Determinierung und Differenzierung
Die Entwicklung des Menschen von der befruchteten Zelle bis zum ausgereiften Organismus wird als
Ontogenese bezeichnet, sie wird bestimmt durch Prozesse der Determinierung und Differenzierung. Die einzigartige genetische Ausstattung eines jeden Menschen hängt dabei von der Ausstattung der Eizelle und des Spermiums ab, aber sehr stark auch von dem Prozess der Vereinigung und Verteilung des genetischen Materials, des Arrangements der DNA-Stränge und der Aktivierung bzw. Deaktivierung bestimmter Genabschnitte, was lokalen, intrauterinen und epigenetischen Einflüssen unterliegt. Forschungsergebnisse der genetischen Epidemiologie weisen auf transgenerationale Effekte und die damit verbundenen epigenetischen Phänomene hin. Angeborene genetische Störungen können unterteilt werden in numerische Abweichungen der Zahl der
Chromosomen, wie z. B. bei der Trisomie 21, aber auch dem
Turner-Syndrom bei Mädchen (45, X0) oder dem
Klinefelter-Syndrom bei Jungen (47, XXY). Daneben gibt es homozygot oder heterozygot vererbte Gendefekte, wie z. B. bei der
zystischen Fibrose, der
Hämophilie oder Muskeldystrophie. Durch Einzelmutationen oder das polymorphe Zusammenwirken verschiedener Gene entstehen syndromale Erkrankungen. Alle monogenetisch oder polygenetisch vererbten Erkrankungen gehören zu den seltenen Erkrankung
en, d. h. sie betreffen weniger als 5 von 10.000 Menschen. Dabei handelt es sich um 6000–8000 verschiedene Erkrankungen, die insgesamt 30 Mio. Menschen in Europa betreffen, die meisten von ihnen sind aufgrund der begrenzten Lebenserwartung Kinder. Nicht wenige Erkrankungen mit überwiegend neurologischen oder psychiatrischen Symptomen sind ätiologisch ungeklärt. Hier sollen langfristig die Europäischen Referenznetzwerke (ERN) Abhilfe schaffen.
Die typische
intrauterine Entwicklung des Menschen beträgt 266 Tage oder 38 Wochen, gerechnet vom Zeitpunkt der
Befruchtung. In der Geburtshilfe wird in der Regel nach dem 1. Tag der letzten Regel gerechnet, d. h. die Schwangerschaft dauert 280 Tage oder 40 Wochen.
Die Phase der Organdeterminierung liegt in der Embryonalzeit, die vom 16. bis zum 60. Gestationstag andauert. Hier erfolgt, durch Entwicklungsgene gesteuert, die Bildung der Organanlagen sowie die Festlegung des Geschlechts. Im weiteren Verlauf folgt die Organdifferenzierung
, die sich in der Fetalzeit ab dem 3. Schwangerschaftsmonat bis zum Ende der körperlichen Entwicklung erstreckt. Während alle anderen Organe von geringen Unterschieden in Form und Größe bei beiden Geschlechtern gleich angelegt werden und sich in sehr ähnlicher Weise differenzieren, kommt es bei der Gonadenanlage zu einer in aller Regel dichotomen Entwicklung im männlichen und weiblichen Geschlecht (Abschn.
6.2).
Viele angeborene, gravierende Fehlbildungen der Körperorgane und -systeme entstehen durch primäre Störungen oder Fehlen von Entwicklungsgenen oder durch sekundäre Schädigungen der Entwicklungsgene bereits sehr früh in der Embryonalzeit. Häufig also zu einem Zeitpunkt, bei dem die Schwangerschaft noch nicht bekannt ist. Während der Fetalzeit differenzieren sich die angelegten Organe. In diesem Lebensabschnitt kommt es insbesondere zu Ausdifferenzierungen des Gewebes und es kommt zur zunehmenden Reife der Organe bis zu einem Zeitpunkt, ab dem ein extrauterines Leben möglich wird.
Die Differenzierung der einzelnen Organsysteme verläuft in der embryonalen und fetalen Entwicklung in einem sehr unterschiedlichen Tempo. Die meisten Organsystem
e sind nach der Neugeborenenperiode jedoch weitgehend funktionsfähig, wenn auch im 1. Lebensjahr und zum Teil darüber hinaus beispielsweise besondere Normwerte für Laboruntersuchungen berücksichtigt werden müssen, weil noch eine Unreife der Organe besteht. Das hämatologische oder das immunologische System zeigen ausgeprägte Reifungsprozesse bis zum Schulalter. Das endokrine System und die Reproduktionsorgane zeigen einen zweigipfligen Reifungsprozess mit einem Schwerpunkt in der pränatalen und frühen postnatalen Phase sowie während der
Pubertät. Andere Organsysteme, wie das Herz, die Lungen, Niere und Leber, erreichen die typischen Merkmale des Erwachsenenorgans bereits jenseits des 1. Lebensjahres und verändern sich überwiegend in der Größe, nicht aber in der Form und Funktion. Das jedoch im Vergleich zu anderen Säugetieren außerordentlich unreife Organ ist das Gehirn. Bezogen auf die neurobiologische Entwicklung ist das Kind auch zum typischen Geburtstermin in der 40. Schwangerschaftswoche ein frühgeborenes Wesen. Nach heutigem Kenntnisstand dauert die Entwicklung des neuronalen Systems mit nachweisbaren strukturellen Veränderungen mindestens bis zum Ende der 2. Lebensdekade an, wobei die Veränderungen von der Geburt bis zum 2. Geburtstag quantitativ am stärksten ins Gewicht fallen (Abschn.
1.2).
Exogene Einflüsse auf die Entwicklung
Bei der Organbildung in der Embryogenese und der Organdifferenzierung in der Fetalperiode handelt es sich um äußerst komplexe und damit störanfällige Prozesse. Bereits in dieser Phase spielt die Ökologie der intrauterinen Umwelt eine große Rolle. Eine direkte Schädigung und damit Veränderung des Erbgutes kommt insbesondere bei erhöhter Strahlenbelastung und toxisch-chemischen Einflüssen vor. Bekanntestes Beispiel sind die erhöhten Fehlgeburt- und Fehlbildungsraten durch nukleare Strahlung, beispielsweise nach dem Atombombenabwurf über Hiroshima und Nagasaki oder dem Reaktorunglück in Tschernobyl. Die Auswirkungen der Einwirkungen sind oft erst nach langer Zeit abzusehen, sie können sich durch die Veränderungen des Erbgutes über mehrere Generationen hinziehen. Auch durch chemische Substanzen kann das Erbgut intrauterin geschädigt oder verändert werden, in der Regel ist der Nachweis einer Verursachung jenseits von schweren Unfällen mit massiver Freisetzung der toxischen Substanzen schwierig. Wichtige historische Beispiele sind hier die Freisetzung von Dioxinen in die Umwelt, z. B. durch das Unglück von Seveso in Italien, die Quecksilbervergiftung in der Bucht von Fischfanggebieten vor der Küste von Japan (Minamata-Krankheit) sowie die Einnahme des Medikaments Thalidomid (Contergan) in der westlichen Welt.
Mütterliche körperliche Erkrankungen während der Schwangerschaft, wie
Diabetes mellitus,
Epilepsie und andere chronische Erkrankungen, können entweder den Embryo oder Fetus durch eine Veränderung des intrauterinen Milieus oder Übertragung von Medikamenten direkt schädigen, oder über eine Beeinträchtigung der Funktion der Plazenta die Nahrungszufuhr zum Ungeborenen verändern. Bei viralen Erkrankungen ist auch ein Übergang der Viren auf das Kind selbst möglich, sodass es zu einer intrauterinen pränatalen Infektion
kommt. Bei der Schädigung des ungeborenen Kindes spielen weniger genetische Veränderungen, sondern direkte Entzündungsreaktionen und damit Schädigungen des Gewebes eine Rolle. Ein Beispiel für schwerwiegende
pränatale Infektionen ist die Röteln-Embryopathie, die dank der Masern-Mumps-Röteln-Impfung stark zurückgegangen ist. Durch Impflücken, insbesondere auch Fehlen der 2. Auffrischimpfung, kann jedoch die Zahl der Jugendlichen und jungen Frauen ohne ausreichende
Antikörpertiter wieder zunehmen, sodass es bei entsprechender Exposition zu intrauterinen Infektionen mit
Röteln kommt. Bei diesen Kindern ist aufgrund der Schädigung der Sinnesorgane und des zentralen Nervensystems, häufig auch anderer Fehlbildungen, immer mit schwerwiegenden Behinderungen zu rechnen. Auch andere, nicht impfpräventable Viruserkrankungen während der Schwangerschaft können zu intrauterinen Infektionen führen, z. B. Parvoviren, Zytomegalieviren und Herpesinfektionen. Zu einer guten gesundheitsfördernden Beratung von Jugendlichen gehört neben der Sexualaufklärung daher auch eine Impfberatung.
Durch angeborene Störungen des Gerinnungssystems, Erkrankungen der Mutter oder Unfälle während der Schwangerschaft können bereits beim ungeborenen Kind Infarkte oder Blutungen des Gehirns zu einer
intrazerebralen Schädigung führen. Unverträglichkeiten zwischen dem mütterlichen und dem kindlichen Blutsystem (z. B. Rhesus-Inkompatibilität) können zu schwerer Blutarmut und
Herzinsuffizienz führen. Wenn das Kind die Geburt überlebt, besteht oft eine ausgeprägte Neugeborenengelbsucht (
Ikterus), die unbehandelt zum Kernikterus und in der Folge zu einer dystonen infantilen Zerebralparese führen kann. In entwickelten Ländern kann dieser Verlauf durch eine Desensibilisierung der Rhesus-negativen Mutter (Rhesus-Prophylaxe) verhindert werden. In Ländern mit eingeschränktem Zugang zum Gesundheitswesen wird dieser Verlauf noch häufig beobachtet.
Neben diesen direkten Einwirkungen werden auch durch Veränderungen des intrauterinen Milieus die Expression von Genen und damit die Regulation von Wachstum und Entwicklungsprozessen beeinflusst. Das wichtigste Beispiel dafür in der westlichen Welt ist der Einfluss des
Nikotinabusus auf die Gefäßausstattung der Plazenta und damit die Ernährung des ungeborenen Kindes. Durch Nikotin kann es zu einer Verengung der Blutgefäße, Unterernährung des Gewebes, Verkalkung der Plazenta und damit gedrosselter Sauerstoff- und Energiezufuhr zum Kind kommen. Neben den Folgen der unmittelbaren Mangelernährung mit Ausbleiben einer ausreichenden Gewichtszunahme, Zurückbleiben von Längenwachstum und schlimmstenfalls Entwicklung einer erworbenen Mikrozephalie, hat die pränatale Mangelernährung jedoch auch Einfluss auf die Einstellung des Energiestoffwechsels, die Wirkung von
Insulin und das Appetit- und Essverhalten im späteren Leben. Pränatales
Rauchen der Mutter ist mit Frühgeburtlichkeit, Untergewicht bei der Geburt, erhöhtem Risiko für den plötzlichen Kindstod, Verhaltensstörungen, beeinträchtigter
kognitiver Entwicklung, Übergewicht, Bluthochdruck,
Diabetes Typ 2, eingeschränkter Lungenfunktion und
obstruktiven Lungenerkrankungen in Verbindung gebracht worden (Banderali et al.
2015). Viele andere Faktoren, wie mütterliche Erkrankungen, Unterernährung oder psychosozialer Stress, und weitgehend unbekannte Faktoren sind mit dem mütterlichen Rauchen wie auch mit ungünstigen gesundheitlichen Entwicklungen bei dem Kind verbunden, sodass der Nachweis einer Kausalität und Aufklärung des Pathomechanismus von Nikotin oder anderen Substanzen im Zigarettenrauch häufig in retrospektiven und Querschnittstudien nicht geklärt werden kann.
Eine kleine Gruppe von werdenden Müttern nutzt während der Schwangerschaft illegale Substanzen oder befindet sich im Methadon-Ersatzprogramm bei
Heroinabhängigkeit. Die direkten toxischen Einwirkungen von Heroin, Morphinderivaten oder
Methadon auf das ungeborene Kind sind nach heutigem Kenntnisstand prinzipiell gering. Bei gravierenden Beeinträchtigungen des Ungeborenen oder auch später geborenen Kindes, ist dies in erster Linie auf Beikonsum anderer Substanzen, insbesondere Nikotin und Alkohol, und postnatale Vernachlässigung zurückzuführen. Wegen des hohen Risikos für eine Kindeswohlgefährdung bei Drogenabusus während der Schwangerschaft, entwickeln sich Standards für die interdisziplinäre Betreuung dieser Mütter, an der mindestens die lokalen Einrichtungen der Suchtberatung, der allgemeine soziale Dienst, das Jugendamt, niedergelassene Psychiaterinnen und Psychiater, niedergelassene Gynäkologinnen und Gynäkologen, die regionalen Geburtskliniken sowie Kinderkliniken beteiligt sein sollten, damit die folgenschwere Entwicklung von Deprivationen, Bindungsstörung, seelischer Behinderung, Verwahrlosung oder sogar der Tod eines Kindes verhindert werden kann.
Dass sich psychische Erkrankungen der Mütter oder toxischer Stress, insbesondere durch Gewalterfahrungen während der Schwangerschaft. über die veränderte Regulation von Stresshormonen bereits pränatal auf die Genexpression und -regulation des ungeborenen Kindes auswirken, ist bereits in mehreren Studien nachgewiesen worden. Auf diesem Wege ist nicht nur eine soziale transgenerationale Weitergabe von Verhaltensmustern, Affektregulation oder Resilienzfaktoren möglich, sondern diese Weitergabe wird unterstützt bzw. ergänzt durch epigenetische Phänomene.
Bei der
Epigenetik werden Veränderungen an den
Chromosomen und Genabschnitten beobachtet, die nicht mit Veränderungen der DNA-Sequenz einhergehen, aber den Phänotyp von Tochterzellen verändern. Zu den epigenetischen Prozessen gehören z. B. das Imprinting, das Verdecken von Genabschnitten durch Methylierung, die Reprogrammierung, Transfektionen und andere Prozesse (Brunst et al.
2018).
Insgesamt sind die oben genannten Beispiele für bereits pränatale Entwicklungsstörungen, gleich ob genetisch determiniert oder exogen verursacht, deutlich häufiger Verursacher einer Beeinträchtigung eines neugeborenen Kindes als akute Komplikationen unter der Geburt. Häufig können leichte Fehlbildungen oder Entwicklungsstörungen eines neugeborenen Kindes jedoch ätiologisch nicht geklärt und zugeordnet werden oder sie haben einen ungünstigen Einfluss auf den Geburtsvorgang, den Zeitpunkt der Geburt (Frühgeburtlichkeit) oder die postnatale Anpassung.
Aktuell werden Konzepte der Wirksamkeit von genetischer Ausstattung, Regulierung von Genen aufgrund äußerer Einflüsse, Umwelteinflüssen, wie Ernährung, Bewegung, Klima, traumatischen Lebensereignissen und sozialer Interaktion auf die Lebensspanne
, und die Interaktionen all dieser Einflussfaktoren, verstärkt diskutiert. Ob etwas bedeutsam wird oder nicht hängt davon ab, welche anderen Einflussfaktoren wirksam werden, welche Interaktionen zwischen den Einflussfaktoren bestehen und ob Mediatoren oder modifizierende Faktoren wirksam werden (Alderman et al.
2017).
Interaktionen zwischen der biologischen Ausstattung, d. h. Eigenschaften der Person, mit sozialen und emotionalen Erfahrungen, Sinneseindrücken und Lernprozessen, machen den Menschen zu dem, was er oder sie ist. Dieser Prozess ist nicht linear, sondern kann in wechselndem Tempo, fortschreitend oder zirkulär verlaufen. Stagnation oder Rückschritte können ebenso eintreten und eine positiv fortschreitende Entwicklung vorübergehend oder dauerhaft beeinträchtigen (Braveman und Barclay
2009). Was früher geschehen ist oder heute geschieht, kann bedeutsam sein für die weitere Entwicklung von morgen – dies ist die Kernaussage des sog. Lebensspannenansatzes, der sowohl das „fetal programming“ als auch das „early childhood programming“ durch psychosoziale Einflussfaktoren in den Vordergrund stellt (Glover et al.
2018). Die Bedeutung der frühen Kindheit
, beginnend mit der Schwangerschaft, ist die Grundlage für weltweite Initiativen: Das Nurturing Care Framework von WHO und UNICEF (WHO et al.
2018;
http://nurturing-care.org/) fordert die globale Sicherstellung der Kindergesundheit im Rahmen der Sustainable Development Goals (SDG) der Vereinten Nationen (UN; Kap. „Konventionen und Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie“). Nach wie vor ist der sozioökonomische Status der Familie der wirksamste Einflussfaktor auf die Realisierung von individuellen Gesundheitschancen (Hackman und Farah
2009).