Einleitung: Warum ist eine formale Definition psychischer Störungen so wichtig?
Durch eine formale Definition des Begriffs einer „psychischen Störung“ kann der Kanon der nosologischen Klassifikation
umgrenzt und festgelegt werden. Dabei gilt es, Phänomene des gestörten Empfindens und Verhaltens von Nicht-Störungen abzugrenzen. Es muss nachvollziehbar klar werden, was an einem Verhalten oder Erleben pathologisch ist und sich von normalen Verhaltens- und Erlebnisweisen unterscheidet. Über eine solche Definition werden die Aufgaben des medizinisch-therapeutischen Helfersystems in Abgrenzung zu anderen sozialen Systemen definiert, so soll einer Medizinalisierung sozialer Probleme vorgebeugt werden. Im sozialen Feld sollen jene Träger einer psychischen Störung herausgefunden werden, die sich von anderen Individuen unterscheiden, welche bloß die sozialen Regeln und Übereinkünfte und die persönlichen Grenzen anderer nicht einzuhalten gewillt sind.
Psychische Störungen können damit von kriminellen Verhaltensweisen unterschieden werden. Es gilt auch, die Schuldfähigkeit im forensischen Kontext durch die Definition
psychischer Störungen klären zu können.
Eine kritische und eindeutige Definition kann die Überinklusion jeglicher Form von Erleben und Verhalten in pathologische Kategorien vermeiden helfen. Dadurch sollen falsch-positive Einschätzungen von psychischem Anderssein verhindert werden. Es geht darum, eine Überetikettierung
vermeintlicher Patienten zu vermeiden, die als Träger von falschen Diagnosen sozialer Ausgrenzung oder übertriebenen Hilfeangeboten ausgesetzt wären, es gilt also soziale Benachteiligungen durch überinklusive Diagnosen zu unterlassen. Eine klare Definition
psychischer Störungen kann aber auch helfen, im therapeutischen Bereich nicht achtlos Ressourcen zu verschwenden, indem normale psychologische Prozesse einer Therapie unterzogen werden. Zuletzt positioniert sich eine Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters
durch schlüssige Definitionen ihres Geltungsbereiches als eine medizinisch-therapeutische Disziplin (Telles-Correia et al.
2018).
Definition des psychischen Störungsbegriffes
Ein Zitat aus
DSM-5 (American Psychiatric Association
2015, S. 26) soll die grundlegende Definition verdeutlichen: „Eine psychische Störung ist als Syndrom definiert, welches durch klinisch bedeutsame Störungen in den Kognitionen, der Emotionsregulation oder des Verhaltens einer Person charakterisiert ist. Diese Störungen sind Ausdruck von dysfunktionalen psychologischen, biologischen oder entwicklungsbezogenen Prozessen, die psychischen und seelischen Funktionen zugrunde liegen.
Psychische Störungen sind typischerweise verbunden mit bedeutsamen Leiden
oder Behinderung
hinsichtlich sozialer oder berufs-/ausbildungsbezogener und anderer wichtiger Aktivitäten. Eine normativ erwartete und kulturell anerkannte Reaktion auf übliche Stressoren oder Verlust, wie z. B. der Tod einer geliebten Person, sollte nicht als psychische Störung angesehen werden. Sozial abweichende Verhaltensweisen (z. B. politischer, religiöser oder sexueller Art) und Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft sind keine
psychischen Störungen, es sei denn, der Abweichung oder dem Konflikt liegt eine der oben genannten Dysfunktionen zugrunde.“
Weiter wird betont, dass der Diagnose einer psychischen Störung eine klinische Nützlichkeit zukommen solle, d. h., sie sollte es dem Behandler ermöglichen „… eine Prognose, einen Behandlungsplan und den wahrscheinlichen Behandlungsausgang für den Patienten zu bestimmen“ (American Psychiatric Association
2015, S. 26). Die Diagnose
kann aber nicht allein aus dem Behandlungsbedarf abgeleitet werden.
Auch in der internationalen Definition
psychischer Störungen – in der internationalen Klassifikation ICD 10 – wird festgehalten, dass der Begriff „Störung“ kein exakter Begriff ist, seine Verwendung in der europäischen Klassifikation „soll einen klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten
anzeigen, der immer auf der individuellen und oft auch auf der Gruppen- oder sozialen Ebene mit Belastung und mit Beeinträchtigung von Funktionen verbunden ist, sich aber nicht auf der sozialen Ebene allein darstellt“ (Dilling et al.
1991, S. 19).
Zur Begriffsgeschichte
Schon Jaspers (
1973) entwickelte seit 1913 bis in die 7. Auflage seines Buches über Allgemeine
Psychopathologie den Versuch eines einheitlichen Diagnoseschemas. Er sieht sich aber einer Überfülle an Einzelheiten gegenüber: „… die Gestalten der Krankheitsganzheiten sind wie ein unendliches unübersehbares Gewebe, das wir nicht auflösen können“ (S. 506). Er definiert Forderungen an ein Diagnoseschema, die durchaus modern anmuten. Er fordert beispielsweise, dass eine Krankheitseinheit die Zuordnung des Patienten nur in eine Kategorie erlauben sollte. Und dass jeder „Fall einen Platz findet“ (S. 506). Aber eine übergeordnete, einheitliche Definition, was überhaupt eine Störung des Seelenlebens ist oder das „Irre-sein“ bedeutet, wird nicht angeboten. Immer wieder wird betont, wie vielfältig und facettenreich die Erscheinungen des gestörten Seelenlebens sind.
Eine solche übergeordnete Definition einer psychischen Störung findet sich im amerikanischen System auch erst ab der dritten Version des diagnostischen und statistischen Manuals (American Psychiatric Association
1984). Vorausgegangen war eine heftige Debatte, die zur Entfernung der Homosexualität aus dem Klassifikationssystem
geführt hatte. Im ersten Manual von 1952 fand sich Homosexualität noch unter der soziopathischen Persönlichkeitsstörung, 1968 in der zweiten Version wurde Homosexualität mit anderen sexuellen Deviationen rekategorisiert. Als das DSM-III erschien, sollte die damalige Definition so eindeutig sein, dass sie Homosexualität als psychische Störung von vornherein ausschließen konnte, andererseits musste sich die Psychiatrie auch gegenüber Strömungen der anti-psychiatrischen Labeling-Theorie
verteidigen, die psychiatrische Diagnosen als bloße soziale Zuschreibungen in einem gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsprozess auffassten und so der Psychiatrie unterstellten, sie sei bloß eine Dienerin gesellschaftspolitischer Verhältnisse und eine Wächterin für den Machterhalt bestimmter Regime (Bingham und Banner
2014). R. L. Spitzer definierte im DSM-III
psychische Störungen als klinisch auffallendes Verhalten oder Merkmalsmuster, das mit unangenehm erlebten Symptomen oder Beschwerden und/oder mit Leistungseinschränkungen (Unvermögen) einhergeht. In seiner Beschreibung sind verhaltensmäßige, psychische oder biologische Dysfunktionen eine Annahme, die darüber hinaus gegenüber dem Begriff der psychischen Störung anzuwenden sei, sodass die Störung nicht nur die Beziehungen zwischen dem Individuum und der Gesellschaft beträfe (American Psychiatric Association
1984). Es gilt anzumerken, dass die Veränderung der Definition im
DSM-5 ohne großen Gesellschaftsdiskurs erfolgt ist. Nun wird die Frage der Dysfunktionalität
als Erstkriterium bezeichnet, und das bedeutsame Leiden und die Behinderungen sind nur noch „typischerweise verbunden“ mit dem Begriff. Während das Hauptkriterium in den 1970er Jahren also Leiden und Beeinträchtigungen waren, sind es heute eher die dysfunktionalen Prozesse, die ja in den meisten Fällen den psychischen Phänomenen noch unterstellt werden, da die neurobiologische Forschung bis heute keine gültigen biologisch fundierten Definitionen
psychischer Störungen ermöglichen konnte.
Möglicherweise gilt es damit die
psychischen Störungen nicht so sehr vor gesellschaftlichen Anwürfen zu schützen, sondern der wissenschaftlichen Fundierung das Terrain einzuräumen. Diese Veränderung der Definition stößt sowohl in europäischen als auch in amerikanischen Arbeiten auf Proteste (First und Wakefield
2013; Telles-Correia
2018). Man befürchtet, dass die Definition
psychischer Störungen nun gegenüber gesellschaftspolitischen Prozessen wieder anfälliger geworden ist. So wird ja die Definition von Dysfunktion und Abweichung primär gesellschaftlich definiert, während das leidende Individuum eine individuell bestimmte Störungsdefinition erlaubt. Nun ist der individuelle Leidensbegriff
aber zum Sekundärkriterium geworden. Fortschritte der neurobiologischen Forschung und eine Fortsetzung des gesellschaftlichen Diskurses werden zeigen, wie sich die definitorische Qualität psychischer Störungen in Zukunft wandeln wird.
Auch in der klinischen Psychologie gilt dieselbe Definition
psychischer Störungen (Barlow et al.
2018). Psychologische Störungen definieren sich dabei durch eine psychologische Dysfunktion, Distress und Beeinträchtigungen des Subjekts, ergänzt durch atypisches nicht kulturell erwartetes Verhalten.
Was ist normal?
Gerade bei Kindern und Jugendlichen erscheint es unter Entwicklungsgesichtspunkten zu kurz gegriffen, psychische
Normalität nach gruppenstatistischen Gesetzen bestimmen zu wollen. Eine statistische Norm setzt die Häufigkeit eines Verhaltens und Normalität gleich (Berner
1977). In der typischen Glockenkurve geht der, dem arithmetischen Mittel naheliegende,
Normalbereich fließend in die abnormen Extreme über. Demgegenüber können gesellschaftlich bestimmte Idealnormen für Verhaltensweisen Wertnormen
bilden und so, als von einem sozialen Kollektiv gesetzte Regeln, erwünschtes Verhalten als normal definieren. Auch solche Wertnormen sind aber nicht geeignet, einen Beitrag zu einem besseren Verständnis
psychischer Störungen zu leisten. So kann
Psychopathologie nicht dadurch definiert werden, dass ein Mensch moralische Regeln überschritten hat oder bestimmte soziale Erwartungen nicht erfüllt (Resch
1999a). Ein besser geeigneter – wenn auch schwammiger – Begriff ist die Entwicklungsförderlichkeit
: So wäre in funktionellem Sinne jenes Erleben und Verhalten normal, das dem Individuum für die Zukunft möglichst große Anpassungs- und Entwicklungschancen ermöglicht. Eine solche Normdefinition ist nicht nur utilitaristisch und relativistisch, sondern auch im Einzelnen prospektiv schwer auf den Punkt zu bringen, denn was entwicklungsförderlich oder -hinderlich ist, erweist ja oft erst retrospektiv seine Gültigkeit! Wichtig zu bedenken ist auch, dass durch die Definition einer psychischen Störung als normative Abweichung ein Individuum auch von anderen, die sich selbst eine Normkonformität
zuschreiben, ausgegrenzt werden kann („wer stört, ist gestört“).
Wir gehen davon aus, dass
psychische Störungen nicht plötzlich in das Leben eines Kindes hereinbrechen, sondern sich über unterschiedliche Vorstadien langsam entwickeln können. Betrachtet man das Eltern-Kind-Gesamtsystem finden wir nicht selten in einer Inkompatibilität des emotionalen Dialoges und familiären Spannungszuständen jene Risikobedingungen, aus denen schließlich im Entwicklungsverlauf eine durchaus individuelle pathologische Entwicklung beim Kind entstehen kann. Der Normbegriff orientiert sich also eher an der psychischen Flexibilität (Kashdan und Rottenberg
2010) und an einem allgemeinen Begriff des Wohlbefindens und erfolgreichen Handelns.
Psychische Störungen sollten immer beide Aspekte in sich vereinen, eine Dysfunktionalität im biopsychosozialen Bedingungsraum und ein bedeutsames Leiden, das mit Beeinträchtigungen und subjektiven Beschwerden einhergeht.
Was macht ein Symptom aus?
Im
DSM-5 wird explizit das Kriterium der klinischen Signifikanz betont, das Konzept der
psychischen Störungen und das Konzept der Behinderung sollen voneinander getrennt werden. In den Definitionskriterien durch Symptome ist es nicht möglich, für den Schweregrad vieler
psychischer Störungen, in den Kriterien normale und pathologische Ausformungen von den Symptomen voneinander eindeutig abzugrenzen. So kommen Traurigkeit oder
Schlafstörungen in diagnostischen Kriterien vor, die per se keinen Krankheitswert
besitzen, aber auch Symptome, die schon eher als „pathologisch“ angesehen werden: So können akustische
Halluzinationen in milder und transienter Form auch bei nicht psychisch beeinträchtigten Personen vorkommen, sie sind nicht indikativ für das Vorliegen einer Psychose per se. Intoxikation oder Reizdeprivation können sehr wohl auch halluzinatorische Phänomene hervorrufen, ohne dass ein zugrunde liegender psychotischer Prozess diagnostiziert werden kann. Es gilt also weitere Kriterien heranzuziehen, die feststellen lassen, ob ein Symptom als pathologisch anzusehen ist oder nicht. Wie können wir emotionale Störungen von Steigerungsformen physiologisch negativer Affekte wie Angst, Kummer, Wut, Scham oder Schuld abgrenzen? Die Intensität einer Symptomatik bestimmt wesentlich darüber, wie effizient die psychischen Regulationsmechanismen
eingesetzt werden können. Übertriebene, „disproportionale“ emotionale Reaktionen, die auch die sozialen und Intimitätsgrenzen im sozialen Umfeld überschreiten lassen, werden eher den Charakter eines psychopathologischen Phänomens annehmen. Übersteigerte Erlebnis- und Verhaltensweisen wirken sich negativ auf den situativen Kontext aus, lösen Gegenmaßnahmen von Seiten der sozialen Umgebung aus, was oft zu Teufelskreisen der Eskalation führen kann. Die überlange Dauer emotionaler Reaktionen oder expansiver Verhaltensweisen im Anschluss an einen Auslöser trägt ebenfalls zu deren Dysfunktionalität und Disproportionalität bei, so kann eine Kummerreaktion nach dem Verlust einer wichtigen Bezugsperson, wenn sie über mehrere Jahre anhält, als verlängerte Trauerreaktion schließlich zum psychopathologischen Symptom werden (Resch
1999b).
Der Bezug zu Auslösern, d. h. die Analyse des situativen Anlasses von Symptomen, kann ebenfalls die Bedeutung eines Symptoms als psychopathologisch hervortreten lassen. Wie sehr ist eine Erlebnisreaktion mit Bezug auf ihren Auslöser adäquat? Dabei geht es um einen normativen Vergleich mit Gleichaltrigen. Solchermaßen überschießende, extensive Reaktionen werden eher als pathologisch angesehen. Auch eine Generalisierung emotionsauslösender Anlässe, wie wir sie beispielsweise bei der Entwicklung einer multiphobischen Störung kennen, trägt zu dieser Unterscheidung bei. Als wichtiger Begriff der klinischen Signifikanz
kann die „pervasiveness“ angesehen werden. Wenn Symptome sich in einer großen Fülle kontextueller Faktoren wiederfinden, wird es eher einer internen Dysfunktion entsprechen, so wird beispielsweise für die ADHS-Diagnose gefordert, dass die unkonzentrierten und hyperaktiv-impulsiven Symptome sich in unterschiedlichen Lebenssituationen und Settings des Kindes wiederfinden, wie z. B. zu Hause, in der Schule, am Arbeitsplatz, beim Spielen mit Freunden oder mit anderen Verwandten oder in verschiedenen Freizeitaktivitäten. Auch das neue Syndrom der Dysruptive Mood Dysregulation Disorder (
Disruptive Affektregulationsstörung) muss in mehr als zwei unterschiedlichen Settings des Kindes (z. B. zu Hause, in der Schule oder mit Gleichaltrigen) auftreten. Um den Rahmen der Pathologisierung
von normalen regulativen Vorgängen der Emotionen und des Verhaltens nicht zu überspannen, werden in den Definitionen
psychischer Störungen spezifische Ausschlusskriterien formuliert, die Kontexte betreffen, in welchen die Symptome als normale Reaktionen aufzufassen sind. Beispielsweise kann der selektive Mutismus nur dann diagnostiziert werden, wenn die Unfähigkeit zu sprechen nicht durch fehlende Kenntnisse der in der sozialen Situation erforderlichen gesprochenen Sprache bedingt ist, oder dadurch hervorgerufen wird, dass der Betroffene sich in dieser Sprache nicht wohlfühlt.
Wie valide sind psychiatrische Diagnosen?
Die Bausteine der nosologischen Diagnose sind Symptome, die psychopathologisch formuliert und definiert werden. Die Rolle der
Psychopathologie für die Nosologie wird dabei zwiespältig betrachtet, denn die Psychopathologie erscheint uns oft als ein antiquiertes Begriffsinstrumentarium (Resch und Parzer
2015), das auch die Züge einer spekulativen Phänomenologie trägt. Demgegenüber fließen langjährige klinische Erfahrungen in die Definitionen psychopathologischer Phänomene mit ein und bieten dadurch die Hilfestellung, dass Dysfunktionalitäten des Erlebens und Handelns auf diese Weise systematisch erfasst werden (Resch und Parzer
2015). Gerade subjektive Leidenszustände, Anpassungsprobleme, Entwicklungsbeeinträchtigungen in ganz unterschiedlichen Erlebnis- und Verhaltensbereichen können so differenziert und begrifflich erfasst werden. Zwischen ordnendem Beschreiben und inhaltlichem Verstehen besteht eine dialektische Spannung, die den psychopathologischen Begriffen selbst schon eingeschrieben ist. Dazu haben die großen Psychopathologen des letzten Jahrhunderts bereits in philosophisch anspruchsvoller Weise ihren Beitrag geleistet (siehe Jaspers
1973). Ein Vorteil darf nicht vernachlässigt werden: denn die psychopathologischen Begriffe sind für die Kommunikation im Bereich der wissenschaftlichen und therapeutisch-orientierten Helfersysteme
unumgänglich. So können einige psychopathologische Symptome präzise definiert werden und ihr Bedeutungsgehalt soweit umschrieben werden, dass in globaler Perspektive mittlerweile jedes Mitglied der therapeutischen Gemeinschaft verstehen kann, was beispielsweise eine depressive Symptomatik oder eine Panikattacke bei Patienten bedeutet. Psychopathologische Begriffe erzeugen so potenziell einen wissenschaftlich-therapeutischen Konsens und wirken einer Ausuferung von therapeutischen Privatwelten entgegen.
Die nosologische Konstruktion zielt darauf ab, aus einzelnen regelhaft gemeinsam auftretenden psychopathologischen Symptomen Syndrome zu definieren, d. h. Symptomverbände zu beschreiben, die empirisch erfassbar sind, eine differenzielle Verlaufsgestalt der Störung vorhersagen lassen und im günstigsten Falle sogar eine gemeinsame ätiopathogenetische Grundlinie besitzen. Die Definition
psychischer Störungen begründet die Integrität der Psychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie innerhalb der medizinischen Domänen. Die Operationalisierung von Syndromen erfolgt in den nosologischen Manualen möglichst ätiologieunabhängig, um nicht bereits Spekulationen über die Entstehung
psychischer Störungen in deren Definition einfließen zu lassen. Die definierten Syndrome müssen auch von normalen stressabhängigen Regulationsmechanismen und sozialen Abweichungen in unterschiedlichen politischen Feldern abgrenzbar sein. Das Kriterium des Leidens und das Kriterium der dysfunktionalen Prozesse müssen in nosologischen Konstrukten erkennbar sein. Um psychische Störungen von anderen sozialen Normabweichungen
abgrenzen zu können, brauchen diese eine Konzeptvalidität; nur dadurch kann sich die Psychiatrie als eine wissenschaftliche Disziplin legitimieren.
Diese Konzeptvalidität
muss unterschieden werden von zwei anderen wichtigen Validitätskriterien der nosologischen Diagnostik (Wakefield und First
2013). Die diagnostische
Validität von Syndromen erlaubt eine klare differenzialdiagnostische Zuordnung, sodass unterschiedliche psychopathologische Syndrome möglichst wenig überlappen. Angemessene Differenzialdiagnosen sind zum Beispiel notwendig, um die Major Depression von der bipolaren Störung abzugrenzen. Eine andere wichtige Differenzialdiagnose ist die der generealisierten Angststörung gegenüber der
Panikstörung. Weiter ist noch die Konstruktvalidität
zu nennen, die dann gegeben ist, wenn einem bestimmten psychiatrischen Syndrom auch eine spezifische Ätiologie zugeordnet werden kann. Die meisten Syndrome unserer diagnostischen Klassifikation besitzen derzeit noch keine schlüssige Konstruktvalidität, es wird vielmehr davon ausgegangen, dass sie multiple Beeinträchtigungen mit distinkten pathogenetischen Pfaden subsumieren. Die Verbesserung der Konstruktvalidität psychopathologischer Phänomene ist zukünftigen Forschungsbemühungen vorbehalten (Wakefield und First
2013).
Neben den Validitätskriterien müssen nosologische Konstrukte auch Reliabilitätskriterien erfüllen. Sie müssen vom selben Untersucher, zu unterschiedlichen Zeitpunkten, in gleicher Weise feststellbar sein (Intrarater-Reliabilität), Symptome müssen aber auch von unterschiedlichen Untersuchern in gleicher Weise feststellbar sein (diagnostische Interrater-Reliabilität).
Kann die Persönlichkeit des Menschen so gestört sein, dass sie als psychische Störung aufzufassen ist?
Seit Eysenck (
1970) verstehen wir unter Persönlichkeit „die stabile und überdauernde Organisation von Verhalten, Temperament, kognitiven Fähigkeiten und körperlichen Merkmalen eines Menschen“ (zitiert nach Schmeck et al.
2012, S. 719). Persönlichkeit als das Integral aller psychischen Eigenschaften und Verhaltensbereitschaften bietet dem Individuum ein Handlungsrepertoire zur Auseinandersetzung mit der Umwelt, dieses Repertoire verleiht dem Menschen seine Einzigartigkeit (Resch
2009). Die Frage, ob die Persönlichkeit eines Menschen gestört sein kann und damit die Kriterien des Leidens und der Dysfunktionalität erfüllt, zieht weitere Fragen nach sich. Es zeigt sich, dass eine sozialwissenschaftliche Perspektive dem Begriff der
Persönlichkeitsstörungen mit einer Fülle von belastenden Nebenbedeutungen, Exklusionskriterien und sozialen Beurteilungsunschärfen versehen hat. Historisch gesehen, muss der Begriff der Persönlichkeitsstörung einer besonderen Wachsamkeit unterzogen werden. Denn die gestörte Persönlichkeit verhält sich anders, als ihre soziale Umwelt es erwartet oder als verträglich erachtet. Eine solche Abweichung von kulturellen Vorgaben und Normen ist aber immer auch dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen und wird von jeder Generation in unterschiedlichen Ausdeutungen belegt (Resch et al.
2018). Probleme der Affektregulation und Impulskontrolle sind Schwierigkeiten in der Interaktion solcher Menschen mit anderen und gelten daher als Hauptmerkmale von Persönlichkeitsstörungen. Die Frage muss gestellt werden, wie man Patienten am ehesten gerecht wird: Durch eine kategoriale Definition von Störungen, in die man Patienten einteilt, oder durch eine dimensionale Betrachtung (Resch et al.
2018), die unterschiedlichen Facetten, Nuancen und Schweregraden von Problemen und subjektiven Beschwerden Rechnung tragen kann (Kap. „Kategoriale versus dimensionale Klassifikation
psychischer Störungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und – psychotherapie“).
Die Diagnostik von
Persönlichkeitsstörungen ist im internationalen Klassifikationssystem des ICD-10 kategorial definiert. Das neue
DSM-5 besitzt sowohl eine kategoriale als auch eine dimensionale Diagnosevorlage.
Die detaillierte Persönlichkeitsdiagnostik
wird im Kap. „Persönlichkeitsstörungen bei Kindern und Jugendlichen“ beschrieben. Im Folgenden sollen nur die drei Cluster der möglichen
Persönlichkeitsstörungen in kategorialer Einteilung genannt werden:
Zum Cluster A gehören paranoide sowie
schizoide Persönlichkeitsstörungen, sie gehen mit außergewöhnlichem, exzentrischem Verhalten einher. Die paranoide Störung ist primär durch Misstrauen gegenüber anderen gekennzeichnet, der Kern der schizoiden Persönlichkeitsstörung ist durch ein mangelndes Interesse an zwischenmenschlichen Beziehungen geprägt.
Cluster B umfasst die dissoziale, die emotional-instabile und hystrionische sowie
narzisstische Persönlichkeitsstörung. Überschwellige Verhaltensaktivierungen stehen im Vordergrund, die zu dramatischen zwischenmenschlichen Situationen Anlass geben können. Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen sind am wenigsten leicht zu übersehen (Schmid und Schmeck
2013). Bei der
dissozialen Persönlichkeitsstörung finden wir häufig einen Empathiemangel und eine Rücksichtslosigkeit gegenüber den Grenzen anderer, die über die Verhaltensaktivierung hinausgehen. Die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung wird auch als
Borderline-Persönlichkeitsstörung bezeichnet.
Cluster C bietet ein Übermaß an Verhaltenshemmung und -vermeidung. Diese Verhaltensweisen gehen in der Regel mit subjektiv erlebter Bedrohung einher. Dabei handelt es sich um Menschen mit
anankastischen Persönlichkeitsstörungen, die in zwanghaft perfektionistischer Verhaltensweise ihre Anpassung zu bewältigen versuchen. Patienten mit ängstlich-vermeidender Persönlichkeitsstörung halten sich eher aus sozialen Situationen heraus, um einer potenziellen Bewertung entgehen zu können. Solche Menschen bauen Kontakte zu anderen nur auf, wenn sie durch eine sichere, positive Resonanz gesichert scheinen.
Dependente Persönlichkeitsstörungen betreffen Menschen, die davon ausgehen, dass sie ihr eigenes Leben nicht selbstständig meistern können, wobei sie ihre Ängste und Hilflosigkeit durch Anklammerungstendenzen zu kompensieren trachten.
Im Kindes- und Jugendalter wurde bis heute der Persönlichkeitsbegriff oft generell in Frage gestellt. Das Argument dabei ist, dass Kinder noch nicht reif genug wären, um in ihrem Erleben und Verhalten Persönlichkeitseigenschaften zu entwickeln. Dieser Sicht ist klar entgegenzutreten, denn wir gehen davon aus, dass das Kind in jedem Lebensalter eine ihm eigene optimierte psychische Struktur besitzt, und es ist nicht angemessen, Kinder nach einem Erwachsenenideal als grundsätzlich nicht optimal umweltangepasst oder unreif zu betrachten. Darüber hinaus existieren empirische Befunde, die zeigen, dass Persönlichkeitsmerkmale
bereits im frühen Lebensalter zu identifizieren sind und dass es auch eine gewisse Stabilität vom Kindheits- über das Adoleszenz- bis zum Erwachsenenalter gibt (Krischer et al.
2006). Nach Shiner (
2005) können wir festhalten: Kindliche Temperamentsmerkmale zeigen Übereinstimmungen mit Persönlichkeitsmerkmalen des Erwachsenenalters.
Individuelle Erlebnisse und Verhaltensdifferenzen lassen sich bereits im Jugendalter in den Persönlichkeitsdomänen des dimensionalen Persönlichkeitsmodels (BIG FIVE) beschreiben.
Persönlichkeitsstörungen können auch in dynamische Begriffe gefasst werden. Da ja pathologische oder abweichende Muster von Persönlichkeitsmerkmalen sich niemals in allen Persönlichkeitsdomänen als dysfunktional erweisen, müssen wir davon ausgehen, dass es komplexe Kombinationen von adaptiven, maladaptiven und autoregulatorischen Verhaltensmerkmalen gibt (Resch et al.
2008). Den nuancierten Übergängen von
Normalität zu Dysfunktionalität im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen wird daher ein dimensionales Persönlichkeitskonzept eher gerecht (Resch et al.
2018). Im
DSM-5 wird dazu ein alternatives Modell für Persönlichkeitsstörungen dargestellt, das sowohl das Funktionsniveau der Persönlichkeit als auch problematische Persönlichkeitsmerkmale und deren Durchgängigkeit und Stabilität dokumentiert. Wichtig erscheint dabei auch eine differenzialdiagnostische Überlegung, die alternative Erklärungen für diese Auffälligkeiten prüft. Diagnostische Kriterien sind mittelgradige oder stärkere Beeinträchtigungen im Funktionsniveau der Persönlichkeit, die sich in Schwierigkeiten in mindestens zwei der folgenden Bereiche manifestiert:
-
Identität
-
Selbststeuerung
-
Empathie
-
Nähe
Weiter muss eine Domäne problematischer Persönlichkeitsmerkmale oder mindestens eine spezifische Persönlichkeitsfacette aus allen der folgenden Domänen vorliegen. Die fünf Domänen haben einen bipolaren Charakter:
-
negative Affektivität versus emotionale Stabilität
-
Verschlossenheit versus Extraversion
-
Antagonismus versus Verträglichkeit
-
Enthemmtheit versus Gewissenhaftigkeit
-
Psychotizimus versus Adäquatheit
Von zentraler Bedeutung für das Funktionieren der Persönlichkeit und ihre Anpassungsfähigkeit erscheint, wie sehr die einzelne Person über sich selbst reflektieren kann, wie sehr sie sich und die Art der Interaktion mit anderen einem inneren Verständnis zu unterwerfen vermag. Ein solches dimensionales Persönlichkeitsmodell eignet sich sehr gut auch für eine Diagnostik dysfunktionaler Erlebens- und Verhaltensweisen im Kindes- und Jugendalter.
Das biopsychosoziale Modell
Die aus psychopathologischen Symptomen konstruierten Syndrome, die im Einzelnen die
psychischen Störungen ausmachen, werden sowohl hinsichtlich des subjektiven Leidens- und des Beeinträchtigungscharakters als auch hinsichtlich der dysfunktionalen Prozesse in einem biopsychosozialen Modell eingeordnet. Die simplen, klassischen Kausalitätsmodelle einer Verursachung
psychischer Störungen trugen noch einen „Entweder-oder-Charakter“. So nahm man an, dass psychische Störungen entweder durch hirnorganische oder genetische Verursachungen bedingt waren. Dementsprechend nannte man psychische Störungen entweder organische Störungen oder idiopathische Störungen. Andererseits wurde eine Reihe von psychischen Symptomen auch als erlebnisbedingt oder traumatisch verursacht angesehen (beispielsweise sprach man auch von psychogenen Psychosen). Solche Störungen wurden als „umweltbedingte Störungen“ bezeichnet. Heute hat man die klassischen Modelle zugunsten komplexerer Vulnerabilitätsvorstellungen verlassen. Alle modernen Pathogenesemodelle
versuchen Wechselwirkungen zwischen genetischen oder neurobiologischen Faktoren einerseits und erlebnisreaktiven Variablen andererseits erkennbar zu machen. Aus solchen Wechselwirkungen heraus entwickelt sich die Vorstellung von Vulnerabilität, die bestimmte Individuen für negative Umweltkonstellationen oder traumatische Einflüsse empfindlicher machen. Demgegenüber spricht man von Resilienz, wenn Individuen gegenüber negativen Entwicklungseinflüssen sich als besonders widerstandsfähig erweisen.
Will man die unterschiedlichen Therapieformen im Rahmen der Kinder- und Jugendpsychiatrie, wie beispielsweise
Psychotherapie und Pharmakotherapie, in einen gemeinsamen Fokus nehmen, so kommt man gar nicht umhin, die somatisch orientierten Therapieverfahren und die primär psychotherapieorientierten Therapieverfahren in einem gemeinsamen biopsychosozialen Modell abzubilden. Das biopsychosoziale Modell wird oberflächlich betrachtet diesen Notwendigkeiten einer mehrdimensionalen integrativen Sichtweise gerecht (Resch und Parzer
2016), bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass das biopsychosoziale Modell in seinen biologischen, sozialen und psychologischen Domänen in unterschiedlichen Sprachen ausformuliert ist (Resch und Westhoff
2013). Die Biosphäre wird in den Sprachen der Naturwissenschaften ausbuchstabiert und auch der Bereich des Sozialen unterliegt empirischen Untersuchungsmethoden, die sich dem naturwissenschaftlichen Vokabular öffnen. Auf der Ebene des Psychischen jedoch erkennen wir eine janusköpfige Doppelfigur als Struktur. Denn in der Außenwahrnehmung des Menschen von sich und anderen, in der Verhaltensbeobachtung und Beschreibung emotionaler Prozesse gibt es kein Problem, eine Mehrebenen-Modellierung in einer gemeinsamen Sprache zu betreiben. Die Erkenntnistätigkeit des Subjektes in der psychischen Domäne ist aber auch durch eine Innenwahrnehmung und die Selbstreflexion gekennzeichnet. Diese Innenperspektive oder Perspektive der ersten Person ist nicht direkt mit der Außenperspektive oder der Perspektive der dritten Person in Verbindung zu bringen. So finden wir keine erkenntnistheoretische Brücke, die explikative Übergänge zwischen diesen beiden Erkenntnisdomänen erlaubt (Sturma
2006). Die Grenze zwischen Innen und Außen ist erkenntnistheoretisch nicht auflösbar. Trotzdem müssen wir als Therapeuten gerade an dieser Grenze immer wieder operieren und zwischen unterschiedlichen Ebenen des biopsychosozialen Modells vermitteln, um handlungsfähig zu bleiben (Resch und Parzer
2016). Schon die Definition
psychischer Störungen trägt der Janusköpfigkeit der psychologischen Domäne im biopsychosozialen Modell Rechnung, denn das subjektive Leid ist in der Innenwahrnehmung angesiedelt, während alle dysfunktionalen Prozesse im biopsychosozialen Bereich nur durch Außenwahrnehmung erkennbar sind.
Es gelingt also nicht, alle Facetten
psychischer Störungen in einer einzigen wissenschaftlichen Formulierung durchzubuchstabieren. Vielmehr erkennen wir das biopsychosoziale Modell als ein geschichtetes Modell von Vorstellungs- und Erkenntnisweisen, die in unterschiedlichen Denksystemen und Traditionen unterschiedliche Sprachen ausgebildet haben, in denen jede Domäne ihre jeweiligen Erkenntnisse ausformuliert (Resch und Westhoff
2013). Natur- und Geisteswissenschaften
berühren einander im biopsychosozialen Modell. Diese Mehrebenen-Vorstellung vom Menschen erscheint daher eher als ein Mehrsprachen-Modell im Wittgensteinschen Sinne der Sprachspiele
(Wittgenstein
1978). Wer sich im biopsychosozialen Modell bewegt, muss immer wieder zwischen unterschiedlichen Standpunkten, Denksystemen und Betrachtungsformen oszillieren und muss dabei auch wissenschaftliche Sprachgrenzen überschreiten (Resch und Westhoff
2006). Wer nur in einer Sprache – nämlich der Sprache der Mathematik und Naturwissenschaften – bleibt, besitzt eine zu schmale Sicht auf die Zusammenhänge und schränkt damit unter therapeutischen Gesichtspunkten die eigene Handlungsfähigkeit ein. Denn alle Formen psychiatrischer Interventionen basieren nicht nur auf einer Aufklärung von Zusammenhängen kausaler Art, sondern auch auf einem Verständnis von Interaktionen und Kommunikationen. Psychiatrie ist damit ebenso eine naturwissenschaftlich-sozialwissenschaftliche Disziplin, wie sie ein hermeneutischer Prozess ist. Was die Innenwelt unserer Patienten betrifft, sind wir auf deren kommunikative Übermittlung in Form von Sprache, Mimik und Verhalten angewiesen. Die Innenwelt unserer Patienten können wir nicht direkt erfahren, sondern nur erschließen.
Der Wunsch nach biologischer Fundierung nosologischer Konstrukte
Um die Konstruktvalidität
von nosologischen Konstruktionen zu erhöhen und damit die Psychiatrie noch fester im Kanon der medizinischen Disziplinen zu etablieren, gilt der ganz besondere Wunsch nach einer Aufhellung neurobiologischer, pathogenetischer Prozesse. Eine solche neurobiologische Fundierung könnte auch eine anti-stigmatisierende Wirkung gegenüber den Patienten entfalten, da es deren subjektives Leid durch Nachweis pathologischer Prozesse zusätzlich Glaubwürdigkeit zu verleihen vermag. Denn unter Anwendung des medizinischen Modells erscheinen psychische Symptome besonders dann als klassische, therapienotwendige Entitäten, wenn sie auch begleitende Beeinträchtigungen neurobiologischer Prozesse aufweisen (Resch und Westhoff
2008). Als Beispiel dafür könnte man die Dissoziation heranziehen, deren zerebrale Korrelate sich von Prozessen der
Simulation abgrenzen lassen. Damit könnte am Beispiel der Dissoziation deutlich gemacht werden, wie sehr psychische Symptome ohne organische Grundlage einem Generalverdacht des „Gemachten“, Gefälschten oder Simulierten unterliegen (Brunner und Resch
2008).
Wir dürfen uns aber von der biologischen Korrelation psychischer Beeinträchtigungen nicht täuschen lassen, denn auch wenn neurobiologische Befunde zu einer Entstigmatisierung von Patienten beitragen können, kann man sich nicht über die Tatsache hinweg retten, dass ein somatisches Korrelat
psychischer Störungen nicht per se einen medizinisch relevanten Sachverhalt beschreibt. Letztlich kommen wir nicht umhin, die gesamte Pathogenese eines Syndroms aufzudecken, um schließlich auch kausalorientierte, therapeutische Interventionen anzuschließen. Bis zu diesem Zeitpunkt bleiben neurobiologische Korrelate lediglich Hoffnungsträger, die uns über unser kausales Unwissen hinweghelfen. Denn wird das subjektive Erleben eines Gedächtnisverlustes oder die Bedrohung durch eine halluzinatorische Stimme wirklicher – und in ihrem Leidendruck besser erkennbar –, wenn sie in bildgebenden Verfahren neurobiologische Korrelate erkennen lässt (Resch und Westhoff
2008)? Neurobiologische Korrelate lassen auch nicht die Interpretation zu, dass die subjektive Bedrohlichkeit mancher
psychischer Störungen bloß Ausdruck gestörter Hirnprozesse sei. Dabei machen wir es uns zu leicht, denn der Begriff der neuronalen Plastizität
führt uns unmittelbar auf das Glatteis zurück: Vielleicht ist das Gehirn deswegen funktionell beeinträchtigt, weil es unerträgliche Erlebnisse widerspiegelt (Resch und Westhoff
2008)?
So gelten Psychosen des Jugendalters ja als neurotoxisch und können selbst zu degenerativen Beeinträchtigungen bestimmter Hirnstrukturen führen, aber vielleicht kann auch das psychotische Erleben selbst im Gehirn im Sinne der neuronalen Plastizität negative Wirkungen entfalten? Wer in Wahnwelten und in halluzinatorischen Erlebnissen existieren muss, formt seine neuronalen Netze gemäß dieser Erlebniskonstellation. So könnten auch organische Fixierungen von subjektiven Zuständen entstehen (Resch und Westhoff
2008).
Wie sollen im Verlauf neurobiologische Korrelate von nosologischen Konstrukten interpretiert werden? Im günstigsten Falle geht eine psychische Verbesserung auch mit einer positiven Veränderung des somatischen Korrelates einher. Im negativen Falle bliebe sowohl im psychischen wie im somatischen Feld eine positive Veränderungswirkung aus. Es kann aber auch noch zwei komplexe andere Problementwicklungen geben. Wie ist es zu interpretieren, wenn zwar eine psychische Verbesserung eintritt, die jedoch nicht von einer somatischen Normalisierung begleitet wäre (Resch und Westhoff
2008)? Umgekehrt, wie wäre eine somatische Verbesserung des dysfunktionalen Prozesses bei Ausbleiben psychischer Veränderungen zu interpretieren? Ist ein Patient, der sich zwar besser fühlt, dessen somatische Befunde aber nicht gebessert sind, ungeheilt, oder stellt der andere Patient, dessen somatische Funktionen zwar normalisiert werden konnten, der sich psychisch aber immer noch krank fühlt einen Simulanten dar (Resch und Westhoff
2008)? Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können neurobiologische Korrelate psychopathologischer Konstrukte zwar unser Wissen und Zusammenhänge zwischen psychischen Zuständen und Hirnfunktionen
vorläufig erweitern, aber ohne genaue Kenntnis der pathogenetischen Zusammenhänge können diese Korrelate unsere therapeutischen Interventionen nicht wirklich steuern helfen.