoren auf die Wirksamkeit werden folgend benannt. Die
Metaanalyse von Werner-Seidler und Kollegen (
2017) verweist bei den Durchführenden auf eine höhere Wirksamkeit für Psychologen im Vergleich zu Lehrkräften. Dieser Vorteil im Bereich der Depression konnte im Review von Brunwasser und Garber (
2016) nicht bestätigt werden, und im Bereich der
Angststörungen waren Lehrkräfte bei Kindern im Grundschulalter sogar effektiver. Es wird angenommen, dass unbekannte Erwachsene Kinder im Grundschulalter eher irritieren und damit Lernprozesse stören. Dass auch der Computer ein Präventionsprogramm durchführen kann, ist nachgewiesen. Die Wirksamkeit dieser kostengünstigen Variante kann für den Bereich der Angststörungen und Depression bisher nicht bestätigt werden. Bisher existieren zwei Studien mit geringem Wirksamkeitsnachweis (Calear et al.
2009; Wong et al.
2014). Ein Kritikpunkt ist, dass es keinen Vergleich mit einer face-to-face-Bedingung gab, sondern gegen eine Wartekontrollgruppe getestet wurde. Bezüglich der Inhalte der Programme zeigt sich eine deutliche Überlegenheit der kognitiv behavioralen Therapie (z. B. „Feelings Club“ [Manassis et al.
2010]; „Friends“ [Shortt et al.
2001]), die mit 84 % auch am häufigsten in den Studien untersucht wurde. Derzeit ist allerdings unklar, was genau bei diesen Programmen die Veränderung im Verlauf hervorruft. Hierfür sind weitere Studien notwendig.
Die Qualität der Studien bewerten Werner-Seidler (
2017) als mittelmäßig bis schlecht. Achtzig der 81 Studien, die in die
Metaanalyse eingingen, wiesen mindestens einen Bias (Verzerrung) auf. Herbei wird vor allem die Qualität der Randomisierung diskutiert. Im Rahmen der Pharmaka- und Psychotherapieforschung wird personenweise randomisiert. In der Präventionsforschung an Schulen wird die Gefahr gesehen, dass durch eine personenweise Randomisierung Mitschüler Zugang zu Inhalten und Materialien erhalten und in der Folge Interventionseffekte wirken, die ursprünglich getrennt voneinander untersucht werden sollten. Dieser Effekt wird als „school wise contamination
“ bezeichnet. Es wird daher diskutiert, inwiefern eine Randomisierung im Bereich der schulbasierten Prävention schulweise erfolgen sollte. Insgesamt zeigt sich bei den Studien im Bereich
Angststörungen und Depression, dass sich eine Verbesserung der Studienqualität ergeben hat, seitdem viele Journals eine Veröffentlichung von Studienprotokollen fördern und auch Präventionsstudien ihr Design vor der Durchführung registrieren (z. B. Deutschs Register Klinischer Studien [DRKS]).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass bei der Prävention von
Angststörungen und Depressionen die universelle Prävention an Schulen erfolgversprechend erscheint. Wie bei der Prävention von anderen
psychischen Störungen zeigen sich geringe Effektstärken. Eine Schwäche vor allem bei der Prävention von Angststörungen ist, dass die Untersuchungszeiträume kurz sind und somit wenig über die langfristige Wirksamkeit der Programme bekannt ist. In der Durchführung sind Professionelle überlegen und kognitiv behaviorale Inhalte erscheinen am effektivsten. Wünschenswert ist, in weiteren Forschungsbemühungen den Bias der Studien gering zu halten und die Wirkungsweise zu untersuchen. Das heißt, die Anteile von Programmen zu identifizieren, welche mit der Wirksamkeit eines Programms in Verbindung stehen. Sowohl die Adhärenz der Durchführenden als auch die
Compliance der Teilnehmer sollte stärker berücksichtigt und evaluiert werden. Obwohl Werner-Seidler et al. (
2017) die Qualität der randomisierten, kontrollierten Studien als gering einschätzen, zeigt die Prävention im Bereich Angststörungen und Depressionen erfreulicherweise eine große Anzahl von Studien und ein intensives Interesse der Forschergruppen, aktiv zur Verminderung der Störungsbilder beizutragen.
Präventionsmaßnahmen im Bereich Suizidalität
Über 800.000 Menschen sterben weltweit jährlich an einem vollendeten
Suizid. Das bedeutet, dass sich alle 40 Sekunden ein Mensch das Leben nimmt. Die Zahl der Suizidversuche liegt deutlich höher und kann nicht genau bestimmt werden. Es wird von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen. Nach Schätzungen der WHO (
2018) wird angenommen, dass ca. 16 Millionen Suizidversuche weltweit jährlich verübt werden. Zwischen dem 15. und 29. Lebensjahr ist der Suizid die zweithäufigste Todesursache und war über die gesamte Lebensspanne mit 1,4 % aller Todesfälle 2016 die 18-häufigste Todesursache weltweit (WHO
2018). Es kann, wie bei anderen
psychischen Störungen, von einem Diathese-Stress-Modell ausgegangen werden. Prädiktoren, die beispielsweise einen starken Einfluss auf das Risiko für einen Suizid/Suizidversuch nehmen, sind genetische Disposition, vorausgegangene Suizidversuche, regelmäßige Selbstverletzung, Substanzmissbrauch/-abhängigkeit, das Vorhandensein einer psychischen Störung (insbesondere Depression), das Erleben traumatischer Lebensereignisse (z. B. sexueller Missbrauch, psychische/körperliche Misshandlung, Krieg) sowie niedriger sozioökonomischer Status (Turecki und Brent
2016). Die Forschung hinsichtlich der Prävention von Suiziden ist brisant. Die Gegenüberstellung von Interventionsformen und damit die Inkaufnahme erhöhter Suizidraten in einer der Untersuchungsgruppen muss ethisch diskutiert werden. Gesellschaftspolitisch wird der Verhinderung von Suiziden vor allem in den westlichen Industrieländern eine hohe Priorität eingeräumt (WHO
2008). Trotz dieser beunruhigenden Zahl ist
Suizidalität im Kindes- und Jugendalter immer noch ein „tabuisiertes“ Thema und sorgt für Unsicherheit im Umgang mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen. Ein Suizidversuch bei weiblichen Jugendlichen vor dem 18. Lebensjahr erhöht das Risiko für einen weiteren Suizidversuch im jungen Erwachsenenalter um das 17-Fache (Gibb et al.
2005). Ein vollendeter Suizid kommt somit nicht „aus heiterem Himmel“. Die epidemiologischen Daten sprechen dafür, dass der Suizidprävention ein besonderer Stellenwert bei der Verhinderung der schwersten Folge einer psychischen Störung zukommt. Bei der Durchsicht der derzeitigen Studienlage wird deutlich, dass nur wenige qualitativ hochwertige Studien existieren, was eine klare Aussage über die Wirksamkeit der derzeitigen präventiven Bemühungen erschwert.
Die schulbasierte Prävention von
Suizidalität „generating much heat but little light“, wird treffend von Brent und Brown (
2015) bemerkt. Die bislang aufwendigste Studie SEYLE
(Saving and Empowering Young Peoples Live) verglich in einem vierarmigen clusterrandomisiert kontrollierten Design drei der am häufigsten eingesetzten Präventionsformen mit einer Wartekontrollgruppe bei 11.110 Schülern aus 10 europäischen Ländern (Wasserman et al.
2015). Ein Arm untersuchte das sogenannte ProfScreen. Hierbei handelt es sich um ein zweistufiges Vorgehen. Dabei werden in einem ersten Schritt über einen Screeningfragebogen Schüler ausgewählt, die ein potenzielles Risiko für Suizidalität aufweisen, und in einem zweiten Schritt wird dieses Risiko in einem persönlichen Kontakt mit einem Psychiater oder klinische Psychologen eingeschätzt und gegebenenfalls in ein entsprechendes Behandlungssetting überwiesen (Kaess et al.
2014). In einem zweiten Arm wurde das
Gatekeeper Training QPR (Question, Persuade and Refer) durchgeführt, bei dem Schulpersonal ausgebildet wurde, Adoleszente mit einem Suizidrisiko zu erkennen, anzusprechen und in ein adäquates Setting zu überweisen. In einem weiteren Behandlungsarm wurde eine universelle Prävention für
psychische Gesundheit YAM (Youth Aware of Mental Health Program) eingesetzt, welche die Wahrnehmung sowie Copingstrategien zum Umgang mit Depression, Angst und Suizidalität verbessern sollte. Überraschenderweise zeigte sich lediglich bei YAM mit einer Halbierung der Suizidgedanken und -versuche eine signifikante Wirksamkeit im Vergleich zur Wartekontrollgruppe. Dass universelle Prävention im Bereich der Schule wirksam ist, kann ebenfalls durch SOS
(Signs of Suicide) belegt werden. Das Programm vermittelt die Verbindung zwischen
psychischen Störungen und Suizidalität und trainiert Verhaltensweisen, um sich selbst zu helfen oder Hilfe aufzusuchen. SOS konnte die Inzidenz von selbst berichteten Suizidversuchen im Vergleich zur Kontrollgruppe ebenfalls deutlich reduzieren (Aseltine et al.
2007). Die Verminderung stand nicht in Verbindung mit dem Aufsuchen eines Helfersystems, sondern beruht auf einem anderen Wirkpfad, der bisher allerdings noch nicht bekannt ist. Ein weiterer erfolgversprechender Ansatz ist das Good Behavior Game
, welches bei 6- bis 7-jährigen Kindern durch Lehrkräfte durchgeführt wurde. Hierbei wird in einem spielerischen Ansatz durch Kontingenzmanagement maladaptives (vor allem aggressives und dissoziales) Verhalten vermindert und sozial angemessenes Verhalten bestärkt. Fünfzehn Jahre später konnte neben der Reduktion von antisozialem Verhalten eine Reduktion von Suizidgedanken und -versuchen erreicht werden (Wilcox et al.
2008). Besonders hervorzuheben ist, dass das Programm ursprünglich für die Reduktion von antisozialen Verhaltensweisen und einer Verminderung von Substanzmissbrauch entwickelt wurde. Daher ist anzunehmen, dass eine Verminderung von Risikofaktoren und ein Aufbau von protektiven Faktoren im Bereich der Prävention ein Wirkprinzip darstellt. Wie bei allen universellen Präventionen muss trotz der Erfolge vor allem bei der Suizidprävention auf die Kosten-Nutzen-Relation beim Einsatz der Programme verwiesen werden. So war das Verhältnis bei YAM beispielsweise 1:90. Das heißt, es müssen 91 Schüler das Programm durchführen und nur einer profitiert von der Prävention. Weiterhin ist bei keiner der schulbasierten Programme untersucht worden, ob bei Schülern, die bereits einen Suizidversuch begangen haben, die gleiche Wirksamkeit gegeben ist (Brent und Brown
2015). Zum einen ist es wichtig, gerade diese Jugendlichen gezielt zu erreichen, und zum anderen wurde in älteren Studien eine Erhöhung von selbst berichteten Suizidversuchen bei diesem Klientel berichtet. Zusammenfassend kann für den Bereich der schulbasierten Suizidprävention festgehalten werden, dass insgesamt 17 Studien existieren, von denen drei als wirksam eingestuft werden können. Mit Seyle und SOS wiesen lediglich zwei Studien nur geringe methodische Limitationen auf.
Es wurde bereits auf die Rolle von
Gatekeepern für die Suizidprävention verwiesen. Die Inhalte des Trainings finden sich in der Übersicht. Derzeit existieren 40 verschiedene Gatekeeper-Programme (Wilcox und Wyman
2016). Während Mann und Kollegen (
2005) noch von einer Wirksamkeit dieser Form der Prävention sprechen, verweisen Zalsman et al. (
2016) darauf, dass das Gatekeeper-Training ohne eine zusätzliche Intervention bis dato keinen signifikanten Einfluss auf die Suizidgedanken oder -versuche hat. Ein Manko der Studien ist, dass sie untersuchen, inwiefern die Gatekeeper beispielsweise höheres Selbstwirksamkeitserleben entwickeln, mehr Wissen über
Suizidalität erlernen oder das Suizidrisiko bei einem Jugendlichen besser erkennen. Der Schwerpunkt liegt nicht darauf, ob und wie Gatekeeper Suizidgedanken, -versuche und vollendete
Suizide bei Betroffenen vermindern. Somit ist keine wirkliche Aussage über den Erfolg der Methode möglich. Letztlich muss angemerkt werden, dass fast alle Studien kein Helfersystem zur Unterstützung der Gatekeeper bereitstellten, um ein funktionierendes Notfallprozedere einzuleiten, in dem eine Klinik mit entsprechendem Fachpersonal involviert war.
Im Rahmen der selektiven bzw. indizierten Prävention
könnte die Schulung von Medizinern und Psychotherapeuten, um Suizidversuche und vollendete
Suizide zu verhindern, ein probates Mittel sein. Bis zu 66 % der Menschen, die einen Suizid begehen, sehen einen Monat vorher einen Arzt im Rahmen einer Notfall- oder allgemeinen Gesundheitsversorgung (Luoma et al.
2002). Die Etablierung von existierenden, validen Screeninginstrumenten wäre ein erster Schritt und könnte in der Folge ein entsprechendes Notfallprozedere einleiten. Weiterhin zeigt sich, dass viele Patienten nach einem Suizidversuch keine angemessene Unterstützung erhalten. In einer Phase, in der ein Mensch im Spannungsfeld zwischen „möchte ich weiterleben oder wäre es nicht einfacher zu sterben“ steht, kommt einem Helfersystem eine besondere Stellung zu. Die Schulung von Klinikern in der Notfallversorgung hat sich bereits als wirkungsvoll erwiesen (Zalsman et al.
2016). Allerdings wird hierbei auch immer darauf verwiesen, dass vor allem der Austausch und die Zugangswege zu anderen Fachdisziplinen eine wichtige Voraussetzung für einen Erfolg sind. Das heißt, dass die Vernetzung der medizinischen Disziplinen (Unfallchirurgie, Intensivstation, Kinderstation, Kinder- und Jugendpsychiatrie, niedergelassene Behandler) ein wichtiger Grundstein für die Verminderung der Suizidrate ist (van der Feltz-Cornelis et al.
2011). Die Schulung von Hausärzten ist ein zweischneidiges Schwert, da die Zusammenschau der Studien belegt, dass sich sowohl ein protektiver Effekt durch die Verminderung von Suizidgedanken und -versuchen zeigt als auch die Erhöhung dieser Verhaltensweisen nachgewiesen werden konnte (Milner et al.
2017). Die Qualität der Studien in diesem Bereich ist allerdings so gering, dass kausale Aussagen der Ergebnisse nur beschränkt möglich sind. Nach einem Suizidversuch sind viele Betroffene und Eltern verunsichert und setzen sich häufig nicht oder zu selten mit dem Helfersystem in Verbindung. Dies wird erschwert von Seiten der Kliniken durch die enge terminliche Taktung der Helfer. Dass beispielsweise neue Informationstechnologien unterstützend eingreifen können, zeigt die SIAM-Studie („Suicide Intervention Assisted Messages“). Das Aufsuchen der Behandler nach einer Notfallversorgung in Folge eines Suizidversuchs konnte durch automatisierte versendete Textnachrichten (SMS) erhöht werden (Berrouiguet et al.
2018). Weiterhin wird derzeit untersucht, ob ein möglicher Suizid über Smartphones bzw. das Internet prognostizierbar ist. Hierbei wird auf das sogenannte Maschinenlernen zurückgegriffen. Dabei werden Daten aus Facebook, Twitter, Instagram und WhatsApp genutzt. Das System berechnet dabei fortlaufend aus dem Zusammenspiel bestimmter Wortkombinationen und durch den Einsatz bestimmter Pronomina sowie Inhalte, ob ein Suizidrisiko besteht. Wenn eine Prognose möglich wäre, dann könnte der Betroffene gebeten werden, eine Klinik aufzusuchen oder ein Warnsignal könnte an ein Helfersystem gesendet werden (Torous et al.
2018).
Der Einsatz von Smartphones
und Onlineprogrammen
zur universellen oder selektiven Prävention wird derzeit in ersten Studien untersucht. Derzeit wird zur Moderation dieser Programme Fachpersonal eingesetzt. Die teilnehmenden Jugendlichen erhalten die Möglichkeit, neben programmierten Tutorials auf Chatebene Kontakt mit Behandlern aufzunehmen. In der Regel basieren die Programme auf Methoden der
kognitiven Verhaltenstherapie und bieten die Möglichkeit, auch in Regionen, die schlecht versorgt sind oder bei Patientengruppen, die Angst haben, Unterstützung einzufordern. Ein eindeutiger Beleg der Wirksamkeit ist auch hier durch methodische Limitationen (z. B. Stichprobengröße, Evaluationsinstrumente) schwer möglich (Hetrick et al.
2017). Weiterhin zeigt sich im Rahmen der sozialen Medien auch immer, dass ein Teil an Patienten durch diese Form der Prävention getriggert wird (Harris und Roberts
2013). Letztlich kann festgestellt werden, dass Smartphones, Computer und Maschinenlernen einen erfolgversprechenden Ansatz in der Suizidprävention darstellen und weiterer Forschungsbedarf besteht.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass bereits eine Vielzahl von universellen und selektiven Programmen existiert. Die Überprüfung der Wirksamkeit dieser in hochwertigen Studien mit randomisiert kontrollierten Designs ist nur vereinzelt (SEYLE, SOS) erfolgt. Viele der Programme sind auf die Erkennung und nicht die Verminderung von suizidalem Verhalten ausgerichtet, so dass eine Aussage der Wirksamkeit nicht zufriedenstellend möglich ist. Vor allem YAM und SOS zeigen, dass die universelle Prävention im Bereich der Schule vielversprechend ist. Die Schulung von Klinikpersonal im Zuge der indizierten Prävention ist wichtig, um ein Suizidrisiko adäquat einschätzen zu können und in der Folge angemessene Hilfe bzw. Unterstützung einleiten zu können. Letztlich stellen die sozialen Medien sowie Maschinenlernen einen möglichen Weg dar, um ein Suizidrisiko zu erkennen und das Helfersystem zu involvieren. Hier sind weitere Studien notwendig, um eine Wirksamkeit zu bestätigen.